Erneut gehen Zehntausende gegen rechten Terror auf die Straße

Am Wochenende gingen erneut in dutzenden deutschen Städten zehntausende Menschen auf die Straße, um gegen den rechten Terror zu demonstrieren. Viele Demonstranten thematisierten die Komplizenschaft der Sicherheitsbehörden und die rechte Politik sämtlicher Bundestagsparteien, die dem Rechtsterrorismus den Boden bereitet hat.

Ein Ausschnitt der Demonstration in Hanau

In Hanau fand am Samstag mit 7.000 Teilnehmern die größte Demonstration statt. Nur drei Tage vorher fielen hier neun Migranten dem rechten Terroranschlag zum Opfer. Die Kundgebung war von der Trauer um die jungen Mitmenschen bestimmt, die der Mörder so brutal aus dem Leben gerissen hatte.

Eslem, Lilli, und Chaymaa kamen gemeinsam zur Kundgebung. „Wir sind hier, weil wir den Angehörigen beistehen und ihnen zeigen wollen, dass wir gemeinsam stark sind“, sagt Chaymaa. „Den Täter als ‚geisteskrank‘ zu bezeichnen, stuft die Gefahr herunter“, findet Lilli. „Der Angriff richtete sich eindeutig gegen Muslime und Migranten.“

Eslem, Lilli und Chaymaa (v.l.)

„Wenn Ausländer Morde begehen, sprechen die Medien gerne von einem Terroranschlag“, fügt Chaymaa hinzu. „In diesem Fall haben sie das Wort aber vermieden. Dabei ist es fast so schlimm wie letztes Jahr in Christchurch.“ Eslem, die einige der Opfer vom Sehen kannte, erklärt, sie finde es „unbegreiflich, wie es im 21. Jahrhundert noch Rassismus geben kann.“

Auch Seda, die ebenfalls in Hanau lebt, kannte eines der Opfer persönlich. „Mir fehlen die Worte“, sagt sie. „Hanau ist so eine Multikulti-Stadt, ich hätte nie gedacht, dass in meinem Freundeskreis so etwas geschehen könnte. Er hat hier eine Ausbildung gemacht, wir sind öfters gemeinsam ausgegangen. Er war so ein guter Mensch.“

Seda

Eylem, die gemeinsam mit ihrer Familie gekommen ist, erklärt: „Ich bin hier, weil es jeden von uns hätte treffen können. Die Getöteten sind einer krankhaften und giftigen Ideologie zum Opfer gefallen, die Menschen verschiedener Nationen aufeinanderhetzen soll. Verantwortlich ist für mich in erster Linie die AfD, aber in Wirklichkeit ist das heute insgesamt die Politik in Deutschland. Diese Ideologie herrschte auch unter den Nazis und sie wurde nie richtig beendet. Diese Tatsache soll jetzt unter den Teppich gekehrt werden, glaube ich.“

In den vergangenen Tagen hatten mehrere Landes- und Bundespolitiker in Hanau Blumen niedergelegt und gegenüber der Presse ihre Anteilnahme bekundet. Zu ihnen habe Eylem „kein bisschen Vertrauen“, sagt sie. „Sie erscheinen hier kurz und das war’s dann. Damit ist das für sie erledigt.“

Eylem (rechts) mit Familie

Sie fährt fort: „Nationalismus und Rassismus kommen nicht einfach aus den Menschen heraus. Beides wird hintenherum ununterbrochen gefördert. So sollen Menschen aufeinandergehetzt werden. Diejenigen, die das letztendlich ausführen, sind nicht die Hauptverursacher.“

Auf die Frage, wer für die Morde die politische Verantwortung trage, erwidert Seda: „Irgendwie sind alle verantwortlich. Ich fühle mich von allen Parteien hängengelassen. Natürlich sagen die linken Parteien, sie seien dagegen. Aber trotzdem passiert so etwas! Sie sollten etwas dagegen machen und nicht nur reden.“

Birgit ist Rentnerin aus Hanau und trug ein selbstgemachtes Schild bei sich. Für sie sind die Auftritte führender Politiker in Hanau nichts als „verlogenes Gerede“.

Birgit mit Plakat

„In Wirklichkeit griff der Mörder auf, was Politiker jahrelang gesät haben. Das betrifft nicht nur die AfD, sondern geht viel tiefer. Der Aufstieg der AfD ist eine Auswirkung der rechten Politik, die die Großparteien seit Jahrzehnten fahren. Dazu zählen für mich die menschenfeindlichen Praktiken der Einwanderungsbehörden, die rechte Hetze über ‚Probleme‘ der Migration, das Gerede über eine angebliche ‚Überbevölkerung‘ und vor allem die Sozialpolitik der letzten dreißig Jahre. Das begann schon mit Bundeskanzler Schröder und seiner Agenda 2010. Diese ‚Sozialpolitik‘ hat endlos gespalten.“

Ben, der gemeinsam mit Markus und weiteren Freunden von der Jugendbewegung „Fridays for Future“ demonstriert, wirft die Frage auf, welche Rolle die Sicherheitsbehörden spielen. „Diese Morde fanden nur zwei Tage nach einer Großaktion statt, die angeblich rechten Terror aushebeln sollte. Während die Regierung aber vor allem gegen sogenannten ‚Linksextremismus‘ kämpft, sterben weiter Leute durch rechte Gewalt.“

Markus

In Wirklichkeit würden „die Rechten auf jeder Ebene ermutigt“, erklärt Ben. „Die AfD wird zunehmend legitimiert – unter Höcke, aber auch insgesamt. Gegen ‚Linksextremismus‘ sind sich unterdessen alle einig.“

„Ich habe Angst, dass dieser Anschlag weitere Nachahmer ermutigen könnte. Meiner Meinung nach tragen Medien wie die Bildzeitung daran eine Mitschuld. Sie haben die rechte Propaganda seit Jahren rücksichtslos verbreitet. Unter den Politikern will sich natürlich niemand die Schuld an dem Terror geben lassen. Alle sagen: Wir machen keine gemeinsame Sache mit Nazis. Aber dann tun sie es doch, wie zuletzt in Thüringen. Kemmerichs Aussage, er habe von nichts gewusst, ist in meinen Augen völlig unglaubwürdig.“

Christoph, der jeden Tag beruflich zwischen Frankfurt und Hanau pendeln muss, fügt mit Blick auf Thüringen und die FDP hinzu: „Auch Lindners Partei hat das rechte Feuer mit angefacht. Ihre Zusammenarbeit mit Höckes AfD im Osten hat dafür gesorgt, dass sich diese Leute jetzt bestärkt fühlen.“

„Wenn jetzt den Sicherheitsbehörden noch mehr Macht gegeben werden soll, dann ist das keine Präventivmaßnahme“, sagt Markus. „Im Gegenteil.“ Das habe der Fall des rechtsradikalen ehemaligen Verfasssungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen gezeigt: „Auch nun, da Maaßen weg ist, bleiben die gefährlichen Strukturen im Verfassungsschutz bestehen.“

Joachim ist Philosophielehrer und Dozent für Erwachsenenbildung in Hanau. Er erinnerte in der Diskussion mit Christoph und der WSWS an den Fall des Thüringer Heimatschutzes und die Mordserie des NSU: „In Thüringen hat der Verfassungsschutz als brauner Stimulator agiert und die rechte Szene finanziert. Es kann nicht sein, dass dann wie im Fall Halit Yozgat auch noch Akten geschreddert werden. Eigentlich darf es überhaupt keinen Verfassungsschutz geben, das gesamte Konzept muss völlig umstrukturiert werden.“

„Verfassungsschutz auflösen“ – Ein Banner auf der Demonstration in Hanau

„Man muss meiner Meinung nach an die Ursachen gehen“, stellt Christoph fest. „Man muss sich fragen: Wie ist die Fremdenfeindlichkeit entstanden? Wie werden Menschen gegeneinander ausgespielt? Und wie wurde das vorbereitet?“

Markus sieht das ähnlich. „Deutschland hat offenbar wieder ein rassistisches Problem“, sagt er. Die Hauptursache sieht er im Kapitalismus. „Ohne Kapitalismus kein Rassismus. Man muss sich die Frage stellen: Wo kommt das her, wenn es nicht darum ginge, Menschen zu spalten und auszubeuten? Der Kapitalismus steht ganz am Anfang. Dort muss man ansetzen.“

Chiara ist Schülerin der neunten Klasse in Miltenberg. In ihren Augen liegt die Ursache für den Aufstieg rechter Kräfte darin, dass „die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet.“

„Das reichste Prozent am oberen Rand besitzt so viel wie alle andern zusammen. Und dann wird von den Rechten das Feindbild der Flüchtling an die Wand gemalt, um die Leute zu spalten, damit sie nicht gegen den Kapitalismus rebellieren, sondern die Flüchtlinge angreifen.“

Seda sieht bei allen gefährlichen Parallelen zum Aufstieg der Nationalsozialisten auch wichtige Unterschiede zu den 1930er-Jahren. „Damals konnte man fast glauben, alle stünden hinter den Nazis“, erklärt sie. „Heute sind alle dagegen und trotzdem passieren diese Morde!“

Dass der Rechtsruck in Wirklichkeit von oben komme, „kann ich mir gut vorstellen“, sagt sie. „Das würde gut zur Regierung passen. Ich sehe das so: Entweder interessiert es sie nicht, was hier geschieht – oder sie finden es in Wirklichkeit ganz in Ordnung. Wieso sonst sollten sie so etwas zulassen?“

Demonstranten in Hanau

Nur wenige Tage vor dem Massaker in Hanau hatte der rechtsradikale Geschichtsprofessor Jörg Baberowski („Hitler war nicht grausam“) einen kritischen Studenten tätlich angegriffen und war daraufhin von der Universitätsleitung verteidigt worden. „Ich kann es nicht ertragen, wenn ich höre, dass jemand öffentlich versucht, Hitler hochleben zu lassen“, sagt Chiara. „Das ist wirklich unverantwortlich.“

Seda fügt hinzu: „Genau solche Aussagen führen dazu, dass die Verbrechen der Nazis verharmlost werden. So etwas sollte es an einer Universität nicht geben. Wenn dieses Kapitel der Geschichte nicht mehr mit Schande diskutiert wird, dann führt das dazu, dass es sich eines Tages wiederholt.“

Duisburg

In Duisburg zogen rund 500 Menschen durch die Innenstadt, um der Opfer von Hanau zu gedenken und ihre Bereitschaft zu demonstrieren, gegen den faschistischen Terror aufzustehen.

Demonstranten in Duisburg

Vielen der Teilnehmer war klar, dass der rechtsterroristische Anschlag in Hanau nicht das Ergebnis eines psychisch kranken Einzeltäters war. Sie ließen sich auch nicht von den offiziellen Verlautbarungen der Berliner Parteien verleiten, die Schuld des faschistischen Terrors allein bei der AfD zu suchen. Die Rolle anderer Parteien, des Staatsapparates und der Medien in den letzten Jahren ist kaum jemandem verborgen geblieben.

Cihan ist seit rund drei Jahrzehnten Stahlarbeiter bei Thyssenkrupp. Für ihn geht es nicht nur „gegen die Faschisten“, sondern auch „für mehr Menschlichkeit“, sagt er zu Beginn. Er sieht eine Hauptverantwortung bei Politikern und Medien, die die AfD erst salonfähig gemacht hätten. „Die AfD ist von Politik und Medien populär gemacht worden. Egal, welche Nachrichten man sich anschaut, die AfD kommt immer zu Wort.“ Das gleiche sei bei der Presse der Fall. „Der AfD wird viel zu viel Platz eingeräumt.“

Cihan

Ihn mache fassungslos, wie ein Mensch erst neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst töten könne. „200 Jahre lang hat man Hanau mit Märchen in Verbindung gebracht“, sagt er – die Gebrüder Grimm sind dort geboren. „Nun steht es wie andere Städte für rassistische Morde.“

Der Stahlarbeiter ist sich nicht sicher, ob wirklich schon alles geklärt ist. „Beim Anschlag in der Keupstraße in Köln kam auch erst Jahre später heraus, dass der NSU das war. Wer weiß, was hier noch rauskommt. Vielleicht hatte der Attentäter ja auch Hintermänner oder Komplizen.“

„Das ist aber leider auch nicht einfach ein Problem in Deutschland“, meint er. „Auch in der Türkei, in Frankreich, den USA und in vielen Ländern ist der Nationalismus wieder populär. Dagegen müssen wir überall aufstehen.“

Der 26-jährige Oliver sagte der WSWS, er sei zur Demo gekommen, weil er befürchtet, „dass sich Geschichte wiederholt und das passiert, was früher schon einmal passiert ist“. „Wir sollten aus der Geschichte lernen, damit sich solche brutale Verbrechen nicht wiederholen“, sagt der Arbeiter.

Oliver

Auf die Frage, wer für das Wiederaufkommen des Faschismus verantwortlich ist, sagt er: „Das komplette politische Establishment. Sie versuchen zwar jetzt, sich von der AfD zu distanzieren und sich gegen sie zu stellen, aber sie tun nichts für die Aufklärung der Gesellschaft.“

Er komme aus Hannover und habe vorher in Luckenwalde in Ostdeutschland gewohnt. „Dort habe ich Leute getroffen, die gesagt haben, dass die Politik versagt hat. Sie haben deshalb aus Protest AfD gewählt. Ich bin vollkommen gegen die AfD und ihre Anti-Flüchtlingspolitik. Meine Oma war Flüchtling. Ich möchte kein Flüchtling werden und möchte Flüchtlingen helfen, damit alle gut leben können.“

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