Wider das Vergessen – Gedenken an jüdische Orchestermusiker der Deutschen Oper Berlin

Diese Musikvorführung ging unter die Haut. Überwiegend junge Orchestermitglieder der Deutschen Oper Berlin gaben Mitte Januar unter dem Titel „Wider das Vergessen“,ein Konzert, das vier ehemaligen jüdischen Orchestermitgliedern gewidmet war, die durch die Nationalsozialisten vertrieben oder ermordet wurden.

Orchesterprobe unter Ignatz Waghalter im Oktober 1912 mit Wladislaw Waghalter im Orchester (Foto: Deutsche Oper)

Mit Wort, Bild und Musik erinnerten sie an Wladislaw Waghalter, Violinist und Konzertmeister seit Gründung des Deutschen Opernhauses 1912 sowie Begründer des „Waghalter-Quartetts“, Max Rosenthal, Violinist der 2. Geigen des Orchesters seit 1913, Hans Kraus, Cellist seit 1913 und Mitglied des „Waghalter-Quartetts“, und Werner Lywen, Bratschist seit 1929.

Die Auswahl und Moderation der Stücke, die Texteinlagen aus Dokumenten, Konzertkritiken und Briefen, die die Schauspielerin Margarita Broich zwischen den einzelnen Sätzen der Stücke vorlas, die begleitenden Familien- und Konzertfotos an der Wand hinter den musizierenden Ensembles, gaben den lange vergessenen Musikerpersönlichkeiten ihr Gesicht zurück. Sie ließen zugleich die lebendige, vom aufrührerischen Zeitgeist getragene Musikszene zwischen den Weltkriegen wieder erstehen, die die Nazis zu zerstören suchten.

Die Konzertbesucher der vollbesetzten Tischlerei, unter ihnen Enkel von Wladislaw und Ignatz Waghalter und eine Tochter von Werner Lywen, die aus Übersee angereist waren, erhoben sich am Ende zu stehenden Ovationen.

„Ich fühle mich diesen Musikern sehr nah“, sagt Solo-Pauker Benedikt Leithner (43 Jahre), der dieses Konzert initiiert hat und ein weiteres im nächsten Jahr plant.

Im Opernarchiv war Leithner auf die Namen von acht jüdischen Orchestermusikern gestoßen, die 1933 entlassen wurden, daneben auch von weiteren jüdischen Künstlern wie dem Dirigenten und Kapellmeister Ignatz Waghalter, dem Bruder von Wladislaw, der 1912 das Deutsche Opernhaus eröffnet hatte, sowie von Sängern und drei Tänzerinnen.

„Ich habe nach Geschichten gesucht, aber zunächst leider wenig gefunden“, so Leithner, der selbst keinen jüdischen Hintergrund hat. „Die Fragen hingegen haben mich beschäftigt: Wer waren sie? Hatten sie Familien? Was ist aus ihnen geworden?“ Den Anstoß zu seiner Initiative, so sagte er kurz nach dem Konzert, habe eine betagte Dame in Frankreich gegeben, die ihm ihr Schicksal als jüdisches Kind erzählt habe, das in einem Versteck überlebte, während ihre Angehörigen in Österreich ermordet wurden.

Benedikt Leithner am Grab von Wladislaw Waghalter (Foto: Max Zerrahn)

Über ein Jahr lang recherchierte er in Datenbanken und Archiven zu seinen damals vertriebenen „Musikerkollegen“, und bei manchen ist er weiterhin auf der Suche. Gegenüber der WSWS sagte Leithner, er wolle die damaligen Orchestermitglieder nicht nur als Opfer, sondern als herausragende Musiker zeigen. Wladyslaw Waghalter beispielsweise hatte bei Joseph Joachim studiert und zweimal den Mendelssohn-Bartholdy-Hochschulwettbewerb gewonnen (1903 und 1905).

Sehr einfühlsam folgte das Musikprogramm den Spuren dieser lange vergessenen, von Nazi-Bürokraten davongejagten Künstlern. Zum Auftakt erklang die wunderschön gespielte Violinsonate f-Moll op. 5 von Ignatz Waghalter (1902), die er seinem Bruder Wladislaw gewidmet hatte. Anders als sein Bruder konnte Ignatz Waghalter rechtzeitig vor den Nationalsozialisten fliehen. Wladislaw Waghalter starb 1940, als er die Aufforderung zur Deportation erhielt. Er soll einen Herzanfall erlitten haben. Seine Frau und Tochter wurden im KZ Auschwitz ermordet.

Nach dem ersten Satz zitierte Margarita Broich einen Artikel aus der Allgemeinen Musikzeitung Charlottenburg vom Januar 1913, in dem es hieß: „Wladislaw Waghalter ist unter den jüngeren Geigern einer der vorzüglichsten. In großer Schule aufgewachsen, noch unter dem künstlerischen Einflüsse Joachims gereift, hat sein Spiel etwas besonders Gediegenes, Geschmackvolles.“ Die Leichtigkeit seiner Fingerkunst erlaube ihm, an die schwierigsten Werke heranzutreten.

Das zweite Stück im Programm, Joseph Haydns Streichquartett C-Dur op. 54,2, war Hans Kraus gewidmet, der es einst selbst mit dem „Waghalter-Quartett“ aufgeführt hatte. Kraus, der sich aufgrund seines Fronteinsatzes im Ersten Weltkrieg anfänglich noch gegen die Entlassung wehren konnte, gelang 1940 die Flucht nach Shanghai. 1947 ging er in die USA.

Für Max Rosenthal erklang das von wilden Rhythmen und Dissonanzen erfüllte Streichsextett von Erwin Schulhoff (1924), einem jüdischen deutschböhmischen Komponisten, der sich den Kommunisten anschloss und vom Dadaismus von George Grosz beeinflusst war. Er wurde 1942 im KZ ermordet, so wie auch Max Rosenthal und dessen Frau und Tochter.

Der letzte Hinweis auf Rosenthal, den Leithner gefunden hat, ist eine Tagebuchnotiz eines Mitreisenden im Deportationszug nach Minsk. Berthold Ruder berichtete in seinen Aufzeichnungen aus dem Ghetto Minsk: „Fahrt ohne Ende. Kein warmes Essen noch Getränke. Toilette eingefroren. Lief alles über. Jauche rann ins Coupé. Abends herrliches Konzert mit Max Rosenthal.“

Am Ende des packend gespielten Schulhoff-Stücks erstarrte das Musikensemble in blaues Licht getaucht, regungslos, mit einer Schweigeminute. Diesem Moment der Trauer um die jüdischen Musiker konnte sich niemand entziehen.

Der Spannungsbogen des Abends wuchs aus dem Gegensatz zwischen den bewegenden musikalischen Eindrücken voller Empathie und Humanität und dem brutalen, antisemitischen Terror der Nazis. Das Publikum, darunter viele junge Besucher, hielt den Atem an, als Margarita Broich ein Schreiben des Propagandaministeriums an den Intendanten des Opernhauses vom September 1934 verlas.

„Ich ersuche das Arbeitsverhältnis des jüdischen Orchestermitglieds Lywen aus dienstlichem Interesse nach Nr. 6 der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 4. Mai 1933 umgehend zu kündigen und mir über die Durchführung zu berichten. Für die Dauer der Kündigungsfrist ist Nr. 6 Absatz 2 in Verbindung mit Nr. 5 Absatz 6 der Zweiten Durchführungsverordnung zu beachten.“ Drei Wochen später meldete der Intendant Vollzug. Werner Lywen – der jüngste der Musiker, denen das Konzert gedachte – wurde im April 1935 entlassen.

Er konnte in die USA flüchten und im Exil an der Seite von Leonard Bernstein eine neue Karriere aufbauen. Für ihn erklang an diesem Abend ein Duo für Viola und Violoncello von Paul Hindemith, zu dem Lywen selbst Kontakt hatte, sowie Stücke von Igor Strawinsky aus der „Geschichte vom Soldaten“.

Dieses Ende, mit seiner jazzigen und fast fröhlichen Note, an dem sich Benedikt Leithner als Schlagzeuger selbst beteiligte, übermittelte eine kämpferische Botschaft: „Nie wieder“.

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