Libanons Oligarchie und imperialistische Mächte wollen Empörung über Explosion in Beirut ausnutzen

Die christlichen, faschistischen und sunnitischen Parteien aus dem Umfeld des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten und korrupten Milliardärs Saad Hariri haben damit begonnen, wieder offen seine Rückkehr an die Macht zu fordern.

Die Forderung wurde bereits wenige Stunden, nachdem der letzte Ministerpräsident Hassan Diab am Montagabend seinen Rücktritt angekündigt hatte, erstmals erhoben. Dem Rücktritt von Diabs „Technokraten“-Regierung waren Massenproteste gegen die Regierung vorausgegangen, die sich an der gewaltigen Explosion im Hafen von Beirut am 4. August entzündet hatten.

Unabhängig von ihrer genauen Ursache ist die Katastrophe das Ergebnis der kriminellen Nachlässigkeit und völligen Gleichgültigkeit der herrschenden Elite und mehrerer aufeinanderfolgender Regierungen. Über Jahre hinweg ignorierten sie sämtliche Warnungen vor der Gefahr, die die Lagerung von Ammoniumnitrat ohne ausreichende Sicherheitsmaßnahmen in unmittelbarer Nähe von Wohngebieten birgt.

Es wurde viel darüber berichtet, dass Diab am 20. Juli in einem Brief über die Einlagerung der gefährlichen Chemikalie im Hafen informiert wurde und danach den Obersten Verteidigungsrat zum Handeln aufforderte. Zu seiner Verteidigung erklärte Diab: „Das derzeitige Kabinett erhielt das Schreiben vierzehn Tage vor der Explosion und handelte innerhalb weniger Tage. Frühere Regierungen hatten mehr als sechs Jahre Zeit und haben nichts getan.“

Doch als klar wurde, dass Diabs Regierung als Hauptschuldige für die Katastrophe gebrandmarkt werden würde, traten einige seiner Kollegen im Kabinett zurück, gefolgt von Diab selbst, der jedoch für die Dauer des Übergangs im Amt bleiben wird. Ghada Shreim, die in Diabs Übergangsregierung den Posten der Ministerin für Vertriebene innehat, erklärte gegenüber Al Jazeera: „Letzten Endes hatten wir den Eindruck, man wolle uns als Verbrecher hinstellen, als wollten sie das uns allein anlasten. Das war einer der Hauptgründe für den Rücktritt [der Regierung].“

Nach seinem Rücktritt machte Diab seine korrupten Vorgängerregierungen für das „Erdbeben“ verantwortlich, das den Libanon erschüttert hat. Er erklärte jedoch nicht, wen er damit meinte und was genau sie getan hatten.

Während seiner sechsmonatigen Amtszeit hat Diab nicht ein einziges Mal öffentlich vor den Machenschaften der politischen Elite gewarnt, obwohl sie es ihm unmöglich gemacht hat, Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise zu treffen, geschweige denn die wirtschaftliche Not der Arbeiter und ihrer Familien zu lindern.

Am Donnerstag beschloss das Parlament als erste Amtshandlung den Ausnahmezustand, womit dem Militär umfassende Vollmachten erteilt wurden, die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit einzuschränken, in Wohnungen einzudringen, Personen vor Militärgerichten anzuklagen und jeden zu verhaften, der als Gefahr für die öffentliche Sicherheit gilt. Dieses Vorgehen zielt eindeutig darauf ab, den Widerstand gegen das wirtschaftliche Elend, die Korruption und das Misstrauen gegenüber der politischen Elite zu unterdrücken.

Hariris Zukunftsbewegung und ihr Verbündeter, die faschistischen Libanesischen Kräfte unter dem ehemaligen Milizführer Samir Geagea, sowie die drusische Progressive Sozialistische Partei von Walid Dschumblat arbeiten fieberhaft daran, eine von Hariri geführte Regierung zu installieren.

Es dürfte sich als schwierig erweisen, dieses Vorhaben gegen die wütende und von der gesamten herrschenden Elite angewiderte Bevölkerung durchzusetzen. Es ist allgemein bekannt, dass Hariri in vier von sechs Jahren an der Macht war, in denen das Ammoniumnitrat im Hafen lagerte.

Die gemeinsame Position dieser Schichten besteht in einer „Regierung zur Rettung der Nation“ – angeblich, um die Krise zu lösen und die Grundlagen für ein neues Wahlrecht zu schaffen. Eine solche nicht gewählte Regierung würde voraussichtlich unter der Führung des Militärs stehen, sich aus Bankern und anderen Wirtschaftsbossen zusammensetzen und könnte zwei oder drei Jahre an der Macht bleiben.

Die Option, die offenbar von Washington bevorzugt wird, besteht in einer Regierung der „Unabhängigen“ unter der Führung des Diplomaten und Juristen Nawaf Salam. Er entstammt einer der Herrscherdynastien des Libanon; sein Cousin Tammam Salam war zwischen 2014 und 2016 Ministerpräsident. Genau wie Hariri hat auch seine Regierung die Gefahren ignoriert, die von der Lagerung der gefährlichen Chemikalie ausgingen.

Hariri und Konsorten wären die treibende Kraft sowohl hinter einer „Regierung zur Rettung der Nation“ als auch hinter einer Regierung der „Unabhängigen“. Ihr Ziel ist es, ihre Niederlage im letzten Oktober rückgängig zu machen, als Massenproteste der Bevölkerung im ganzen Land Hariris Regierung zum Rücktritt gezwungen hatten. Sie sind entschlossen, die direkte Herrschaft der Plutokratie im Dienst des Imperialismus wiederherzustellen und im Libanon und Syrien den Einfluss der „Gangster“ zu begrenzen oder zu beseitigen – ein Begriff, der stets als Euphemismus für die Hisbollah gebraucht wird.

Sie sind vehemente Gegner der Hisbollah, die vom Iran unterstützt wird und gemeinsam mit ihren Verbündeten den größten parlamentarischen Block bildet. Die Hisbollah ist eine bürgerlich-islamistische Bewegung, die in politischer und sozialer Hinsicht konservativ ist und jede unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse ablehnt. Sie war jahrelang Mitglied in den Koalitionsregierungen des Libanon und spielte eine Schlüsselrolle bei der Verteidigung des syrischen Regimes von Präsident Baschar al-Assad gegen rechtsextreme Islamisten, die von der CIA, den Golf-Monarchen und der Türkei unterstützt wurden.

Die Kampagne gegen die Hisbollah flankiert das Sanktionsregime gegen den Iran, mit dem die Trump-Regierung „maximalen Druck“ auf das Land ausübt. Ziel dieses Vorgehens, das einem Kriegszustand gleichkommt, ist der Sturz der iranischen Regierung und die Einsetzung eines Marionettenregimes.

Hariris Kampagne wird von den regionalen und den imperialistischen Mächten und den internationalen Medien unterstützt, die der Hisbollah die Schuld für die Explosion gegeben haben und sie regelmäßig als das einzige „Hindernis“ für demokratische Reformen und einen Bruch mit dem Sektierertum bezeichnet haben.

Diab, ein Professor der Ingenieurwissenschaften, wurde im Januar von Aoun zum Vorsitzenden einer „unabhängigen“ Regierung der „Technokraten“ ernannt. Dabei handelte es sich um eine Beruhigungspille für die Bevölkerung, die einen Bruch mit dem gesamten korrupten politischen Establishment gefordert hatte.

Bassel Sallouk, außerordentlicher Professor für Politikwissenschaften an der Libanesisch-Amerikanischen Universität, erklärte gegenüber Al-Jazeera, die Elite des Libanon habe „den Protesten vom 17. Oktober den Schwung nehmen wollen – und das hat sie auf brillante Weise getan. ... Wir haben erlebt, wie die Protestbewegung nach Diabs Machtübernahme abgeklungen ist.“

Diabs Kabinett bestand weitgehend aus parteilosen Experten und wurde von der Hisbollah, Präsident Aouns christlicher Freier Patriotischer Bewegung und der schiitischen Amal-Bewegung von Parlamentssprecher Nabih Berri unterstützt.

Die christlichen und sunnitischen Oligarchen, die mit Hariris Zukunftsbewegung verbündet waren, lehnten die Regierung vehement ab und machten Diab und die Hisbollah für die ausufernde Wirtschaftskrise im Libanon verantwortlich. Mittlerweile haben die Golfstaaten ihre finanzielle Unterstützung zurückgezogen und die Verschuldung des Landes beträgt 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Innerhalb weniger Wochen, in denen der Währungskurs abstürzte und die Inflation in die Höhe schoss, verkündete Diab, dass das Land die Auslandsschulden in Höhe von 30 Milliarden Dollar nicht werde bedienen können und beantragte einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Doch der Zugang zu internationalen Darlehen und wirtschaftlicher Unterstützung, der dem Libanon 2018 auf der Konferenz von Cedre unter der Aufsicht von Washington und Paris versprochen worden war, war stets von den außen- und wirtschaftspolitischen Zielen der imperialistischen Mächte abhängig gewesen.

Die Trump-Regierung übt seit längerem Druck aus, um ihre lokalen Marionetten zu unterstützen. Sie hat ihre Sanktionen gegen die Hisbollah und diejenigen Organisationen verschärft, die mit ihnen Geschäfte machen – darunter die Banken – und hat neue Sanktionen gegen Syrien verhängt, dessen Wirtschaft eng mit der libanesischen verbunden ist.

Diabs Regierung legte dem IWF einen Plan vor, der neben einer ganzen Reihe von Sparmaßnahmen und Privatisierungen einen beträchtlichen Schuldenschnitt bei den libanesischen Banken vorgesehen hätte. Allerdings lehnten die Banken, die sich im Besitz christlicher und sunnitischer Plutokraten aus dem Umfeld von Hariris Zukunftsbewegung befinden und die wichtigsten Gläubiger des Landes sind, diesen Plan ab.

Die Weigerung der Zukunftsbewegung, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, führte zu einer Reihe kleiner, aber gewaltsamer Zusammenstöße zwischen den beiden rivalisierenden Blöcken. Im Juni warnte Aoun, dass diese Zusammenstöße nach dem erbitterten Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 einen neuen bewaffneten inneren Konflikt auslösen könnten.

Selbst ohne die Explosion im Hafen hätte die Unfähigkeit von Diabs Regierung, auch nur ein Minimum an sozialer Unterstützung für die libanesischen Arbeiter und ihre Familien zu gewährleisten, ihr Schicksal besiegelt – schließlich hatten die Lockdown-Maßnahmen, die im März wegen des Coronavirus verhängt wurden, für die Arbeiterklasse schwerwiegende Folgen.

Laut Sozialminister Ramzi Musharrafieh benötigen bis zu 75 Prozent der Bevölkerung Hilfslieferungen. Menschen suchen auf Müllkippen nach Nahrung und betteln Passanten um Essbares an. Hariris Block, der bereits einen Angriff auf Diab plante, machte die Hisbollah für die verheerende Explosion verantwortlich. Seine zentralen Behauptungen sind, dass das Lagerhaus ein Sprengstofflager der Hisbollah gewesen sei, sie außerdem den Hafen verwaltet habe und somit dafür verantwortlich gewesen sei, dass das Ammoniumnitrat nicht aus dem Lagerhaus geschafft wurde.

Hariri und seine Verbündeten weigerten sich, die Untersuchung der Diab-Regierung zu akzeptieren, in deren Verlauf etwa zwanzig hohe Beamte unter Hausarrest gestellt und mit einem Reiseverbot belegt wurden, während ihre Bankkonten eingefroren wurden. Stattdessen fordern sie eine internationale Untersuchung und versuchen so, die Hisbollah für die Explosion verantwortlich zu machen.

Es waren diese Kräfte, die den französischen Präsidenten Emmanuel Macron willkommen hießen, als er zwei Tage nach der Explosion nach Beirut kam. Als Repräsentant der ehemaligen Kolonialmacht des Libanon forderte er eine internationale Untersuchung der Ursache der Explosion und bestand darauf, dass „politische Reformen“ die Gegenleistung für finanzielle Hilfe sein müssten. Reuters zitierte eine libanesische Regierungsquelle, laut der Macron Hariri als Präsidenten einer Technokratenregierung sehen wollte, was Aoun und die christlichen Parteien jedoch ablehnten.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas schloss sich dieser Forderung bei seinem Besuch in Beirut am Mittwoch an. Er überbrachte dem libanesischen Roten Kreuz einen läppischen Scheck über eine Million Euro und knüpfte weitere Hilfen an die Bedingung von „Wirtschaftsreformen und guter Regierungsführung“.

Am Donnerstag forderte US-Staatssekretär David Hale ein Ende der „dysfunktionalen Regierungen und leeren Versprechen“. Er fügte hinzu, das FBI und französische Ermittler würden den Libanon bei der Untersuchung der Explosion im Hafen unterstützen. Damit war Aoun scheinbar von seiner früheren Ankündigung abgerückt, keine internationale Untersuchung zu akzeptieren.

Laut dem Wall Street Journal bereitet die Trump-Regierung Antikorruptions-Sanktionen gegen bekannte libanesische Politiker und Geschäftsleute vor, um einen Keil zwischen die Hisbollah und ihre Verbündeten zu treiben.

Das Congressional Republican Study Committe (RSC) in den USA veröffentlichte vor kurzem einen Bericht, der einen Eindruck davon vermittelt, worüber in Washington diskutiert wird. Um die Macht und den Einfluss des Iran im Nahen Osten zurückzudrängen, wurden Gesetze vorgeschlagen, die Rettungsaktionen für den Libanon durch den IWF verbieten, weil von diesen „nur die Hisbollah profitieren würde“. Ein weiterer Vorschlag war die Ausweitung der US-Sanktionen gegen die Hisbollah auf deren Verbündete im Libanon.

Die Studie zitiert einen libanesisch-amerikanischen Analysten, der 2017 schrieb: „Die Stabilität des Libanon, sofern damit die Stabilität der iranischen Ordnung und des vorgelagerten iranischen Raketenstützpunktes in dem Land gemeint ist, liegt tatsächlich nicht im Interesse der USA.“ Mit anderen Worten: Was die USA betrifft, könne man einen Bürgerkrieg im Libanon begrüßen, um bei dieser Gelegenheit den Iran ins Visier zu nehmen und zu schwächen.

Beide Szenarien einer erneuten Machtübernahme von Hariris Block – direkte Wiedereinsetzung oder eine vom Militär dominierte „Regierung zur Rettung der Nation“ – würden eine Eskalation des Klassenkampfs bedeuten und die Gefahr eines Bürgerkriegs vergrößern.

Die Arbeiterklasse muss verstehen, dass ihre Forderungen nach wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gleichheit im diametralen Gegensatz zu den Interessen aller Fraktionen der Kleptokratie stehen, die den Libanon seit Jahrzehnten beherrscht. Arbeiter müssen sich von einer politischen und wirtschaftlichen Strategie leiten lassen, die auf ihren eigenen Klasseninteressen beruht – einer Strategie, die anerkennt, dass sich die Krise, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, ohne einen direkten Kampf gegen den Kapitalismus und seinen Staatsapparat nicht lösen lässt.

Während die herrschende Elite in Todesangst vor der Arbeiterklasse aus einer Position der Schwäche heraus auf ihre internationalen Schirmherren zugeht, liegt die Stärke der Arbeiterklasse in ihrem internationalen Charakter. Sie benötigt eine internationale Perspektive, die sich auf den Aufbau einer politischen Führung konzentriert, mit dem Ziel, die Arbeiterklasse über alle religiösen, ethnischen und nationalen Spaltungen hinweg in einem Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus zu vereinen – nicht nur innerhalb der Grenzen des Libanon, sondern in der gesamten Region.

Dies bedeutet, dass als Führung dieser Kämpfe Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale errichtet werden müssen, mit der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens.

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