Französische Regierung will Lockdown vorzeitig beenden

Am Dienstagnachmittag stellte der französische Premierminister Edouard Philippe in der Nationalversammlung seinen Plan für ein Ende des Lockdowns vor. Er folgte damit den Empfehlungen der Europäischen Union (EU) in der vergangenen Woche. Philippes Plan sieht neben der Wiedereröffnung der Schulen am 11. Mai auch eine allgemeine Rückkehr an die Arbeit in nicht systemrelevanten Branchen vor. Die Nationalversammlung stimmte dem Plan mit 368 gegen 100 zu, bei 103 Enthaltungen.

Nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa ist die Beendigung der Lockdown-Maßnahmen angekündigt worden. Sie kommt verfrüht und wird katastrophale Folgen haben. China hat die Quarantäne der Stadt Wuhan, dem ersten Epizentrum des Coronavirus, erst am 8. April aufgehoben; also dauerte der Lockdown dort insgesamt zweieinhalb Monate. Die Lockerungen erfolgten zudem erst, als keine neuen Fälle mehr verzeichnet wurden. In Frankreich dagegen werden die Eindämmungsmaßnahmen schon nach sechs Wochen wieder aufgehoben. In ganz Europa wurden am Mittwoch fast 30.000 neue Fälle gemeldet, davon über 2.500 in Frankreich. Dort gab es bis gestern Abend mehr als 24.000 Covid-19-Todesfälle. Die Epidemie ist offenbar noch lange nicht unter Kontrolle.

Angesichts der Virulenz von Covid-19 warnen Wissenschaftler, das Ende der strengen Gesundheitsmaßnahmen werde zu einem deutlichen Anstieg der Neuinfektionen führen. Der deutsche Virologe Christian Drosten hat in Interviews mit der britischen und belgischen Presse gewarnt, eine neue Epidemie werde die ohnehin überfüllten Krankenhäuser überlasten: „In den letzten Tagen habe ich beobachtet, wie wir unseren Vorsprung verspielen, und das stimmt mich traurig.“ Den politischen und wirtschaftlichen Druck, zur Normalität zurückzukehren, bedauere er sehr, so der Virologe.

Premierminister Edouard Philippe (zweiter von links) am 28. April 2020 in der Pariser Nationalversammlung (Quelle: David Niviere, Pool via AP)

Drosten fügte hinzu, er befürchte eine erneute Erhöhung der Reproduktionsrate sowie eine zweite Welle der Pandemie. Er prognostizierte, man werde Desinfektionsmittel auf den Straßen versprühen lassen, weil dies die einzige verzweifelte Maßnahme im Kampf gegen das Virus sein werde, die dann noch Erfolg versprechen könne.

Die Analyse von Chloé Dimeglio, Biostatistikerin am Universitätskrankenhaus von Toulouse, die auf einem Modell der Pandemie beruht, bestätigt diese Befürchtung. Sie erklärt, die Eindämmungsmaßnahmen hätten in Frankreich mehr als 100.000 Menschenleben gerettet: „Momentan haben wir etwa 22.000 Tote. Zuerst haben wir die tatsächliche Sterblichkeit mit den Ergebnissen unseres Modells verglichen. Hier gibt es deutliche Parallelen. Also haben wir geprüft, wie sich das Modell ohne Eindämmung verhalten hätte. Demnach wurden mehr als 100.000 zusätzliche Todesfälle verhindert.“

Andrea Ammon, Direktorin des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten im schwedischen Solna, erklärte gegenüber El Pais: „Ich weiß noch, als die Chinesen im Januar Wuhan und die umliegenden Städte abgeriegelt haben. Damals wurde mir gesagt, das wäre in Europa unmöglich. Damals hatten wir zwanzig Fälle. Hätten wir zu diesem Zeitpunkt schon strenge Kontrollen eingeführt, dann hätten wir die Ausbreitung der Krankheit wohl nicht aufgehalten, hätten aber den Verlauf deutlich eindämmen können.“

Premierminister Philippe schlug diese Warnungen während seiner Ansprache in der Nationalversammlung in den Wind und beharrte auf eine schnelle Rückkehr an die Arbeit. Er gab zu, dass es „erwartete Risiken“ mit sich bringe, wenn er jetzt ein Ende des Lockdowns in die Wege leite. „Die kollektive Immunität reicht nicht aus“, sagte Philippe. Er behauptete jedoch auch, in Frankreich drohe der Zusammenbruch ganzer Branchen, da die Produktion lange stillstand.

Aber die größte Gefahr für die Arbeiter droht von Seiten der Untätigkeit und Lügen der französischen Regierung und der reaktionären Politik der EU. Diese und die Europäische Zentralbank haben zwar zur Unterstützung der Wirtschaft 2.290 Milliarden Euro bereitgestellt, doch genau wie nach dem Wirtschaftscrash von 2008 soll das Geld vorrangig den Banken zu Gute kommen. Arbeiter und Kleinunternehmer hingegen werden so gut wie leer ausgehen. Arbeiter ohne festes Arbeitsverhältnis wird es noch härter treffen.

Präsident Emmanuel Macron hat lange Zeit verheimlicht, dass zu wenig Masken vorhanden sind, weil er vor der Pandemie keine geordert hatte. Zudem beharrte er lange Zeit darauf, Covid-19 sei nur eine Grippe.

Der Lockdown in Frankreich wurde Mitte März von den Arbeitern durchgesetzt. Vorausgegangenen war diesem eine internationale Welle von spontanen Streiks und Ausständen, vor allem in Italien und den USA. Jetzt hoffen die Regierungen mit Unterstützung der Finanzaristokratie (die von der EU mit Steuergeldern überschüttet wird) die Bevölkerung trotz der Pandemie und ohne Rücksicht auf Menschenleben wieder an die Arbeit zwingen zu können.

Philippe betonte, das Virus werde auch nach dem Ende der Eindämmungsmaßnahmen noch aktiv sein: „Wir werden mit dem Virus leben müssen … Das ist nicht schön, aber es ist eine Tatsache.“ Er kündigte eine Strategie auf der dreiteiligen Grundlage „Schützen, testen, isolieren“ an, doch diesen Worten werden keine Taten folgen.

Was grundlegende Schutzmaßnahmen angeht, so erklärte Philippe, das „Tragen von Masken in bestimmten Situationen“ werde zu den üblichen „Abgrenzungsmaßnahmen“ hinzukommen, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Allerdings hat die französische Regierung seit Beginn der Pandemie erklärt, das Tragen von Masken sei unnütz. Sie nutzte diesen Vorwand, um fehlende Masken-Reserven zu vertuschen und Steuergeschenke an die Superreichen in die Wege zu leiten. Stattdessen wird nun vorgeschlagen, dass man eigene Masken aus Stoff herstellen solle. Solche Masken garantieren jedoch keinen optimalen Schutz vor dem Virus, und die effizienteren FFP2-Masken sind nicht verfügbar.

Philippe war dreist genug zu behaupten, seine Regierung habe zu Beginn der Epidemie, also gleich nach den ersten Fällen, massive Tests durchgeführt. Tatsächlich ist Frankreich eines der Länder, in denen am wenigsten Tests durchgeführt wurden: nur 7.103 auf eine Million Einwohner. Das sind 2,5-mal weniger als in den USA und über viermal weniger als in Spanien, Italien und Deutschland. Macron wies auch die dringenden Forderungen der WHO nach Massentests der Bevölkerung zurück. Solche Massentests wären jetzt möglich, da die öffentlichen Labore mobilisiert worden sind und nur auf die Anweisung der Regierung warten. Diese Strategie ist jedoch nutzlos, wenn sie nicht mit der Isolierung und Behandlung der bereits entdeckten Fälle einhergeht.

Die Pläne der Regierung werden es nahezu unmöglich machen, eine wirksame Isolation von Patienten und Neuerkrankten zu organisieren. Philippe gab zwar zu, dass sich die Franzosen nicht in öffentliche Verkehrsmittel trauen, bezeichnete Präventionsmaßnahmen jedoch als möglich und durchsetzbar. Doch eine Rückkehr an die Arbeit wird zwangsläufig überfüllte Verkehrsmittel zur Folge haben und alle Versuche, den Mindestabstand von zwei Metern zwischen Passagieren zu wahren, vereiteln.

Laut Philippe werden diejenigen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden, vor die Wahl gestellt, sich in häusliche Quarantäne zu begeben, „bei der natürlich der ganze Haushalt für vierzehn Tage unter Hausarrest gestellt wird“, oder an einem von der Regierung zur Verfügung gestellten Ort zu verbleiben, wie beispielsweise einem requirierten Hotel.

Obwohl die Regierung zugibt, dass Kinder das Virus verbreiten können, werden die Schulen ab dem 11. Mai wieder öffnen. Philippe erklärte: „Die Wiedereröffnung wird ab dem 11. Mai schrittweise auf freiwilliger Basis im ganzen Land erfolgen. Die Klassen werden maximal fünfzehn Schüler haben. Außerdem werden verschiedene Gesundheitsmaßnahmen eingeführt, darunter die Bereitstellung von hydro-alkoholischem Gel. Auch Kinderkrippen werden für bis zu zehn Kinder wieder geöffnet werden.“ Daneben werden auch alle Geschäfte außer Restaurants und Cafés ab dem 11. Mai wieder öffnen dürfen.

Philippe betonte auch diesmal, er stimme seine Politik eng mit den Gewerkschaften ab.

Die Arbeiter dürfen der Politik der Regierung und der Gewerkschaftsapparate nicht trauen, da sie aus Unterdrückung, Lügen und Geschenken an die Reichen besteht. Um eine zweite Welle der Epidemie zu verhindern, müssen Arbeiter dafür sorgen, dass die Eindämmungsmaßnahmen ausgeweitet werden. Dies erfordert jedoch die Enteignung der riesigen Summen, die die EU gestohlen hat, um die Banken zu finanzieren. Dieses Geld muss stattdessen für finanzielle und medizinische Hilfe sowie Nahrungsmittel ausgegeben werden, die notwendig sind, um die Eindämmungsmaßnahmen für Arbeiter und Kleinunternehmer erträglich zu machen.

Dies erfordert, dass sich Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften organisieren, um ihr Recht auf massive Ausstände ausüben zu können. Nur so können sie unter sicheren Bedingungen an die Arbeit zurückkehren.

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