Coronavirus: Regierung und Unternehmen bringen Millionen Arbeiter in Gefahr

Am Montagabend stiegen die Zahlen in Deutschland auf 6672 Infizierte und 14 Todesfälle. „Wir haben bis jetzt wahnsinnig viel Zeit verschlafen“, warf der Mikrobiologe Dr. Alexander Kekulé am Sonntag in der TV-Sendung „Anne Will“ der Regierung vor. Diese versucht, ihre kriminelle Indifferenz im Umgang mit dem tödlichen Virus hinter nationalen Appellen zu verbergen.

Um den Börsensturz aufzuhalten, hatte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) am Wochenende den Finanzhäusern unbegrenzte Kredite in Aussicht gestellt, und er versprach, die Regierung werde „mit der Bazooka“ gegen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie kämpfen. Doch wenn es um die Arbeiter geht, so verlangen Regierungspolitiker, Unternehmen und Gewerkschaften, dass sie sich und ihre Familien massenhaft dem täglichen Coronavirus-Risiko aussetzen, um die Profite nicht zu schmälern. Auto- und Industriearbeiter, Bus- und Tramfahrer und Hunderttausende weiterer Arbeiterinnen und Arbeiter dürfen den Arbeitsplatz nicht verlassen, auch wenn dieser weder für den Schutz der Gesellschaft noch für die Bekämpfung der Pandemie notwendig ist.

„Sitze im Büro, lese mir den Notfallplan für den ‚Extremfall‘ durch“, schreibt eine von Millionen Angestellten in ähnlicher Lage auf Twitter. „Dieser tritt erst ein, wenn sich der erste infiziert hat. Bis dahin: Überstunden, längere und engere Schichtüberschneidungen, Arbeiten eng an eng.“ Und der Ehemann einer Krankenschwester schreibt: „Meine Frau und ich haben seit Wochen immer wieder Fieber und Grippesymptome. Meine Frau arbeitet in einem Krankenhaus in NRW. Trotz ihres Hustens wird sie nicht getestet, sondern muss sich rechtfertigen, wenn sie zuhause bleibt!“

Gerade das Testen ist zurzeit eins der größten Probleme. Sehr viele Arbeiter sind deutlich verantwortungsbewusster als ihre Vorgesetzten und bestehen darauf, sich im Zweifel selbst testen zu lassen. Allerdings ist dies mit den allergrößten Hürden verbunden. In Frankfurt am Main standen am Montagmorgen mehr als 200 Leute Schlange vor dem Bereitschaftsdienst des Bürgerhospitals, um sich testen zu lassen. Nur ein Teil von ihnen kam an die Reihe, und die anderen wurden nach Hause geschickt. Sie müssen heute erneut anstehen.

Unter diesen Bedingungen ist die Dunkelziffer der COVID-19-Erkrankten astronomisch. Außerdem sind die auf der Suche nach einem Arzt, einer Gesundheitsstelle oder einer Testmöglichkeit herumirrenden Erkrankten ein zusätzliches Infektionsrisiko. In einem weiteren Tweet heißt es: „Zwei Kinder aus der Klasse meiner Tochter sind jetzt begründete Verdachtsfälle… meine Tochter selber liegt seit 4 Tagen zu Hause, aber ich dachte bisher an einen ganz normalen Infekt. Mein Arbeitgeber: Solange das nicht positiv getestet ist, kommst du arbeiten… Spannend!“

Während die Merkel-Regierung alle Veranstaltungen und auch Gottesdienste generell verboten hat, arbeiten Industriebetriebe mit zehntausenden Arbeitern immer noch weiter. Der Gipfel des kriminellen Umgangs mit dem Leben der Arbeiter haben am Montag wohl die Ford-Werke in Köln erreicht. Sie ließen ihren 18.000-Mann-Betrieb ohne Einschränkung weiterlaufen, wie die World Socialist Web Site berichtete, während in der Stadt Köln sämtliche Versammlungen abgesagt wurden.

Auch in Saarlouis lässt Ford die Arbeit bisher weiterlaufen, obwohl die Produktion am Montag vom Zwei- auf den Ein-Schicht-Betrieb umgestellt wurde. Grund für die Reduktion sei, wie ein Unternehmenssprecher sagte, das Fehlen von etwa tausend Mitarbeitern, die normalerweise als Grenzgänger aus dem benachbarten Frankreich kämen. Da die französische Grenzregion „Grand Est“ als Hochrisiko-Region eingestuft wird, werden sie nicht mehr zugelassen. Ob und welche Entschädigungen die französischen Arbeiter für diesen Lohnverlust erhalten, ist bisher unbekannt.

Auch die ZF setzt ihren Betrieb im Saarland mit verminderter Belegschaft fort. Dort kommen seit Freitag rund 1000 von 9000 Mitarbeitern nicht mehr über die Grenze in das Werk. Doch steigt auch im Saarland selbst die Zahl der Infizierten exponentiell an. Wie das saarländische Gesundheitsministerium am Sonntag bestätigte, wurden seit Freitag 39 weitere Coronavirus-Erkrankungen registriert. Damit verdoppelte sich die Zahl der positiv getesteten Personen in dem Bundesland auf 74 in nur zwei Tagen. Allein im Landkreis Saarlouis, in dem auch die Ford-Werke und die ZF-Produktion liegen, wurden bis zum Sonntag zehn Fälle positiv getestet.

Die World Socialist Web Site (WSWS) fordert alle Arbeiter dazu auf, sich in Aktionskomitees zusammenzuschließen, um Entscheidungen unabhängig von Direktion und IG Metall zu treffen. Nur so können sie Werke gemeinsam schließen und durchsetzen, dass alle betroffenen Arbeiter (auch Kollegen aus andern Ländern, auch Leiharbeiter, etc.) den vollen Lohnausgleich bekommen.

Die Opelwerke machen ab dem heutigen Dienstag in Rüsselsheim und Eisenach dicht, und wie es heißt, schließt PSA „wegen des Coronavirus“ alle Produktionswerke in Europa bis zum 27. März. Allerdings ist diese Entscheidung kaum der Sorge um die Arbeiter geschuldet, die im besten Fall mit Kurzarbeitergeld abgespeist, im schlimmsten Fall als Leiharbeiter entlassen werden. PSA gab nämlich neben der erheblich beschleunigten Infektionsrate durch COVID-19 zwei weitere Gründe für seine Entscheidung an: Außer den Lieferschwierigkeiten bei mehreren wichtigen Lieferanten sei die Schließung auch dem „plötzlichen Einbruch der Nachfrage auf den Automobilmärkten“ geschuldet.

Völlig verantwortungslos gehen auch die meisten Betreiber der Öffentlichen Personennahverkehrsbetriebe (ÖPNV) mit dem Problem Coronavirus um. Dabei ist der ÖPNV erwiesenermaßen ein starke Überträger von COVID-19. Doch trotz der immer weiter gehenden Schulschließungen zögern alle Kommunal- und Landesregierungen, den Nah- und Fernverkehr zu stoppen.

In Berlin fährt der Nahverkehr der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, der S-Bahn und des Fern- und Regionalverkehrs fast unbehindert weiter, obwohl auch der BVG seit Montag seinen ersten Coronavirus-Fall verzeichnet. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat die folgende, tiefsinnige Empfehlung ausgegeben: „Es gehört zum allgemeinen Lebensrisiko, sei es bei der Arbeit oder in der Freizeit, sich zu verletzen oder sich mit einer Krankheit anzustecken.“

Die Sicherheitsvorkehrungen für das Personal sind vollkommen ungenügend. Auf heftige Proteste der BVG-Busfahrer hin wurde gerade mal der bisher nahezu verpflichtende Vordereinstieg abgeschafft, und die Fahrertür bleibt an der Haltestelle verschlossen. Im Innern soll ein rot-weißes Flatterband den direkten Zugang zum Fahrerstand verhindern – eine weniger als halbherzige Maßnahme, die die Fahrer eher als Hohn empfinden.

Rotes Flatterband zum Schutz vor dem Coronavirus in einem Berliner Bus

In München sind die Vorsichtsmaßnahmen für die Fahrer jedoch noch schlechter. Die meisten Kommunen und Verkehrsbetriebe haben mittlerweile, ähnlich wie in Berlin, wenigstens die erste Tür in den Bussen zugesperrt und den vorderen Teil der Fahrzeuge für Fahrgäste abgesperrt. Im Vergleich dazu haben die Münchner Verkehrsbetriebe (MVG) bei ihren Bussen, wo es möglich ist, lediglich den rechten Teil der ersten Türe nicht geöffnet. Man kann also immer noch an der vordersten Türe zusteigen.

Obwohl der gesamte Fahrbetrieb der MVG wegen der Schulschließungen in Bayern reduziert wurde, sind immer noch 20 Trambahnzüge vom Typ R2, die über keine abgeschlossene Fahrerkabine verfügen, in München im Verkehr. Infolgedessen laufen die Tramfahrer, wie die Busfahrer, Gefahr, von den Infizierten in den Fahrzeugen angesteckt zu werden. Eine große Verantwortungslosigkeit der MVG zeigt sich auch daran, dass die Fahrer weiterhin zu Gruppengesprächen einbestellt werden. Ein solches Gespräch mit mindestens 12 Fahrern und einem Vorgesetzten am heutigen Dienstag, das in einem kleinen Raum ohne Fenster stattfinden soll, wurde bisher nicht abgesagt.

Während die meisten Bundesländer ihre Schulen mittlerweile geschlossen haben, sind zahlreiche Kindertagesstätten und ähnliche Einrichtungen immer noch geöffnet. In Sachsen lautet die offizielle Anweisung der Landesregierung bisher, dass alle Kitas und Schulen bis einschließlich Dienstag regulär für die Kinderbetreuung geöffnet bleiben sollen.

Die WSWS erhielt Berichte darüber von Arbeitern aus Sachsen. Ein Erzieher aus Dresden schilderte beispielsweise, dass am Montag nur noch etwa ein Drittel der knapp über 100 Kinder in die Einrichtung kamen. Mehrere Kollegen hätten sich krank gemeldet, und auch viele Eltern handelten offenbar verantwortungsbewusster als die Landesregierung. Wie der Erzieher berichtete, klagte eine alleinerziehende Mutter verzweifelt, dass sie nicht wusste, was mit ihren beiden Kindern (3. und 7 Jahren) anfangen solle. Sie sei in der Probezeit und habe Angst, entlassen zu werden.

Ganz verzweifelt ist die Lage zurzeit in vielen Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Notfalldiensten. Ein Arbeiter, der im Kreis Chemnitz als Rettungssanitäter arbeitet, gab einen schockierenden Einblick in den Zustand des Gesundheitssystems. Er zeigt auf, wie Krankenhäuser und speziell der Notfalldienst schon seit Jahren selbst im Normalzustand am Limit arbeiten. Es brauche gar keine Pandemie, damit das System kollabiere. „In den kleineren Krankenhäusern besteht der Nachtdienst oft nur aus einer einzigen Schwester“, berichtete der Sanitäter. „Bei dieser Konstellation reicht eine Kleinigkeit aus, damit die Situation eskaliert und die Kollegin hilflos dasteht.“

Bezogen auf die Pandemie und die Notwendigkeit, schwer Kranke zu isolieren, machte er klar, das die meisten Krankenhäuser keinerlei Kapazitäten dafür haben. „Während die großen Uniklinken über wirkliche Isolationsstationen verfügen, besteht die Isolation in kleineren Krankenhäusern oftmals darin, dass man einen Zettel ‚Vorsicht Infektiös‘ an die Tür des Krankenzimmers heftet.“

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Die WSWS berichtet täglich über die Erfahrungen, die Arbeiter auf der ganzen Welt mit der Corona-Pandemie und der völlig unzureichenden Reaktion der herrschenden Klasse darauf machen. Schickt uns Eure Erfahrungen, damit wir sie anderen Arbeitern zugänglich machen können!

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