Covid-19: Masseninfektion unter Arbeitsmigranten in Singapur

924 Neuinfektionen allein am Samstag meldete das Gesundheitsministerium von Singapur, 95 Prozent davon unter Leiharbeitern, die aus Indien, Bangladesh, und anderen Ländern Südost-Asiens stammen und in unmenschlichen Behausungen zusammengepfercht sind.

Dormitory in Singapur (Foto: WSWS)

Der Stadtstaat, eine ehemalige britische Kolonie, der in den ersten Wochen der Corona-Epidemie für seine strikten Maßnahmen – die Rückverfolgung von Coronavirus-Fällen bis zum ersten Infizierten – zur Eindämmung der Infektionen in der einheimischen Bevölkerung weltweit gelobt wurde, zeigt jetzt ein anderes Gesicht, das sich hinter den glänzenden Wolkenkratzern des Finanzzentrums und der pompösen Hotelanlagen verbirgt.

Unter den knapp sechs Millionen Einwohnern Singapurs befinden sich etwa 323.000 Arbeitskräfte, die diese Hochhäuser, den Changi Airport, die U-Bahnen sowie die HDB-Flats – die Wohnhäuser der Einheimischen – errichtet haben. Sie sind in „Foreign Workers Dormitories“ untergebracht, wo sich 8, 12, 18 oder sogar bis zu 25 Arbeiter einen Schlafraum mit Stockbetten teilen müssen.

Im größten dieser Lager, der Sungei Tengah Lodge – weit entfernt vom Stadtzentrum – sind auf diese Weise etwa 25.000 Arbeiter in mehreren Wohnblocks untergebracht. Das S11-Dormitory im Stadtteil Punggol beherbergt bis zu 13.000 Arbeiter in einem umzäunten Areal. In diesem Lager wurden bis zum Samstag schon 1123 Corona-Kranke getestet.

Beide gehören zu den „Purpose-Built Dormitories“ (PBD), die unter der Regulierung des Arbeitsministeriums stehen und von Privatunternehmen geführt werden. Diese Gruppe von Dormitories besteht aus 43 Komplexen, die zwischen 3000 und 25.000 Arbeitern unterbringen können. 22 von diesen weisen Gruppen von Infizierten auf und 13 sind bis Ende der letzten Woche unter Quarantäne gestellt worden.

Das heißt, Arbeiter können ihren Block nicht verlassen. Ein Zuwiderhandeln wird mit einer Geldstrafe von 10.000 Singapur Dollar (etwa 6500 Euro) oder sechs Monaten Gefängnis geahndet, wie Arbeiter auf ihrer Social Media Platform berichten. Dort sprechen sie auch über die Angst, die sie befällt, wenn sie am Tag 15 Krankenwagen in den Block fahren sehen und täglich neu Infizierte mit schwereren Symptomen ins Krankenhaus gefahren werden. Dazu kommt der fehlende Kontakt untereinander. „Man kann nicht den ganzen Tag Videos im Internet ansehen“, berichtet einer der Arbeiter.

Insgesamt leben in den PBDs etwa 200.000 Arbeiter, weitere 95.000 in umdisponierten Fabriken, wo jeweils 50 bis 500 Arbeiter Platz finden, ebenfalls unter der Registrierung des Arbeitsministeriums. Weitere etwa 28.000 Arbeiter wohnen in Containern direkt an ihren Arbeitsplätzen, wo jeweils bis zu 40 Arbeiter Platz finden. Diese Unterkünfte werden nur gelegentlich kontrolliert.

Diese Zustände existieren in einem tropischen Klima, wo die durchschnittlichen Temperaturen zwischen 28 und 32 Grad pendeln und die Luftfeuchtigkeit um die 80 Prozent beträgt – und das in Gebäuden ohne Klimaanlagen.

Diese Dormitories werden von Privatunternehmen geführt, die keinen Gedanken an den Gesundheitsschutz der Arbeiter verschwenden. Aber auch die Regierung hat kein Interesse an der Gesundheit dieser Arbeiter, denn die rasche Ausbreitung des Virus unter solchen Lebensbedingungen war vorprogrammiert.

Arbeiter berichteten dem britischen Guardian, dass die Toilettenspülung oft nicht funktioniere, weil es nicht genügend Wasserdruck gebe. Auch mangelt es an Seife, Desinfektionsmitteln und allgemeiner Sauberkeit der Anlagen. Nach Einstellung der Bauarbeiten im Rahmen der Infektionsbekämpfung drängen sich die Arbeiter in den Dormitorien, weil nur diejenigen, die für dringende Arbeiten gebraucht werden – darunter die Müllabfuhr von Singapur – den Komplex verlassen dürfen und inzwischen getrennt untergebracht werden.

Seit am 28. März ein 48-jähriger Bauarbeiter aus Bangladesch positiv auf Covid-19 getestet wurde, stieg die Infektionsstatistik unter Leiharbeitern steil an. Insgesamt registrierte die Johns Hopkins University am Sonntag fast 6000 Infizierte in Singapur. Leiharbeiter machen inzwischen 90 Prozent der täglich registrierten Neuinfektionen aus, wobei nur eine Minderheit bisher getestet wurde.

Das Gesundheitsministerium nahm erstmals von der Ausbreitung der Infektion in diesen Dormitories Notiz, als die von den Krankenhäusern gemeldeten Infektionszahlen seit April drastisch zunahmen. Die Regierung hat inzwischen angeordnet, dort die infizierten Arbeiter von den gesunden räumlich zu trennen, teilweise die Kranken in Militärcamps oder leeren Sporthallen oder Schiffen auszulagern – aber die Maßnahmen werden wohl ohne große Wirkung bleiben, da sich die Infektion unter den auf engem Raum zusammenlebenden Arbeitern schon weiter ausgebreitet hat, als bisher getestet wurde.

Ein Professor aus Neuseeland, Mohan Dutta, berichtete dem britischen Guardian von Gesprächen, die er mit 45 Arbeitsmigranten in Singapur führte. „Der Krankheitsausbruch war vorhersehbar und unvermeidlich unter den dortigen Lebensbedingungen“, sagte er. Die Arbeiter hätten weder Seife noch angemessene Desinfizierungsmittel. Die Arbeiter hätten ihm berichtet, dass es nur fünf Toiletten und Duschen je 100 Arbeitern gebe, die daher oft Schlange stehen müssen. Auch die seit der Krise bereitgestellte Nahrung sei arm an Nährwerten.

Ein Spezialist für Infektionskrankheiten am Krankenhaus der National University of Singapore, Professor Dale Fisher, teilte dem Guardian mit, dass mit Tausenden von Neuinfektionen in den Dormitories der Leiharbeiter zu rechnen sei. Obwohl das Durchschnittsalter der Arbeiter zwischen 30 und 40 Jahren liege, sei angesichts ihrer hohen Zahl auch bei dieser Altersgruppe mit zahlreichen schweren Krankheitsverläufen zu rechnen. Die harten Bauarbeiten mit häufigen Überstunden und oftmals eine starke Belastung der Lunge durch Rauchen trügen dazu bei.

Der singapurischen Straits Times erklärte Professor Fisher, er rechne damit, dass zwischen fünf und zehn Prozent der infizierten Leiharbeiter hospitalisiert werden müssen, wobei mit bis zu zwei Prozent kritischen Erkrankungen zu rechnen sei. „Wenn wir die Ausbreitung dort nicht eingrenzen können, werden die Kapazitäten der Krankenhäuser überwältigt“, sagte er. Die Zahl der Toten unter Leiharbeitern wird in Singapur gewöhnlich erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

Im Zuge der Globalisierung und der Öffnung Chinas erfuhr Singapur seit den 1980er Jahren ein rasantes Wachstum; mit ihm kamen Hunderttausende von Leiharbeitern, die zu Niedriglöhnen in der Bauindustrie eingesetzt wurden. Arbeitsvermittler arrangierten die Formalitäten für die Arbeitserlaubnis, versprachen Löhne zwischen 800 und 1300 Singapur Dollar (zwischen 500 und 840 Euro). Doch ein Großteil der Löhne wird später für „Vermittlungsgebühren“, Unterbringung und Verpflegung abgezogen, so dass die Arbeiter nur wenig Geld von ihrem Lohn an ihre Familien in die Heimatländer überweisen können.

Das autoritäre Regime in Singapur unterdrückt jegliche Regung von Arbeitern, die für bessere Arbeits- oder Lebensbedingungen kämpfen. Wer aufmuckt, wird postwendend ausgewiesen und verliert durch Strafzahlungen zum Teil alles, was er sich in seiner harten Arbeit angespart hat. Während sich viele der singapurischen Arbeiter an Spendenaktionen für ihre ausländischen Kollegen beteiligen, wird die Kontrolle der Dormitories bei der Bekämpfung der Virusausbreitung jetzt von der Armee durchgeführt, einer „Task Force“ von 750 Mann unter der Führung von Brigadegeneral Seet Uei Lim.

Der „Gold-Standard“ des hochgepriesenen Singapurs entpuppt sich in der Krise – wie der Kapitalismus in jedem anderen Land – als das, was er wirklich ist: als brutale Klassengesellschaft.

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