Demonstrationen und Streiks in Frankreich gegen Macrons Rentenkürzungen breiten sich weiter aus

Am vergangenen Donnerstag kam es in ganz Frankreich zu massiven Streiks und Protesten gegen Präsident Emmanuel Macron und dessen geplante Rentenkürzungen, an denen sich Millionen beteiligten. Der nationale Protesttag war der erste, den die Gewerkschaften in diesem Jahr organisiert haben. Bei den Verkehrsbetrieben wird hingegen bereits seit einem Monat gestreikt. Immer mehr Arbeiter schließen sich der Bewegung an, und die Wut auf Macron, seine Entscheidung gegen den überwältigenden Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen, wächst.

In seiner Neujahrsansprache am 31. Dezember, die landesweit im Fernsehen übertragen wurde, betonte Macron, er werde keine Änderungen an seinen Plänen zur Rentenkürzungen vornehmen. Am Montag legte er dem Conseil d’État (Staatsrat), dessen Zuständigkeit dem eines obersten Verwaltungsgerichts entspricht, einen Gesetzentwurf vor, über den anschließend im Parlament abgestimmt werden soll. Es wird deutlich, dass die erneuten Verhandlungen zwischen der Regierung und den Gewerkschaften, die letzten Freitag begannen, zu nichts führen werden. Die Gewerkschaften und Macron führen Scheinverhandlungen, um den Streikenden falsche Hoffnungen zu machen, dass sich der Präsident durch Appelle an sein Gewissen zu einer Kursänderung bewegen lassen könnte.

„Arbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe sagen Nein zu Rentenkürzungen“

Die Stimmen, die den Sturz des französischen Präsidenten fordern, werden lauter. Die derzeitige Streikwelle begann am 5. Dezember 2019 und ist damit der längste Streik in Frankreich seit dem Generalstreik vom Mai/Juni 1968. Sowohl Raffinerie- und Hafenarbeiter als auch Teile der Air-France-Belegschaft sind daran beteiligt, ebenso die Beschäftigten des Bahn-, Verkehrs- und Schulwesens. Doch die geplanten Kürzungen können nur verhindert werden, wenn die Streikbewegung unabhängig von den Gewerkschaften, die mit Macron unter einer Decke stecken, für den Sturz der Regierung kämpft.

Angesichts der wachsenden Streikforderungen der Hafenarbeiter mussten die dortigen Gewerkschaften ihren geplanten Streik von ursprünglich einem auf drei Tage ausweiten. Berichten zufolge gibt es auf den Antillen, ein französisches Überseegebiet in der Karibik, bereits eine Lebensmittelknappheit, da sich die Importware auf den Docks stapelt. Der Streik der Hafenarbeiter hängt eng mit der wachsenden Streikbewegung in den acht Raffinerien zusammen. Nachdem es am Dienstag zunächst nur zu Streiks in einzelnen Raffinerien kam, wurden mittlerweile alle von der nationalen Streikbewegung erfasst.

„36 Tage im Streik, wir geben nichts auf“

Trotz der Untätigkeit der Gewerkschaften beteiligen sich immer mehr Arbeiter und Jugendliche am Kampf gegen Macron. Autoarbeiter der Groupe PSA (ein französischer Automobilhersteller, zu dem unter anderem Peugeot und Citroën gehören) sollen aus Poissy angereist sein und sich an der Demonstration in Paris beteiligt haben. Gleichzeitig machen Forderungen nach einer Blockade der Universitäten Sorbonne und Nanterre die Runde. Auch die nationale Rechtsanwaltsvereinigung CNB meldete, dass ihre 77.000 Mitglieder mit überwältigender Mehrheit für eine Fortsetzung des Streiks gegen die Rentenkürzungen gestimmt haben.

Laut Gewerkschaftsangaben beteiligen sich zudem mehr als 40 Prozent des Lehrpersonals an dem Streik. Der Streik im Verkehrswesen hält derweil an, laut dem Management der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF streikten am Donnerstag 67 Prozent der Lokführer sowie 58 Prozent der Fahrdienstleiter. Während der Stoßzeiten gab es bei der Pariser Metro, abgesehen von den führerlosen Linien 1 und 14, nur Minimalbetrieb.

Die entscheidende Aufgabe der Arbeiter ist es nun, den Gewerkschaften die Kontrolle über den Kampf zu entreißen. Die Gewerkschaften behindern die Ausweitung der Proteste, indem sie die bankrotte nationale Perspektive propagieren, mit Präsident Macron eine Einigung auszuhandeln. Der Weg vorwärts erfordert den Aufbau von Aktionskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaften die Massen im Kampf gegen die Macron-Regierung und gegen das kapitalistische System zusammenbringen – seien es die Teilnehmer der Streiks, die „Gelbwesten“ oder die Jugend.

„Alles ist möglich [Parole des Generalstreiks von 1936], der Staat ist eine Mafia“

Die wachsende Streikbewegung in Frankreich ist Teil eines anhaltenden internationalen Aufschwungs des Klassenkampfs mit revolutionären Implikationen. In Indien beteiligen sich Dutzende Millionen Arbeiter an Streiks, im letzten Jahr kam es zu Massenstreiks amerikanischer Autoarbeiter und Lehrer. Im Irak wurde bei Massenprotesten die amerikanische Botschaft in Bagdad besetzt, woraufhin der iranische General Qassim Soleimani am 3. Januar von einer US-Drohne getötet wurde. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Arbeiterklasse weltweit gegen die Kriegsgefahr zu mobilisieren und die Finanzaristokratie zu enteignen.

Am Donnerstag demonstrierten laut Gewerkschaftsangaben in ganz Frankreich 1,3 Millionen Arbeiter und Jugendliche. In Paris, wo mehr als 100.000 Menschen demonstrierten, ging die Polizei mehrfach auf Demonstranten los. 18 Teilnehmer wurden verhaftet, zudem wurden Gummigeschosse eingesetzt, einmal sogar aus nächster Nähe. In Marseille, Lyon, Bordeaux und Toulouse marschierten Zehntausende.

Unter den Streikenden, die mit Reportern der World Socialist Web Site (WSWS) sprachen, verbreitet sich zunehmend die Erkenntnis, dass nur eine neue Strategie und eine revolutionäre Perspektive aus der derzeitigen Sackgasse führen. Die landesweiten Proteste dürfen nicht mehr von den Gewerkschaften angeführt werden, die mit Macron über neue drastische Sparmaßnahmen verhandeln.

Guillaume, der als IT-Fachkraft arbeitet, kam ohne seine Kollegen zu den Protesten. Er erklärte, Macron werde bei den Renten keiner Einigung zustimmen, der Vorteile für die Arbeiter bringt: „Im Gegenteil, das ist nicht in seinem Interesse. Er verteidigt die Interessen der Reichen, nicht die der Arbeiter. Ich halte es für völlig utopisch, ihn um irgendetwas zu bitten.“

Guillaume betonte auch seine Sorge angesichts wachsenden Kriegsgefahr nach der Ermordung Soleimanis durch die USA: „Ermordungen von Zivilisten oder Partisanen wie in Syrien, Mali oder dem Irak, die von den Amerikanern oder auch von Frankreich unter Präsident François Hollande angeordnet wurden, haben keine legale Grundlage. Vom Standpunkt demokratischer Rechte gesehen können wir sowas nicht hinnehmen.“ Er warnte, das politische System sei angesichts der US-Angriffe und der Drohungen europäischer Mächte in einer „selbstmörderischen Spirale gefangen“.

Murielle, die in einem Krankenhaus arbeitet, rechnet nicht damit, dass die Gespräche zwischen den Gewerkschaften und Macron zu etwas führen werden: „Seine Regierung ist sehr autoritär. Deshalb glaube ich, dass nur ein gemeinsamer Kampf von uns allen Macron zu Fall bringen kann. Er versucht, sich auf die Autorität des Staates zu berufen, um uns zu terrorisieren. Aber wir müssen uns darüber bewusst werden, dass wir gewinnen können, wenn wir alle zusammenhalten.“

Weiter erklärte Murielle, dass „die Arbeitsbedingungen [in den Krankenhäusern] katastrophal sind. Wir bekommen Hungerlöhne, bei der Arbeit leiden wir alle. Und diese Rentenkürzungen sind ein weiterer Angriff, weil sie wollen, dass wir noch länger arbeiten und noch weniger Rente bekommen. Aber schon heute sind die Renten so niedrig, dass pensionierte Pflegekräfte wieder in Krankenhäusern arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen.“

Zur wachsenden sozialen Ungleichheit und den steigenden Vermögen der französischen Milliardäre und weltweit erklärte Murielle: „Es ist genug Geld da, wir müssen es uns nur da holen, wo es liegt. In Macrons Neujahrsansprache hat er gesagt, wir müssen alle Opfer bringen, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. Aber wenn man sich die Gewinnmeldungen der 40 größten französischen Unternehmen anschaut, sieht man, dass sie Riesenprofite machen. Wir haben jetzt genug davon, dass wir uns zu Tode schuften.“

Jean-Philippe, ein Rentner, der als Schüler am Generalstreik 1968 teilgenommen hat, sagte der WSWS: „Ich glaube, dass die Arbeiter heute wieder anfangen, der Kontrolle der Gewerkschaften zu entkommen, nicht nur der regierungsnahen Gewerkschaften, sondern auch dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund.“ Der Allgemeine Gewerkschaftsbund, die stalinistische CGT, war die treibende Kraft im Ausverkauf des Generalstreiks 1968. Jean-Philippe fügte hinzu: „Ich glaube, die Gewerkschaften haben eigentlich schon die Kontrolle verloren. (...) Ehrlich gesagt, bin ich nie einer Gewerkschaft beigetreten, weil ich weiß, dass man von ihnen nichts erwarten darf. Sie sind genau wie die Politiker – total korrupt.“

Weiter erklärte er: „Macron repräsentiert nur das Diktat der Banken, wir sind in Wirklichkeit eine Bananenrepublik, mit unglaublicher Korruption. (...) Seine ganze Regierung hängt an einem einzigen Faden, der Polizeigewalt. Sie haben keine andere Möglichkeit, an der Macht zu bleiben.“

Wenn Macron die Kürzungen trotz der Massenstreiks und des überwältigenden Widerstandes der Bevölkerung durch das Parlament peitscht, so Jean-Philippe, werde dies zu einer sozialen Explosion führen: „Ich hoffe, dass es nicht soweit kommt. Bisher sind die Proteste gewaltlos, aber wenn die Polizei weiter so vorgeht, wird es übel enden. Wenn wir protestieren, werden wir jedes Mal von diesen Taugenichtsen geschlagen. Und weil ich weiß, was 1968 passiert, habe ich nie an Pazifismus geglaubt.“

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