Schüler, Lehrer und Eltern protestieren gegen verantwortungslose Schul- und Kita-Öffnungen

Zu Beginn dieser Woche hat Sachsen den uneingeschränkten Vollbetrieb an Grundschulen und in Kitas wieder aufgenommen – und zwar ohne Mindestabstandsgebot, Klassen- und Gruppenreduzierung oder Maskenpflicht. Die schwarz-rot-grüne Landesregierung unter Michael Kretschmer (CDU) widersetzt sich damit gezielt den geltenden Hygienevorschriften.

Der Grundschulbetrieb wird in den normalen Klassen abgehalten. Kitakinder gehen in ihre normale Gruppe. Es wird weder geteilt noch gestaffelt. Mindestabstand und Gesichtsmasken werden ausdrücklich nicht vorgeschrieben. Eine Gruppentrennung findet lediglich zwischen einzelnen Klassen durch versetzte Pausenzeiten statt, was in der Regel nur beschränkt funktioniert und ohne professionelle Desinfektion in den Zwischenzeiten die Ansteckungsgefahr nicht reduziert.

Es werden keine zusätzlichen Corona-Tests bereitgestellt. Stattdessen müssen die Eltern täglich schriftlich versichern, dass weder bei ihrem Kind noch bei anderen Personen im Haushalt Covid-19-Symptome vorliegen.

Der zuständige Landeskultusminister Christian Piwarz (CDU) rechtfertigt diese völlig verantwortungslose Politik mit der Begründung, Abstandsregeln seien an Schulen und Kitas „de facto nicht realisierbar“. Die Politik habe daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie verzichte auf die Kita-Betreuung und weitgehend auf den Unterricht an den Grundschulen – und zwar womöglich noch für lange Zeit. Oder sie verzichte auf die Abstandsregeln. Die Sachsen-Regierung habe sich für Schul-Betrieb und Kita-Betreuung entschieden und gegen die Abstandsregeln.

Schul- und Kleinkinder stehen also wieder in engem, täglichem Kontakt. Sie müssen auch wieder in den Stoßzeiten des öffentlichen Nahverkehrs unterwegs sein, und wenn sie in Schule und Kita weder Abstand noch Mund-Nase-Schutz brauchen, warum dann in Bahn und Bus?

Als diese Entscheidung bekannt wurde, erhob sich ein Sturm des Protests. Die Eltern eines 7-jährigen Grundschülers in Leipzig stellten einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht, um die Wiedereröffnung der Schule ohne den Mindestabstand von 1,5 Metern zu verhindern, und erhielten Recht. Minister Piwarz legte umgehend Berufung beim Oberverwaltungsgericht ein und hielt an seinem aggressiven Öffnungskonzept fest.

Nur die Schulbesuchspflicht wurde vorübergehend ausgesetzt, so dass Eltern und Schüler über den Schulbesuch selbst entscheiden können. Aber auch diese Entscheidung ist sehr eingeschränkt, weil mit der Schulöffnung und der Aufnahme des Regelunterrichts das Angebot für Online-Unterricht weitgehend entfällt.

Piwarz rechtfertigt seine Entscheidung mit kaum zu überbietendem Zynismus. Es gehe ihm vor allem um das „Wohl der Kinder“. Sie dürften „in der Krise nicht unter die Räder kommen“, betont er. Kleinkinder bräuchten Betreuung von Fachkräften, und Grundschüler seien mit digitalem Unterricht oft überfordert.

Unterstützung erhält er von den Koalitionspartnern der CDU in Sachsen. Die Grünen bezeichnen die Schulöffnung als „wichtigen Schritt für mehr Bildungsgerechtigkeit“, weil die Coronakrise „vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien“ treffe. Die SPD lobt die Maßnahme als große Erleichterung für Eltern, insbesondere Alleinerziehende.

In Wahrheit geht es um die Profitinteressen der Wirtschaft und die Wiederaufnahme der Produktion in allen Betrieben. Die Wirtschaftsverbände fordern seit langem die Öffnung der Schulen und Kitas, um die Eltern von der Betreuung frei zu machen und zurück an die Arbeitsplätze zu bringen. Arbeiter werden mit denselben kriminellen Methoden gezwungen, unter völlig unsicheren Bedingungen die Arbeit in der Produktion und Verwaltung wieder aufzunehmen, mit denen Schüler, Lehrer, Kinder und Betreuer nun ungeschützt dem Virus ausgesetzt und die Schulen in Viren-Schleudern verwandelt werden.

Piwarz ist ein rechter Unionspolitiker, der schon vor fünf Jahren die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin attackiert hatte und uneingeschränkt die Interessen der Wirtschaftsverbände vertritt. Sachsens brutale Schulöffnung steht an der Spitze der Kampagne, die Produktion in allen Bereichen wieder aufzunehmen.

Weil diese rücksichtslose und kriminelle Politik auf Widerstand stößt, wird sie von einer intensiven politischen und medialen Kampagne zur Verharmlosung der Coronapandemie begleitet.

Am Dienstag veröffentlichten vier medizinische Fachgesellschaften einen Aufruf mit der Forderung, Kindergärten und Schulen trotz der Corona-Pandemie in ganz Deutschland umgehend und vollständig zu öffnen. In ihrer gemeinsamen Stellungnahme schreiben die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland: „Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wiedereröffnet werden“ – und zwar „uneingeschränkt“.

Als Begründung wird angeführt: „Insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren sprechen die aktuellen Daten sowohl für eine geringere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate.“ Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließung gravierend.

Damit widersprechen diese Fachverbände den Warnungen und klaren Empfehlungen von Christian Drosten und anderen Virologen, die betonen, dass bisherige Untersuchungen keinerlei Entwarnung bezüglich der Ansteckungs- und Verbreitungsgefahr des Virus durch Kinder und Jugendliche geben.

Dass die Studie der Fachgesellschaften nicht auf das Kinderwohl, sondern das Wohl der Wirtschaftsverbände ausgerichtet ist, macht auch ein Blick auf die Autoren deutlich. So ist der Leiter des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit, Prof. Dr. Martin Exner, Co-Autor der umstrittenen Heinsberg-Studie, mit der der Virologe Hendrik Streeck eine sehr niedrige Sterblichkeitsrate der Corona-Pandemie nachweisen wollte und sich für beschleunigte Lockerungen der Sicherheitsmaßnahmen einsetzte.

Ein zweiter Autor ist der Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), Dr. Peter Walger. Er hatte bereits Ende April in der Neuen Osnabrücker Zeitung die sofortige Öffnung von Kitas und Grundschulen gefordert. Seine Aussagen ließen schon damals keinen Zweifel, dass es ihm um die Rückkehr zur Arbeit ging. Er sagte: „Der Schaden durch die Kita- und Grundschulschließungen ist gewaltig. Die Notbetreuung deckt ja nur einen kleinen Anteil ab. Abertausende Väter und Mütter arbeiten nicht, weil ihre Kinder nicht betreut werden. Wenn wir noch länger abwarten, eskalieren die Sekundäreffekte.“

Auch der Medienhype um die rechten Corona-Demonstrationen richtet sich gegen den Widerstand gegen die Lockerungen und die Durchseuchungspolitik der Regierung.

Obwohl die rechtsextremen Proteste von der Bevölkerung mit großer Mehrheit abgelehnt werden, finden sie in Medien und Politik große Beachtung und werden systematisch aufgewertet. Wie schon bei den Pegida-Demonstrationen wallfahrten Spitzenpolitiker und Staatsvertreter zu den rechten Aufmärschen.

In Dresden ging der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) persönlich zu den wenigen hundert Demonstranten im großen Garten. Er trug demonstrativ keinen Mundschutz und missachtete die Abstandsregeln.

Auch die Fraktionsvorsitzende der Grünen im sächsischen Landtag, Franziska Schubert, machte einer Corona-Demonstration in Zittau ihre Aufwartung. Sie hatte sich ein Schild umgehängt mit der Aufschrift „Gesprächsbereit“. Anschließend sagte sie in Medienberichten, sie sei gegen „Pauschalurteile“, und verlangte, die Forderung nach Lockerungen ernst zu nehmen.

Ihre Kollegin, die Grünen-Abgeordnete Christin Melcher, verteidigte ausdrücklich die Entscheidung von Piwarz und ihre verlogene Begründung. Sie sagte: „Ich begrüße die Öffnung der Schulen und Kitas. Es ist ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität für unsere Kinder. Der fehlende direkte Gesprächsaustausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern sowie mit den Lehrkräften hat die Lernsituation unserer Kinder sehr belastet.“

Ganz anders ist die Reaktion vieler Lehrer, Schüler und Eltern. In den sozialen Medien macht sich Angst, Wut und Empörung breit.

Auf Twitter schreibt ein Johann van de Bron: „Wie sieht die Wirklichkeit denn aus? Das Virus ist nicht weg. Wir haben hunderte Male so viele Infizierte, wie beim Ausbruch der ersten Welle. Kinder sind genauso ansteckend wie Erwachsene. In Frankreich haben sich 40% aller Schüler und Lehrer einer Schule infiziert. Schüler wie Lehrer berichten von katastrophalen Zuständen in den Schulen. Der ÖPNV ist ein Seuchenherd, der die Infektion zwischen den Schulen verteilt. An vielen Schulen gibt es schon Ausbrüche.“

Eine Pora schreibt: „Es ist Zeit, dass Schüler, Lehrer und Eltern sich wehren, die geopfert werden sollen!“ Die Behauptung, dass Kinder weniger gefährdet seien und weniger als Krankheitsüberträger in Frage kämen, sei völlig unbegründet. „Es gibt Studien, die das Gegenteil sagen, auf welcher Grundlage beruht das, was die behaupten?! Warum wird so wenig getestet? Denkt nach!“

Schon vor einer Woche, als die Pläne der Landesregierung bekannt wurden, schrieben Lehrer und Schüler der Leipziger Kurt-Masur-Grundschule einen Protestbrief an Kultusminister Piwarz und erklärten, es sei „in keiner Weise verständlich“, dass „vorsätzlich“ die im privaten und öffentlichen Raum „vorgegebenen Infektionsschutzmaßnahmen außer Kraft“ gesetzt würden. Die vollständige Öffnung an „einer der größten Grundschulen“ in Sachsen habe völlig unabsehbare und womöglich katastrophale Konsequenzen.

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