Schulöffnungen trotz steigender Corona-Zahlen

Obwohl die Infektionen mit der gefährlichen Lungenkrankheit SARS-CoV-2 auch in Deutschland wieder ansteigen, treiben alle Landesregierungen die Schulöffnungen voran und gefährden damit das Leben und die Gesundheit von hunderttausenden Lehrern, Schülern und deren Familien. Bereits jetzt werden täglich zwischen 750 und 900 neue Fälle gemeldet, und gleich mehrere Landkreise registrieren neue Hotspots.

Im niederbayrischen Mamming hat sich die Zahl der infizierten Erntehelfer eines Agrarbetriebs auf 232 erhöht. Damit hat sich praktisch jeder zweite Arbeiter dieses Betriebs mit Covid-19 angesteckt. Nun sind am selben Ort weitere 166 Arbeiter einer Konservenfabrik positiv auf das Virus getestet worden. Auch im baden-württembergischen Schwäbisch Gmünd hat sich die Zahl derjenigen, die sich bei einer Trauerfeier angesteckt hatten, auf 100 Personen erhöht. In Wiesbaden wurden 18 Teilnehmer einer Feier positiv getestet. Die Teststation am Rhein-Main Flughafen meldet, dass bisher mehr als ein Prozent der Reiserückkehrer positiv auf Covid-19 getestet worden seien.

Wie in anderen Ländern ist auch in Deutschland die herrschende Klasse für den Anstieg der Fallzahlen verantwortlich. Die erneute Ausbreitung des Virus ist das Ergebnis der verfrühten Öffnungspolitik, die das Ziel verfolgt, Arbeiter so schnell wie möglich wieder in die Fabriken zu schicken und den Tourismus anzukurbeln. Die Rückkehr zum „Regelbetrieb“ an den Schulen ist Bestandteil dieser rücksichtslosen Politik, die eine Situation wie im März und April heraufbeschwört, als das Gesundheitssystem in vielen europäischen Ländern zusammenbrach und es zehntausende Corona-Tote gab.

Die Situation in Deutschland habe sich bereits dramatisch verändert, warnte bereits Anfang der Woche die Mitarbeiterin des Robert-Koch-Instituts (RKI) Ute Rexroth. Durch großes Ausbruchsgeschehen trete nicht mehr ein einzelner Landkreis oder ein Bundesland hervor. Es seien „leider wirklich viele betroffen… in 112 Landkreisen gab es in den vergangenen sieben Tagen zwischen fünf und 25 Neuinfektionen.“

„Wir sind in einer Dauer-Welle“, stellte der Chef des Weltärztebundes und frühere Vorsitzende der Ärzte-Gewerkschaft Frank Ulrich Montgomery am Mittwoch fest. Er wies auf die große Ansteckungsgefahr hin und erwähnte, dass in Ländern mit schlechten Gesundheitssystemen zehn oder zwölf Prozent der Erkrankten an Covid-19 sterben müssten. Aber auch in Ländern wie Deutschland, wo die Bedingungen „sehr viel besser“ seien, sterbe „noch immer eine einstellige Prozentzahl von Menschen an der Infektion“.

Laut offiziellen RKI-Zahlen sind in Deutschland insgesamt 9168 Menschen an Covid-19 gestorben. Weltweit übersteigt die Zahl bereits die Marke von 700.000 Toten.

In einem aktuellen Gastbeitrag für die Zeit warnt der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, eine zweite Corona-Welle werde in Deutschland eine ganz andere Dynamik entwickeln als die erste. Das Virus werde sich „aus der Bevölkerung heraus verbreiten“ und flächendeckender und zeitgleicher als bisher auftreten. Dadurch werde es „schwerer nachvollziehbar“ sein. Um auftretende neue Ausbrüche gezielter zu bekämpfen, müssten beispielsweise alle Mitglieder eines „Quellclusters“ sofort in Quarantäne isoliert werden. „Viele könnten hochinfektiös sein, ohne es zu wissen“, so Drosten. Als Beispiele für solche „Quellcluster“ nannte er „Großraumbüros, Fußballmannschaften, Volkshochschulen und Schulklassen“.

Diese Warnungen werden von den Landesregierungen und allen Bundestagsparteien ignoriert. Zum Ende der Herbstferien werden alle bisherigen Schulschließungen wieder aufgehoben. Damit die kapitalistische Wirtschaft wieder brummt, sind Politiker aller etablierten Parteien, von der CSU bis zur Linkspartei, bereit und entschlossen, zum Unterricht in Regel- und Dauerpräsenz zurückzukehren. In Mecklenburg-Vorpommern sind die Schulen seit dieser Woche wieder offen, Hamburg startet heute, und in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein beginnt in der nächsten Woche der Schulbetrieb.

Dabei kehren die Kinder oft in Einrichtungen zurück, in denen die Klassenräume überfüllt, die Technik veraltet und die Sanitäranlagen heruntergekommen sind, was das Infektionsrisiko zusätzlich erhöht. Bereits am zweiten Schultag wurde in einem Sportgymnasium in Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern ein Verdachtsfall auf eine Covid-19 Infektion bestätigt.

Medienberichten zufolge lief der Schulbetrieb dennoch ganz normal weiter. „Zunächst hatte es nach Angaben aus dem Umfeld der Schule geheißen, dass alle am Mittwoch zu Hause bleiben sollen“, berichtet der Nordkurier. „Diese Weisung“ sei jedoch wieder „verändert“ worden. Es seien auch „keine verstärkten Maßnahmen in der Schule ergriffen worden – also nicht noch mehr Desinfektion und kein verstärkter Mund-Nasen-Schutz in den Unterrichtsräumen.“

Die offiziellen Sicherheits- und Schutzkonzepte der Landesregierungen sind das Papier nicht wert auf dem sie stehen. Ein Lehrer aus NRW, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, hat in einem Brief an die World Socialist Web Site seiner Wut über das Vorgehen der dortigen Landesregierung Ausdruck verliehen. Wie er schreibt, wird die Gesundheit aller Beteiligten „nur dem Namen nach ganz hoch angesiedelt“, in Wirklichkeit aber mit Füßen getreten. Die in den Medien hochgelobte Maskenpflicht an nordrhein-westfälischen Schulen sei lediglich ein „Feigenblatt für die komplette Missachtung des Abstandsgebots“.

Auch Lehrer mit Angehörigen aus Risikogruppen würden der Ansteckungsgefahr ausgesetzt. So könnten sich zwar vorerkrankte Lehrer freistellen lassen, und das gelte auch für Schüler mit Angehörigen aus den Risikogruppen, nicht jedoch für Lehrer im selben Fall. „Von der durch den Regelbetrieb der Schulen unsinnig ausgelösten Übertragungsgefahr für alle Beteiligten, insbesondere auch die Masse der Schülerfamilien und Arbeitnehmer“ finde sich im aktuellen Infoblatt der Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) „kaum ein Wort. Jugendliche als Überträger spielen in ministerieller Sicht keine besondere Rolle.“

Auch bei den Tests beweise das Schulministerium von NRW, „dass es die Verbreitungsgefahr von Sars-COV II völlig falsch beurteilt. Lehrer können sich ab sofort zwar freiwillig in vierzehntägigem Abstand einen Abstrich nehmen lassen, aber das Ministerium blendet sämtliche hunderttausende Schüler als Überträger des Virus einfach aus. Für Schüler werden keinerlei kostenlose Tests zur Verfügung gestellt, obwohl Studien aus Korea, Deutschland und den USA belegen, dass besonders Kinder ab zehn Jahren das Virus mindestens genauso intensiv wenn nicht sogar noch schneller verbreiten als Erwachsene.“

Was das Ministerium einen „angepassten Präsenzunterricht“ nenne, das sehe in der Praxis so aus: „Die Schüler kommen in vollständig großen Gruppen in ihre viel zu engen Klassen- und Kursräume, werden aber auch zusätzlich in Wahlpflichtkursen und in Arbeitsgemeinschaften bereits ab der Mittelstufe… gemischt unterrichtet. Eine Nachvollziehbarkeit von möglichen Infektionen ist somit nicht nur wegen der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sondern auch durch die bunte Gruppenbildung in den Schulen nur mit Verzögerungen und großen Unsicherheiten zu realisieren.“

Allen wissenschaftlichen Warnungen zum Trotz würden Schulfeiern, Ausflüge und mehrtägige Reisen „nicht nur genehmigt, sondern sogar angeraten. Das, was die Ministerin unter kulturellem Leben versteht, soll die von ihr allgemein vermutete Begeisterung für die Schulöffnung fördern. Im Musikunterricht z.B. dürfen mit etwas (undefiniertem) Abstand ausdrücklich sogar Blasinstrumente gespielt werden. Gemeinsam gesungen werden kann zwar nur auf dem Hof oder in Ferienlagern… Sportunterricht findet ganz ohne Abstand und ohne Maske statt.“

Letzteres sei ab Herbst sogar in den Turnhallen wieder vorgesehen. „Die Umkleidekabinen sind zwar eng, sollen aber einfach mal in Kleingruppen genutzt werden (in 45 oder 90 Bruttounterrichtsminuten!), und was passiert mit den Duschen??? Schwimmen findet wieder statt, auch mit Nutzung von Schulbussen.“ All dies sei kein Zufall, schlussfolgert der Lehrer. Politiker würden die Öffnungspolitik absichtlich durchsetzen, „um dieses Experiment der Herdenimmunität zu vollenden“.

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