Covid-19: Hohe Infektionszahlen bei Ärzten und Pflegekräften

Während die Maßnahmen gegen den gefährlichen Covid-19-Erreger immer weiter gelockert werden, steigt die Zahl der Infizierten in Kliniken und Pflegeheimen dramatisch. Mittlerweile sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) mehr als 20.000 Beschäftige in deutschen Kliniken, Arztpraxen, Pflegeheimen- und -diensten infiziert. Dies entspricht etwa 11 Prozent aller Infizierten. 894 Menschen aus dem Gesundheitssektor mussten stationär behandelt werden, 60 sind an den Folgen der Ansteckung gestorben.

„Jeden Tag steckten sich seit Mitte April im Durchschnitt mehr als 230 Ärzte und Pfleger“ an, meldete die Süddeutsche Zeitung. Zeitweise macht diese Berufsgruppe jeden fünften gemeldeten Fall aus. „Offenbar gelingt es nach wie vor nicht, diejenigen zu schützen, die sich für die Gesundheit von Alten, Kranken und Pflegebedürftigen einsetzen“, resümiert die Zeitung.

Die Situation ist in anderen Ländern ähnlich. Erhebungen gehen von mindestens 200.000 Ärzten und Pflegekräften aus, die sich weltweit angesteckt haben. Dabei ist die Dunkelziffer enorm hoch. Aus kaum einem Land gibt es vollständige Daten.

Grund für die ansteigenden Infektionen ist, wie zu Beginn der Krise, vor allem mangelnde Schutzausrüstung. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, gaben laut einer jüngst erfolgten Umfrage der Ärztevertretung Marburger Bund noch 38 Prozent der Befragten an, ihnen mangele es an Schutzausrüstung. „Atemschutzmasken mit feinen Partikelfiltern (FFP2 und FFP3) fehlen demnach ebenso wie Kittel, Schutzbrillen, Visiere, Handschuhe und sogar einfache OP-Masken.“

Ähnliche Erfahrungen meldet auch der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe. „Nach wie vor wird aus vielen Einrichtungen berichtet, dass FFP2- und FFP3-Masken knapp sind“, sagt dessen Sprecherin Johanna Knüppel laut Süddeutscher Zeitung.

Ein weiterer Grund für die Verbreitung sind die weiterhin mangelnden Tests. Das RKI hat nach eigenen Angaben keine Daten, in welchem Umfang in Kliniken und Heimen getestet wird. Ärzte- und Patientenvertreter fordern seit Beginn der Krise umfassende Tests, die systematisch durchgeführt und nach Berufsgruppen erfasst werden. Noch immer ist es in Kliniken und Pflegeheimen an der Tagesordnung, dass potenziell infiziertes Personal so lange zum Dienst kommt, bis Symptome auftreten.

Immer mehr Beschäftigte sind empört über diese Zustände, die mittlerweile seit Monaten andauern. In Brandenburg übergaben am Montag Krankenschwestern bei einer Videokonferenz der Landesgesundheitsministerin Ursula Nonnenmacher (Grüne) 3500 Unterschriften. Die Beschäftigten fordern Sicherheit und die Anerkennung ihrer Arbeit.

In Berlin haben am Mittwoch Beschäftigte des Universitätsklinikums Charité und der landeseigenen Vivantes-Kliniken am Roten Rathaus tausende Briefe an Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) übergeben. Sie fordern mehr Schutz, Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel.

Die Aktion wurde von der Gewerkschaft Verdi unterstützt, die den Kahlschlag im Berliner Gesundheitssektor zwei Jahrzehnte lang in enger Zusammenarbeit mit dem SPD-geführten Senat mitgetragen hat und sich nun heuchlerisch über die katastrophalen Folgen der „Sparvorgaben“ empört.

Sowohl Nonnenmacher als auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die wissen, dass sie von Verdi nichts zu befürchten haben, begegnen den Forderungen der Beschäftigten mit der üblichen Ignoranz.

Spahn verstieg sich jüngst zur Behauptung, die Lage bei den Schutzmaterialien habe sich „entspannt“. Nonnenmacher erklärte lapidar, die Materialbeschaffung sei Aufgabe der Kliniken.

Ebenso deutlich gab die Grüne zu verstehen, dass nach dem Willen der Landesregierung, an der auch die Linkspartei beteiligt ist, die desolate Personalsituation und die viel zu niedrigen Löhne im Pflegebereich nicht geändert werden. Sie lehne eine Personaluntergrenze ab, da ansonsten Kliniken geschlossen werden müssten, erklärte sie und ergänzte zynisch, sie könne Tariflöhne „nicht anordnen“.

Sämtliche Parteien befürworten die gegenwärtige Aufhebung des Besuchsverbotes in Kliniken und Pflegeheimen, obwohl sie wissen, dass diese Einrichtungen weiterhin Hot-Spots darstellen.

Während sich die Pandemie in Kliniken, Schlachthöfen, Paketzentren und anderen Betrieben weiter ausbreitet und aufgrund der rücksichtslosen Lockerungspolitik eine zweite Welle droht, treten Befürworter von weiteren Einschnitten im Gesundheitssystem immer offener auf.

So erklärt Reinhard Busse, der an der TU Berlin Gesundheitsmanagement unterrichtet, in einem Gastbeitrag für Cicero, die Coronapandemie habe „die Schwachstellen unserer Krankenhäuser“ offengelegt. Damit meint er nicht etwa den Mangel an Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten, Intensivbetten oder Personal. Vielmehr tritt er dafür ein, weitere Kliniken zu schließen und Betten abzubauen. „Wir dürfen nicht dem Trugschluss erliegen, die Anzahl von Betten sei ein Qualitätsmerkmal“, behauptet er.

Er warnt davor, die Qualität von Krankenhäusern fast nur noch an der Anzahl der Betten zu messen. „Die Diskussion um Krankenhaus-Qualität droht damit um Jahre zurückgeworfen und sogar zum Opfer von Covid-19 zu werden.“

Busse treibt die Sorge um, dass die radikale Kürzungspolitik im Gesundheitswesen als Folge der Pandemie nicht unvermindert fortgesetzt werden kann. Tatsächlich ist deutlich geworden, dass der massive Betten- und Personalabbau und die Krankenhausfinanzierung, die auf diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) beruht, zu einer Situation geführt haben, die eine qualitativ hochwertige, sichere Versorgung für alle schlichtweg unmöglich macht. Stattdessen stehen die Profitinteressen der großen Klinikbetreiber im Vordergrund.

Deren Interessen spricht Busse auch an, wenn er sich darüber beklagt, dass das Kartellamt Fusionen zwischen großen Kliniken untersagt habe. Unter der Parole „Weniger Krankenhäuser, mehr Qualität“ fasst Busse die destruktiven Ziele seiner Kampagne zusammen. Bereits im letzten Jahr hatte der Medizinmanager eine Bertelsmann-Studie mitverfasst, die die Schließung der Hälfte aller bestehenden Kliniken in Deutschland forderte.

Der Volkswirt Boris Augurzky vom RWI – Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung behauptete bereits im April, es gebe in Deutschland nicht zu wenige, sondern zu viele Krankenhäuser. Er will die Krise gezielt nutzen, um weiter Kliniken abzubauen. Er sei „traurig darüber“, dass nicht noch mehr Kliniken geschlossen worden seien, sagte er.

Gegenwärtig prüft das Bundesministerium für Gesundheit die Auswirkungen des so genannten Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetzes. Es hat den Kliniken Geldsummen zur Verfügung gestellt, die im Vergleich zum Rettungsschirm für die Wirtschaft lächerlich gering sind. Zu seiner Überprüfung hat das Gesundheitsministerium nun einen Fachbeirat eingerichtet, der bis Ende nächsten Monats weitere Vorschläge ausarbeiten soll. Neben Vertretern von Krankenkassen und Kliniken sind auch Busse und Augurzky darin vertreten.

Die Regierung und ihre „Experten“ versuchen die Pandemie zu nutzen, um ihre Agenda umzusetzen. Dabei spielt ihnen in die Hände, dass zahlreiche Kliniken durch die Versorgung von Coronapatienten oder das Vorhalten von ausreichenden Bettenkapazitäten in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind.

So versorgte das Uniklinikum Dresden teilweise bis zu 20 Covid-19-Patienten gleichzeitig und hielt 240 Betten frei. Laut Angaben des kaufmännischen Direktors Marcus Polle belastete die erste Welle der Pandemie die Klinik mit rund zwei Millionen Euro. Die von der Regierung gewährte Pauschale von 560 Euro pro Bett reiche bei Weitem nicht aus, um die Lücken zu decken.

Um die wirtschaftlichen Folgen zu begrenzen, gehen viele Kliniken wieder „zur Normalität“ über. Dies könnte dramatische Auswirkungen bei einem erneuten Anstieg der Fallzahlen haben. RKI-Chef Lothar Wieler geht davon aus, dass es „mit großer Sicherheit“ eine zweite Welle geben werde, dessen sei sich die Mehrheit der Wissenschaftler sicher. Anstatt die Kliniken darauf vorzubereiten und in notwendige Betten, Personal und Geräte zu investieren, werden sie weiter auf Profit getrimmt.

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