Perspektive

Rasputin im Weißen Haus

Seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie hat sich die Welt daran gewöhnt, dass ein mürrisch dreinblickender Donald Trump auf täglichen Pressekonferenzen im Weißen Haus seine erschütternde Dummheit zur Schau stellt und Quacksalbereien verbreitet. Seine blödsinnigen Rechtfertigungen für eine rasche „Rückkehr an die Arbeit“ rufen dann regelmäßig den Widerspruch medizinischer Experten hervor.

Das Publikum ist inzwischen also auf einiges gefasst. Doch Trumps Auftritt am letzten Donnerstag überstieg die bisherige Vorstellungskraft. Der Präsident forderte die Amerikaner allen Ernstes auf, sich Desinfektionsmittel zu injizieren und ultraviolettes Licht in ihren Körper einzuführen – Ratschläge, die gutgläubige Opfer mit dem Leben bezahlen würden.

Präsident Donald Trump auf der Pressekonferenz am 23. April (Quelle: YouTube)

„Ich weiß, dass ein Desinfektionsmittel es in einer Minute – einer Minute – außer Gefecht setzt“, so Trump. „Und gibt es eine Möglichkeit, wie wir das durch eine Injektion erreichen können, oder gewissermaßen durch eine Reinigung? Denn, sehen Sie, wenn es in die Lunge gelangt und dort eine enorme Menge schafft, da wäre es interessant, das auszuprobieren.“

Trump fuhr fort: „Angenommen, wir treffen den Körper mit einem gewaltigen ultravioletten oder auch nur sehr starken Licht – und Sie sagten, soviel ich weiß, das sei wegen der Tests nicht überprüft worden. Und dann sagte ich: Angenommen, Sie bringen das Licht ins Innere des Körpers, entweder durch die Haut oder auf eine andere Weise, und ich glaube, Sie sagten, dass Sie auch das testen werden.“

Anschließend hagelte es Widerspruch von fassungslosen Medizinern. Der Hersteller des Desinfektionsmittels Lysol sah sich gezwungen, dem Präsidenten öffentlich zu widersprechen. Das Unternehmen gab eine Erklärung ab, in der es hieß: „Wir sehen uns veranlasst klarzustellen, dass unsere Desinfektionsmittel unter keinen Umständen in den menschlichen Körper eingeführt werden dürfen.“

In den Wochen zuvor hat Trump kundgetan, sein „Bauchgefühl“ sage ihm, dass die Pandemie im April vorbei sein werde, dass sie nicht schlimmer sei als die Grippe, und dass das Medikament Hydroxychloroquin die Erkrankung am Coronavirus heilen könne – wobei der Hersteller dieses Medikaments zufällig ein Freund des Präsidenten ist. Gleichzeitig warnt die Arzneimittelbehörde FDA davor, dass seine Verwendung zu vermehrten Todesfällen führen würde.

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass Trumps Äußerungen seine haarsträubende Rückständigkeit und seine Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben zum Ausdruck bringen.

Das erklärt aber noch nicht, wie dieser groteske Soziopath ins Weiße Haus gelangte. Und was sagt seine auf den Hund gekommene Präsidentschaft über den Zustand der amerikanischen Politik aus?

Ein Symptom für ein dem Untergang geweihtes politisches System, das in der Geschichte schon häufig zu beobachten war, besteht darin, dass eine besonders schäbige und moralisch verkommene Gestalt in eine hohe Position im Staat, nicht selten zum obersten Berater des Herrschenden, aufrückt. Solche Figuren ziehen dann die geballte Empörung der Öffentlichkeit auf sich.

Ein berüchtigtes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist Grigori Rasputin, der „wahnsinnige Mönch“, der einen enormen Einfluss auf den Zaren Nikolaus II. und die Zarin Alexandra in Russland ausübte. Der Pferdedieb und Wüstling Rasputin wurde zum vertrautesten, unentbehrlichen Berater des Zarenpaars, dem er weismachte, er könne die Bluterkrankheit ihres Sohnes durch die Beschwörung von Geistern und Heiligen und seinen eigentümlich stechenden Blick behandeln. Der Zar und die Zarin trafen keine wichtige Entscheidung, ohne ihren käuflichen und liederlichen „Freund“ zu konsultieren.

Aus Furcht, dass der Einfluss Rasputins die Staatsmacht in eine Katastrophe stürzen könnte, verübten einige frustrierte Adlige im Dezember 1916 ein grausames Attentat auf den „Freund“. Doch die Revolution, die zwei Monate später einsetzte, konnten sie damit nicht mehr aufhalten.

Seither steht der Begriff „Rasputinismus“ für ein obszönes Übermaß an staatlicher Korruption und Dekadenz. In seiner Geschichte der Russischen Revolution erinnert Leo Trotzki daran, dass diese groteske Episode in den letzten Jahren der krisengeschüttelten russischen Autokratie „den Charakter eines widerlichen Alpdruckes bekam, der sich auf das Land legte“.

Weiter heißt es: „Versteht man unter Hooliganentum den krassesten Ausdruck antisozialer, parasitärer Züge in den Tiefen der Gesellschaft, kann man die Rasputiniade mit vollem Recht als das gekrönte Hooliganentum auf seinem höchsten Gipfel bezeichnen.“ (Geschichte der Russischen Revolution, Essen 2010, S. 55 und S. 57)

Hundert Jahre nach dem Original hält nun der Rasputinismus in den Vereinigten Staaten Einzug. Allerdings ist der amerikanische Rasputin nicht der Berater des Präsidenten. Er ist der Präsident. An der Spitze des amerikanischen Staats steht ein schmieriger Ganove und antisozialer Schurke, der keinen zusammenhängenden Satz formulieren kann, von einem logischen Argument ganz zu schweigen!

Trump ist der Inbegriff einer Oligarchie, deren Reichtum auf einem Parasitentum beruht, das kaum von Kriminalität zu unterscheiden ist. Sein Rowdytum, seine kulturelle Rückständigkeit und seine Verachtung für die einfache Bevölkerung verkörpern die Einstellungen und Verhaltensweisen ganzer Horden von Bankern, milliardenschweren Investoren, kapitalistischen Finanzgeiern, Hedgefonds-Managern, Börsenhaien, Immobilienspekulanten und Medienmogulen, die beide politischen Parteien und alle drei Gewalten im Staat dominieren.

Die USA stecken in einer Krise von beispiellosem Ausmaß, und die Regierung liegt in den Händen einer Person, die der Bevölkerung rät, sich Bleichmittel ins Blut zu spritzen.

In der Zeit ihres historischen Aufstiegs ging aus der amerikanischen Bourgeoisie ein Abraham Lincoln hervor, der das demokratische Ethos der amerikanischen Revolution verkörperte und das Land durch den Bürgerkrieg steuerte. In der nächsten großen Krise – der Großen Depression – brachte die herrschende Klasse Franklin Delano Roosevelt hervor, der eine herrschende Klasse repräsentierte, die zumindest in Teilen noch in der Lage war, ernsthaft über soziale Fragen zu sprechen (wie es „FDR“ in seinen „Kamingesprächen“ tat) und an die demokratischen Gefühle der breiten Volksmassen zu appellieren.

Heute hat der jahrzehntelange wirtschaftliche Niedergang der USA jegliche Grundlage für die Verteidigung der demokratischen Traditionen des Landes innerhalb der herrschenden Klasse beseitigt. Trump ist die Quintessenz des heutigen amerikanischen Kapitalismus. Das heißt nicht, dass sein Anblick alle amerikanischen Kapitalisten erfreut. Der Blick in den Spiegel ist eben nicht immer eine angenehme Erfahrung. Aber letztendlich ist Trump „ihr Mann“. Sie müssen ihn so nehmen, wie er ist.

Ganz ehrlich: Was sollte die Wall Street mit einem Mann im Weißen Haus anfangen, der wissenschaftlich und kulturell gebildet wäre? Den Interessen der Banken und Unternehmen ist mit einem wissenschaftlich fundierten Umgang mit der Pandemie nicht gedient. Die Fabriken müssen wieder geöffnet werden. Es gilt, Profit aus der Arbeiterklasse zu pressen. Monatliche Kreditraten, Mieten und Zinszahlungen sind fällig und müssen erfüllt werden. Mit ihrem dauernden Gejammer über die Gefahr, die von der aktuellen und einer zweiten Pandemiewelle ausgeht, gehen Dr. Anthony Fauci und andere Epidemiologen der amerikanischen Wirtschaft nur auf die Nerven.

Keine 24 Stunden nach Trumps Empfehlung zur Injektion von Desinfektionsmitteln und der Anwendung von ultraviolettem Licht „im Inneren“ starb in den USA der fünfzigtausendste Mensch an Covid-19. In mehreren Bundesstaaten werden die Betriebe wieder hochgefahren, und zugleich wurde am 23. April fast die bisherige Höchstzahl an Neuinfektionen übertroffen. Die Vereinten Nationen bereiten sich auf Hungersnöte vor, die bald in Afrika, Asien und Lateinamerika das Leben von Hunderten Millionen Menschen bedrohen könnten.

Der US-Präsident bringt, etwas unverblümter als seine Amtskollegen in Europa und weltweit, den Standpunkt der gesamten globalen Führungselite zum Ausdruck.

In Deutschland öffnet Angela Merkel das Land, indem sie die Arbeiterklasse in die Betriebe zurückschickt, obwohl dies nachweislich die Gefahr einer neuen Welle von Todesopfern mit sich bringt. Dasselbe gilt in Spanien, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz und anderswo. Die Position der herrschenden Klasse in Lateinamerika spiegelt sich in der Reaktion von Bolsonaro in Brasilien und Andrés Manuel López Obrador in Mexiko wider. Ungeachtet dessen, dass ersterer als rechts und letzterer als links gilt, verkündeten sie in schönstem Einvernehmen, dass Gott ihre jeweilige Bevölkerung vor dem Virus schützen werde.

Wenn die Gesellschaft auf der Grundlage einer sozialistischen Politik rational und demokratisch geleitet würde, könnte die Pandemie durch eine global geplante und wissenschaftlich fundierte Massenintervention besiegt werden. Millionen Menschenleben könnten so gerettet werden. Die Pandemie ist eine biologische Realität, aber die Reaktion darauf wird von den Klasseninteressen bestimmt, die die Gesellschaft beherrschen. So hängt die Letalität der Pandemie weniger von der RNA des Virus als von den wirtschaftlichen und sozialen Prioritäten der Kapitalistenklasse ab.

Letztlich ist der Kampf gegen die Pandemie untrennbar mit dem Kampf für den Übergang der Macht an die Arbeiterklasse und die Errichtung des Sozialismus verbunden.

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