Merkel in Brüssel: Profit vor Leben und europäische Großmachtpolitik

Am Mittwoch hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Auftakt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine politische Grundsatzrede im Europäischen Parlament. Es war ihr erster Auftritt außerhalb Deutschlands seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Merkel sprach vor dem Hintergrund einer neuen Welle von Covid-19-Ausbrüchen auf dem Kontinent, der tiefsten ökonomischen Krise seit den 1930er Jahren und wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten.

Merkel bei ihrer Rede im Europäischen Parlament in Brüssel am 8. Juli (AP Photo/Olivier Matthys)

„Uns allen ist bewusst, dass mein heutiger Besuch vor dem Hintergrund der größten Bewährungsprobe in der Geschichte der Europäischen Union stattfindet“, erklärte die Kanzlerin. Die weltweite Coronavirus-Pandemie habe „auch in Europa Menschen hart und unerbittlich getroffen. Wir haben über hunderttausend Tote allein in Europa zu beklagen. Unsere Wirtschaft wurde und wird europaweit schwer erschüttert. Millionen Beschäftigte haben ihren Arbeitsplatz verloren.“ Zusätzlich „zu den Sorgen um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien“ sei bei vielen Bürgern „so auch noch die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz dazugekommen“.

Merkel verschwieg natürlich, dass die herrschende Klasse für diese Katastrophe voll und ganz verantwortlich ist. Als sich die Pandemie im Januar und Februar ausbreitete, scherte sie sich nicht um die Gesundheit und den Schutz der Bevölkerung, sondern um den Schutz ihrer Profite. Alle europäischen Regierungen spielten die Gefahr herunter und versuchten, die Wirtschaft und das öffentliche Leben ohne Einschränkungen weiterlaufen zu lassen.

Erst als die schrecklichen Konsequenzen der Pandemie zunächst in Ländern wie Italien und Spanien sichtbar wurden, sahen sich die Regierungen auf Grund der wachsenden Wut in der Bevölkerung gezwungen, Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu ergreifen. Der Lockdown wurde dann systematisch genutzt, um die größte Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte zu organisieren. Innerhalb kürzester Zeit wurden in Form von sogenannten Corona-Rettungspaketen Billionen auf die Konten der Banken, Großkonzerne und Superreichen transferiert.

Gleichzeitig begann eine aggressive Kampagne in Politik und Medien, die Wirtschaft möglichst zügig wieder hochzufahren, um die gigantischen Summen wieder aus der Arbeiterklasse herauszupressen. Die gleichen Unternehmen, die Milliarden Staatsgelder erhalten haben, nutzen die Situation, um mit Unterstützung der Gewerkschaften Massenentlassungen und Lohnkürzungen durchzusetzen, die sie seit langem geplant und vorbereitet haben.

Merkel ließ in ihrer Rede keinen Zweifel daran, dass die Politik „Profit vor Leben“ aggressiv fortgesetzt wird. Zynisch bezeichnete sie die mittlerweile weitgehend aufgehobenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als „hohen Preis“ und Angriff auf „elementare Grundrechte“. Die Botschaft ist klar: auch bei einem massiven Anstieg der Infektions- und Todeszahlen in Folge der Öffnungspolitik wird es keinen neuen Lockdown geben, um die kapitalistische Profitmacherei und die Bereicherungsorgie an den Börsen nicht zu gefährden.

Merkel pries den „europäischen Aufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro“, den sie Mitte Mai gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagen hat. Hinter verlogenen Lippenbekenntnissen über „ein sozial und wirtschaftlich gerechtes Europa“ machte sie deutlich, dass die Gelder mit einer neuen Runde sozialer Angriffe verbunden sein werden. Man müsse Europa „innovativer und wettbewerbsfähiger gestalten“, betonte sie mehrmals in ihrer Rede.

Vor allem aber schärfte sie den Abgeordneten ein, dass die europäischen Nationen nur gemeinsam ihre globalen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen durchsetzen könnten. Europa sei „nicht nur etwas, das uns übergeben wurde, etwas Schicksalhaftes, das uns verpflichtet, sondern Europa ist etwas Lebendiges, das wir gestalten und verändern können“, erklärte sie pathetisch. „Europa nimmt uns keine Handlungsmöglichkeiten, sondern in einer globalisierten Welt gibt Europa uns erst welche. Nicht ohne, sondern nur mit Europa können wir unsere Überzeugungen und Freiheiten erhalten.“

Mit anderen Worten: nur durch eine einheitliche europäische Militär- und Großmachtpolitik unter deutscher Führung, ist es Brüssel und Berlin möglich, ihre imperialistischen Interessen weltweit durchzusetzen.

Die „höchste Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft“ sei es, „dass Europa geeint und gestärkt aus der Krise kommt“, betonte Merkel. Dabei wolle man „Europa nicht nur kurzfristig stabilisieren… Wir wollen ein Europa, das sich selbstbewusst und mutig den Aufgaben der Gegenwart stellt. Wir wollen ein Europa, das zukunftsfähig ist, das innovativ und nachhaltig seinen Platz in der Welt behauptet.“ Man könne und müsse „selbst entscheiden, wer Europa in dieser sich rasant verändernden Weltordnung sein will“, und daraus ergebe „sich die Notwendigkeit einer starken europäischen Außen- und Sicherheitspolitik“.

Wie in früheren Interviews und Reden machte Merkel keinen Hehl daraus, dass die EU vor allem auch in ein hochgerüstetes Militärbündnis verwandelt werden soll, um unabhängiger von den USA agieren zu können. „Ein Blick auf die Landkarte“ zeige, „dass Europa an seinen Außengrenzen neben Großbritannien und dem westlichen Balkan unter anderem von Russland, Belarus, der Ukraine, der Türkei, Syrien, dem Libanon, Jordanien, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko umgeben ist.“ Gleichzeitig lebe man „in einer Zeit globaler Umbrüche, in der sich die Kraftfelder verschieben und Europa – bei aller Einbindung vieler Mitgliedstaaten in das transatlantische Bündnis – mehr auf sich selbst gestellt ist.“

Ebenso müsse Europa sein Gewicht als außenpolitische Macht gegenüber China in die Waagschale werfen. „Auch wenn der EU-China-Gipfel im September leider nicht stattfinden kann, wollen wir den offenen Dialog mit China fortsetzen“, verkündete Merkel. Die „strategischen Beziehungen mit China“ seien „durch enge handelspolitische Verbindungen, aber gleichermaßen auch sehr unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen, vorneweg bei der Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, geprägt“.

Wann immer deutsche und europäische Staatschefs in der Außenpolitik von „Menschenrechten“ und „Rechtsstaatlichkeit“ sprechen, sollten alle Alarmglocken schrillen. In Wirklichkeit verbergen sich dahinter imperialistische Ziele, die immer auch mit massiven Angriffen auf demokratische Rechte verbunden sind. In Brüssel rief Merkel zum „effektiven Schutz unserer Demokratien vor Cyberbedrohungen und Desinformationskampagnen“ auf – Codewörter mit denen die staatlichen Unterdrückungsorgane vor allem gegen die wachsende linke Opposition von Arbeitern und Jugendlichen hochgerüstet werden.

Die deutsche Bourgeoisie hat von Anbeginn der Ratspräsidentschaft deutlich gemacht, dass sie gewillt ist, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. Die vergangene Woche war geprägt von der Ankündigung des Verteidigungsministeriums, Kampfdrohnen anzuschaffen, sowie der Forderung führender deutscher Politiker, wieder eine Form der Wehrpflicht einzuführen, um den Militarismus stärker in der Gesellschaft zu verankern. Dabei arbeiten alle Parteien von der Linkspartei bis zur rechtsextremen AfD eng zusammen und die Medien schüren Nationalismus. „Deutschland ist jetzt zur Führung verdammt, es geht nicht anders“, konstatierte das Redaktionsnetzwerk Deutschland in einem Kommentar.

Hinter den immer aggressiver werdenden Rufen nach deutscher Führung in Europa stehen vor allem zwei Entwicklungen. Zum einen nehmen die Spannungen zwischen den europäischen Mächten ständig zu. Nach Merkels Rede warnte EU-Ratspräsident Charles Michel, dass die Vorstellungen der Mitgliedstaaten über den europäischen Aufbaufonds vor dem EU-Gipfel am 17./18. Juli noch weit auseinanderlägen. Der Vorschlag, die EU-Kommission solle Schulden aufnehmen, um Ländern zumindest einen Teil der Gelder nicht in Form von Krediten, sondern von nichtrückzahlbaren Zuschüssen zu vergeben, sei „für einige Mitgliedstaaten immer noch schwierig, sogar sehr schwierig zu akzeptieren“.

Zum anderen reagiert die herrschende Klasse auf die wachsende politische und soziale Opposition in der Arbeiterklasse. Die Corona-Pandemie hat nicht nur die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten verschärft, sondern vor allem auch den Bankrott des kapitalistischen Systems offengelegt. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung und der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie hat die Bourgeoisie der großen Mehrheit der Bevölkerung nichts anderes zu bieten als Massenverelendung, Polizeistaatsaufrüstung, Militarismus und Krieg. Dagegen entwickelt sich weltweit der Widerstand in Form von Massenprotesten und Streiks, die nun mit einem internationalen sozialistischen Programm bewaffnet werden müssen.

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