Viele offene Fragen nach Angriff auf Rosenmontagszug

Mehr als einen Tag, nachdem im hessischen Volkmarsen ein Auto in den Rosenmontagszug raste, halten sich die Ermittlungsbehörden auffallend zurück.

Offiziell bekannt ist bisher lediglich, dass es sich bei dem Fahrer um einen in Volksmarsen wohnenden Deutschen, den 29 Jahr alten Maurice P., handelt, und dass er während der Tat nicht alkoholisiert war. Zum Motiv des Täters wollten sich die Ermittler bisher nicht äußern, obwohl er noch am Tatort verhaftet wurde und die Polizei am selben Tag seine Wohnung durchsuchte. Der Täter sei verletzt, in ärztlicher Behandlung und derzeit nicht vernehmungsfähig, lautet die Begründung.

Selbst dass es sich bei der Bluttat um einen Anschlag handelt, wollten die Ermittler nicht bejahen. Er könne nicht bestätigen, dass es sich bei dem Vorfall um Absicht gehandelt habe, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Nordhessen in Kassel am Montagabend. Er wisse nicht, woher die Meldung komme, dass es ein Anschlag gewesen sei.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt teilte am Dienstag mit, man ermittle gegen den Fahrer wegen eines versuchten Tötungsdeliktes. Die Ermittlungen liefen „in alle Richtungen“. Angaben zum Motiv und zum Aussageverhalten des Mannes werde es zunächst nicht geben. Derzeit gehe es um eine Bestandsaufnahme.

Aus den Aussagen zahlreicher Augenzeugen, die mit den Medien sprachen, ging allerdings von Anfang an eindeutig hervor, dass der Täter mit Absicht handelte. Er habe mit seinem silbernen Mercedes-Kombi eine Absperrung umfahren und sei dann in hohem Tempo in den Karnevalsumzug gerast. Dort sei er 30 Meter durch die Feiernden gefahren und habe dabei noch Gas gegeben. Einigen Berichten zufolge musste die Polizei den Fahrer vor der wütenden Menge schützen.

Insgesamt wurden über 60 Menschen verletzt, wobei die Zahl immer noch steigt, da sich einige erst nachträglich bei der Polizei meldeten. Laut Generalstaatsanwaltschaft ist das jüngste Opfer zwei Jahre alt, das älteste 85. Unter den Opfern befinden sich 18 Kinder. Einige sind schwer verletzt, 35 werden stationär in Krankenhäusern behandelt.

Die Polizei hat auch noch einen weiteren Mann verhaftet, weil er ein Video von der Bluttat machte. Ob es sich dabei um einen Komplizen des Täters handelt, oder ob er nur ein sogenanntes Gaffervideo drehte, was nach jüngsten Gesetzesverschärfungen mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden kann, ist ebenfalls nicht klar.

Reporter verschiedener Medien, die mit Einwohnern der nordhessischen Kleinstadt sprachen, haben weitere Einzelheiten zusammengetragen, deren Wahrheitsgehalt sich aber nur schwer überprüfen lässt.

So berichtete eine Nachbarin von Maurice P. dem Sender RTL, er habe ihr beim Wegfahren gesagt: „Bald stehe ich in der Zeitung.“ Informationen der dpa zufolge war er in der Vergangenheit durch Beleidigung, Hausfriedensbruch und Nötigung aufgefallen. Der Focus will erfahren haben, dass er „offenbar zur Drogenszene des Ortes gehörte, die rund 100 Personen umfassen soll“. Andere Berichte wiederum schildern Maurice P. als ruhig, kontaktarm und unauffällig.

Der Vorfall und die Zurückhaltung der Ermittlungsbehörden wirft zahlreiche Fragen auf. Nur fünf Tage vorher hatte der Rechtsextremist Tobias Rathjen in Hanau, das ebenfalls in Hessen liegt, neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen. War der Täter von Volksmarsen ebenfalls ein Rechtsextremist, oder wurde er, wie der Tagesspiegel mutmaßt, „durch den rechtsextremen Anschlag in Hanau animiert, eine spektakuläre Tat zu begehen“?

Anders als in Hanau richtete sich der Anschlag in Volksmarsen zwar nicht gegen Menschen mit Migrationshintergrund, sondern gegen einen traditionellen Umzug mit vielen Kindern. Doch dass ein aufgehetzter Rechter seine Wut und seinen Frust auf die Gesellschaft mit einem Amoklauf abreagiert, ist nicht außergewöhnlich.

Einen ähnlichen Anschlag hatte es im April 2018 in Münster gegeben, wo Jens Alexander R. mit seinem Campingtransporter die Gäste eines Lokals in der Innenstadt überfuhr, vier tötete und zwanzig verletzte. Das größte rechtsterroristische Attentat in den USA, der Bombenanschlag von Timothy McVeigh in Oklahoma City mit 168 Toten und 800 Verletzten, richtete sich 1995 gegen ein amerikanisches Verwaltungsgebäude.

Volkmarsen liegt nur 40 Kilometer von Kassel entfernt, wo 2006 Halit Yozgat, das neunte Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), und im vergangenen Juni der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet wurden. Inzwischen weiß man, dass die beiden Morde in engem Zusammenhang stehen. Der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan Ernst verkehrte in denselben Kasseler Neonazikreisen wie der NSU, und diese waren wiederum aufs Engste mit dem hessischen Verfassungsschutz verknüpft.

Die Akten, die über diese Verbindungen Aufschluss geben könnten, werden bis heute unter Verschluss gehalten. Am Montag – praktisch zeitgleich mit dem Anschlag in Volkmarsen – übergab die „Gruppe zur Freigabe der NSU-Akten“ dem hessischen Petitionsausschuss eine Petition mit 67.000 Unterschriften, die die Freigabe dieser Akten fordert.

„Wir finden, dass wir die Offenlegung den Opfern, Opfer-Angehörigen und auch Herrn Lübcke schuldig sind“, begründete Thomas Bockelmann, Intendant des Kasseler Staatstheaters und Sprecher der Gruppe, die Petition.

Während des gesamten Münchener NSU-Prozesses habe der Generalbundesanwalt „Stimmen, die die These von einer isolierten Zelle in Zweifel ziehen“, immer wieder abgewiesen, hatte Bockelmann zuvor dem Deutschlandfunk gesagt. „Das ist natürlich angesichts der neueren Entwicklungen nachgerade grotesk. Er hat immer gesagt, das ist eine isolierte Zelle. Die waren aber nicht isoliert. Die waren auch nicht zu dritt, sondern es gab mindestens 25 Helfer drumherum.“

Im Prozess sei das „immer wieder niedergeschlagen worden. Es gab geschwärzte Akten und immer wieder die Äußerung: ‚Diese Fragen gehen über die Aussagegenehmigung meines Mandanten hinaus‘.“ Der Verfassungsschutz sei Teil des Problems gewesen, so Bockelmann. Es habe V-Männer gegeben, „die gleichzeitig für den Verfassungsschutz gearbeitet und signifikant den NSU unterstützt haben“.

Vor diesem Hintergrund sollte man nichts als bare Münze nehmen, was derzeit von offizieller Seite über die Bluttat in Volkmarsen verbreitet wird.

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