Entlassener Wissenschaftler Mauro Ferrari verurteilt Untätigkeit der EU gegenüber Covid-19

Letzte Woche, am 7. April, musste der angesehene Experte für Nanomedizin, Mauro Ferrari, als Präsident des Europäischen Forschungsrates (ERC) zurücktreten. Der Wissenschaftliche Rat des ERC lehnte seine Bemühungen ab, Wissenschaftler aus der gesamten Europäischen Union (EU) zu einem koordinierten Kampf gegen Covid-19 zu mobilisieren.

Ferraris Absetzung verdeutlicht auf verheerende Weise den politischen und nebenbei auch moralischen Bankrott des europäischen Kapitalismus. In seinem Rücktrittsschreiben verurteilte Ferrari die kalkulierte Untätigkeit der EU während der Pandemie, obwohl sie in Europa weiter um sich greift und noch immer fast eine Million Erkrankte und mehr als 80.000 Todesopfer fordert. In China und Südkorea dagegen konnte die Pandemie durch koordinierte Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit eingedämmt werden. Weltweit gibt es bereits mehr als 1,8 Millionen Covid-19-Fälle und 113.000 Todesopfer.

Zu Beginn seines Briefs schreibt Ferrari: „Bitte verzeihen Sie mir, aber ich glaube, das vorrangige Ziel ist momentan, die Pandemie aufzuhalten. Das vorrangige Ziel ist, Millionen Menschenleben zu retten. [...] Ich glaube an die Wissenschaft im Dienste der Gesellschaft, vor allem wenn sie am meisten gebraucht wird. Und jetzt wird sie am meisten gebraucht, weil Covid-19 und die nachfolgenden Pandemien nur durch die Wissenschaft jemals besiegt werden können.“

Mauro Ferrari (Mitte) bei einer Pressekonferenz während des Weltwirtschaftsforums in Davos (Schweiz) 2020. (Quelle: Flickr/WorldEconomicForum)

Ferrari wurde im Januar 2020, als die Covid-19-Pandemie begann, zum Präsidenten des ERC ernannt. Er stammt aus einem Arbeiterviertel von Udine (Italien), erwarb seinen Doktortitel im Fach Maschinenbau, war als Forscher in Amerika tätig und wechselte nach dem Krebstod seiner ersten Frau Mariluisa 1995 zur Biomedizin. Letztes Jahr erklärte der ERC, er unterstütze seine Nominierung zum Präsidenten „voll und ganz“ und lobte Ferrari für seine „Karriere als anerkannter Wissenschaftler und Führungskraft in den USA, mit reichhaltigem und vielseitigem Hintergrund im Bereich der Forschung und ihrer Anwendungen“.

Ferrari erklärte in seinem Rücktrittsschreiben, er sei nach Europa zurückgekehrt, um den ERC zu leiten auf der Grundlage eines „Bekenntnisses zum idealistischen Traum eines vereinten Europa und meinem Glauben, den Anforderungen der Welt zu dienen“.

Er fügt jedoch hinzu: „Diese idealistische Motivation wurde in den drei kurzen Monaten seit meinem Amtsantritt von einer ganz anderen Realität zerstört. Beunruhigende frühe Warnsignale wichen der schmerzhaft eisigen, kalten Erkenntnis einer Welt, die sich gänzlich von der unterscheidet, die ich mir vorgestellt hatte. Die Covid-19-Pandemie hat gnadenlos gezeigt, wie falsch ich lag. In Krisensituationen nehmen Menschen und Institutionen ihr grundlegendes Wesen wieder an und enthüllen ihren wahren Charakter.“

Die Covid-19-Pandemie hat die EU als korruptes Werkzeug der kapitalistischen Aristokratie entlarvt, das dem Schicksal von Millionen Menschen mit Gleichgültigkeit gegenübersteht. Während die Europäische Zentralbank (EZB) eine Geldspritze von 750 Milliarden Euro für die Banken vorbereitet hat und alle großen Staaten der Eurozone eigene Rettungspakete in dreistelliger Milliardenhöhe bereitgestellt haben, betonen Vertreter der EU, sie werden nichts gegen die Ausbreitung dieser tödlichen Krankheit unternehmen. Stattdessen würden sie eine Durchseuchung der Bevölkerung zulassen, in der Hoffnung, dass die überlebenden Massen von Arbeitern „Herdenimmunität“ erlangen, wie es britische Regierungsvertreter formulierten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel prognostizierte mit erschütternder Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben, dass 60 bis 70 Prozent der deutschen Bevölkerung (48 bis 56 Millionen Menschen) erkranken würden.

Die EU hat eine Beggar-thy-neighbor-Politik übernommen, bei der jeder auf Kosten der anderen gewinnen will. Berlin und Paris weigern sich, wichtige medizinische Güter an Länder wie Italien zu exportieren, die am stärksten von Covid-19 betroffen sind. Damit befindet sich die EU auf Kollisionskurs mit Wissenschaftlern, die für einen koordinierten internationalen Kampf gegen Covid-19 und bei der Behandlung der Erkrankten eintreten. Ferrari erklärt dazu:

„Als klar wurde, dass die Pandemie eine Tragödie von bisher beispiellosem Ausmaß werden wird, habe ich die Einführung eines Sonderprogramms des Europäischen Forschungsrats für den Kampf gegen Covid-19 beantragt. Ich hielt es für angebracht angesichts der erwarteten Belastung durch Todesfälle, Leid, gesellschaftlichen Wandel und wirtschaftlichen Schaden, von denen vor allem die weniger Begünstigten und Schwächsten in den Gesellschaften weltweit betroffen sind. Ich dachte damals, in einem solchen Moment sollten die besten Wissenschaftler der Welt Mittel und Möglichkeiten bekommen, um die Pandemie zu bekämpfen – mit neuen Medikamenten, neuen Impfstoffen, neuen Diagnosewerkzeugen, neuen dynamischen verhaltenstheoretischen Ansätzen auf wissenschaftlicher Grundlage, um die oftmals improvisierten Intuitionen der politischen Führer zu ersetzen.“

Ferrari schreibt, seine Vorschläge „passierten verschiedene Ebenen der Verwaltung der Europäischen Kommission, wo sie sich meiner Meinung nach beim Auftreffen aufgelöst haben. Ich war äußerst enttäuscht von der europäischen Reaktion auf Covid-19 [...] das vollständige Fehlen einer Koordination in Fragen der Gesundheitspolitik unter den Mitgliedsstaaten, der ständige Widerstand gegen zusammenhängende Initiativen zur finanziellen Unterstützung, die allgegenwärtigen einseitigen Grenzschließungen und die marginalen synergistischen wissenschaftlichen Initiativen.“

Die Tatsache, dass Ferrari bei seinem Amtsantritt als ERC-Präsident Illusionen in die EU hatte, verleiht seinem heutigen Urteil über die EU nach den bitteren Erfahrungen der letzten drei Monate noch größeren Nachdruck.

Er verspricht zwar, weiterhin „öffentlich und transparent die gewissenhaftesten Ratschläge zu geben“, fügt aber hinzu: „Ich befürchte, ich habe genug über die Steuerung der Wissenschaft und den politischen Betrieb der Europäischen Union gesehen. In diesen drei langen Monaten habe ich tatsächlich viele hervorragende und engagierte Individuen auf unterschiedlichen Ebenen der Organisation des ERC und des Europäischen Rates erlebt. Allerdings habe ich den Glauben an das System selbst verloren.“

Eine genaue Untersuchung der Erklärung des ERC zur Absetzung Ferraris bestätigt seine Kritik. Er vollzieht eine vollständige Kehrtwende von seinem früheren Lob für Ferraris wissenschaftliche Leistung und behauptet, er habe „keinerlei Wertschätzung für die Raison-d'être des ERC gezeigt“, die Forschung zu finanzieren, die von den Forschern selbst vorgeschlagen werde. Gleichzeitig deutet sie Kritik an seinem langen Aufenthalt in den USA, seinen „persönlichen Initiativen“ bei der EU-Kommission und seinen Treffen mit „externen Unternehmen, sowohl wissenschaftlicher als auch kommerzieller Natur“ an, bei denen über die Pandemie diskutiert wurde.

Der ERC verteidigt in seiner Stellungnahme auch sein eigenes Vorgehen und behauptet, er sei „bereits sehr aktiv bei der Entwicklung neuer Programme“, auch an einem zu Covid-19.

Das ist ein armseliger Winkelzug. Der ERC schätzt in seiner Erklärung, dass seine Unterstützung für die Erforschung des Coronavirus über die Jahre hinweg eine Gesamtsumme von etwa 100 Millionen Euro ausmacht. Das bedeutet, obwohl Covid-19 Millionen Todesopfer fordern und hunderte Millionen weltweit arbeitslos machen könnte, verwendet der ERC nur etwa 0,1 Prozent seiner Mittel aus dem 100-Milliarden-Euro-Fonds Horizon Europe für den Kampf gegen das Virus. Gleichzeitig versenkt die EU hunderte Milliarden Euro in die Taschen der Superreichen.

Der Präsident der Universität Sorbonne, Jean Chambaz, ein führender Unterstützer der unpopulären Hochschulreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, attackierte Ferrari in einem Brief, den er in seiner Position als Chef der Liga Europäischer Forschungsuniversitäten (LERU) veröffentlichte. Chambaz, Sohn eines Mitglieds des Zentralkomitees der stalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs, belehrte Ferrari über „die Bedeutung von unabhängiger, von unten nach oben gehender Forschung“ und die Rolle des ERC als „Unterstützer dieser offenen und freien Forschung“.

Chambaz nutzte die Gelegenheit auch, um die Leistungen des ERC in Bezug auf Covid-19 zu verteidigen und mehr EU-Gelder zu fordern: „Er wird weltweit für seinen Erfolg bewundert. Er sollte durch den Investitionsplan, den die EU für den Ausweg aus der derzeitigen Krise entwirft, noch mehr unterstützt werden.“

Ferraris Absetzung verdeutlicht, dass ein rationales, wissenschaftliches und internationales Vorgehen gegen Covid-19 im Rahmen der bestehenden europäischen Institutionen unmöglich ist. Die Arbeiterklasse hat die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit durchgesetzt, mit denen die Pandemie in Europa gestoppt werden soll. Die ersten Ausgangsbeschränkungen in Italien und Frankreich wurden erst nach spontanen Massenstreiks und Ausständen in den Fabriken eingeführt. Die Mobilisierung sämtlicher wissenschaftlicher und industrieller Ressourcen der Gesellschaft zum Kampf gegen Covid-19 erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Europa im Kampf um die Staatsmacht.

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