Wegen türkischer Kritik an Islam-Gesetz: Frankreich beordert Botschafter aus der Türkei zurück

Wie das französische Außenministerium am Sonntag verkündete, wird der französische Botschafter in der Türkei, Hervé Magro, zu Gesprächen nach Paris zurückbeordert, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den französischen Präsidenten Emmanuel Macron kritisiert hatte.

Dieser Schlagabtausch zwischen zwei Nato-Mitgliedsstaaten ist ein Hinweis auf die Spannungen, die das transatlantische Bündnis auseinander reißen. Die Abberufung eines Botschafters ist die gravierendste Geste zwischen Staaten und wird nur noch von einem völligen Zusammenbruch der diplomatischen Beziehungen und einem offenen Krieg übertroffen. Hintergrund des Disputs sind Stellvertreterkriege zwischen französischen und türkischen Streitkräften in einer ganzen Reihe von Konflikten, u.a. in Libyen, im östlichen Mittelmeer, in Syrien und im armenisch-aserbaidschanischen Krieg im Kaukasus.

Erdoğan hatte Macrons geplantes „Separatismusgesetz“ kritisiert. Dieser rechtsextreme Vorschlag der neuen Regierung von Premierminister Jean Castex würde den Islam in Frankreich unter staatliche Kontrolle stellen und die politischen und sozialen Organisationen zu Treueeiden gegenüber dem Staat verpflichten. Das drakonische Gesetz würde das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat von 1905, das jede staatliche Einmischung in religiöse Angelegenheiten verbietet, mit Füßen treten. Angesichts des explosionsartigen Wiederauflebens der Corona-Pandemie in Frankreich schüren Regierungsvertreter Hass auf Muslime und Juden und verurteilen den Verkauf von koscheren und Halal-Lebensmitteln in Supermärkten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (links) und der französische Präsident Emmanuel Macron in Berlin am 20. Januar 2020 (AP Photo/Michael Sohn, File)

Während der öffentlichen Debatte um dieses reaktionäre Gesetz hatte ein junger tschetschenischer Islamist in Conflans-Sainte-Honorine nördlich von Paris den Lehrer Samuel Paty brutal ermordet, weil er im Rahmen einer Diskussion über Meinungsfreiheit in seiner Klasse obszöne Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte.

Während sich in Kuwait, Katar und der ganzen muslimischen Welt die Forderungen nach einem Boykott französischer Waren mehren, hat Erdoğan Macron öffentlich kritisiert. Während einer Rede in der zentraltürkischen Stadt Kayseri erklärte er am Samstag: „Was hat dieser Macron eigentlich für ein Problem mit dem Islam und Muslimen? Macron braucht eine psychiatrische Behandlung. [...] Was soll man sonst von einem Staatsoberhaupt halten, das das Konzept der Religionsfreiheit nicht versteht und sich so gegenüber Millionen von Bewohnern seines Landes mit einem anderen Glauben verhält?“

Erdoğan deutete außerdem an, dass Macron, der aufgrund seiner arbeiterfeindlichen Sozialpolitik und der Politik der „Herdenimmunität“ in der Corona-Pandemie zutiefst unpopulär ist, die Wahl 2022 verlieren werde: „Sie hacken ständig auf Erdoğan herum. Das wird Ihnen nichts bringen. Es wird... Wir werden Ihr Schicksal besiegeln. [...] Ich glaube nicht, dass er es noch lange machen wird. Warum? Er hat nichts für Frankreich erreicht, und er sollte es für sich selbst tun.“

Auch der türkische Regierungssprecher, Fahrettin Altun, kritisierte das Separatismusgesetz der Macron-Regierung auf Twitter: „Es geht darum, Muslime einzuschüchtern und sie daran zu erinnern, dass sie zwar die europäische Wirtschaft zum Laufen bringen dürfen, aber nie Teil Europas sein werden.“ Altun bezeichnete diese Politik als „auf unheimliche Weise vertraut“ und erklärte, sie erinnere an die „Verteufelung der europäischen Juden in den 1920ern“.

Vertreter der französischen Regierung erklärten gegenüber AFP sofort, diese Äußerungen seien inakzeptabel und würden eine harte Reaktion nach sich ziehen: „Präsident Erdoğans Kommentare sind inakzeptabel. Empörung und Beleidigung sind keine Methode.“

Am Sonntag erklärte das französische Außenministerium in einem neuen Kommuniqué: „Die türkischen Behörden haben nach dem Terroranschlag in Conflans-Sainte-Honorine nicht das geringste Zeichen von Verurteilung oder Solidarität erkennen lassen. Stattdessen verbreiten sie in den letzten Tagen hasserfüllte und verleumderische Propaganda gegen Frankreich und äußern damit die Entschlossenheit, Hass auf uns und in unserer Mitte zu schüren. Dazu kommen direkte Beleidigungen gegen den Präsidenten der französischen Republik von der höchsten Ebene des türkischen Staates. Dieses Verhalten ist inakzeptabel, vor allem von einer verbündeten Nation. Der französische Botschafter in der Türkei wurde abberufen und kehrt am Sonntag, den 25. Oktober, zu Beratungen nach Frankreich zurück.“

Auch der französische Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, verurteilte Ankara: „Die Lage ist sehr ernst, also reagieren wir mit einer sehr ernsten Geste: Wir rufen unseren Botschafter zu Beratungen zurück. Das ist sehr selten.“ Er attackierte die „provokante, aggressive, offensive politische Strategie“ der Türkei gegen von Frankreich unterstützte Kräfte: Griechenland im Konflikt um Erdgas im östlichen Mittelmeer, die Libysche Nationalarmee im libyschen Bürgerkrieg, die kurdisch-nationalistischen Milizen in Syrien, und Armenien. Er kündigte die Entsendung weiterer französischer Kriegsschiffe vor die türkische Küste an.

Beaune wiederholte, die Türkei habe sich nicht offiziell zu dem Mord in Conflans-Sainte-Honorine geäußert und machte Ankara quasi für den Mord verantwortlich: „Wir glauben, dass Erdoğan eine moderate Form des politischen Islam repräsentierte. Aber so etwas wie einen politischen Islam mit menschlichem Antlitz gibt es nicht.“ Er fügte hinzu, die Europäische Union werde möglicherweise strengere Wirtschaftssanktionen einführen, um die türkische Wirtschaft zu treffen.

Tatsächlich sind die Vorwürfe von Beaune und dem französischen Außenministerium gegen die Türkei unberechtigt. In der Eile, den Botschafter abzuberufen, hat erstaunlicherweise keiner der französischen Regierungsvertreter bemerkt, dass türkische Regierungsvertreter Patys Ermordung offiziell verurteilt haben.

Am 17. Oktober, nur einen Tag nach dem Mord, hatte der türkische Botschafter in Frankreich, Ismail Hakki Musa, auf Französisch getwittert: „Ich bin erschüttert über die schreckliche Ermordung eines Lehrers in Conflans-Sainte-Honorine. Die Tat ist durch nichts zu rechtfertigen. Mein Beileid an seine Familie.“ Das türkische Außenministerium wies am Sonntag in einer Stellungnahme darauf hin und betonte, es sei „zutiefst betroffen über den Mord an Samuel Paty.“

Macrons Entscheidung zum Abzug des französischen Botschafters, durch die er faktisch mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen droht und versucht, die Türkei militärisch einzukreisen, ist eine reaktionäre Provokation. Nach den imperialistischen Kriegen der letzten drei Jahrzehnte, die auf die Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie 1991 folgten, sind das Mittelmeer, der Nahe Osten und Zentralasien ein Pulverfass. Die Region stand bereits das ganze Jahr 2020 über am Rande eines Kriegs, und diese Konflikte überschneiden sich jetzt mit den toxischen internen Konflikten in Europa im Zusammenhang mit der von der Bourgeoisie verfolgten Politik der „Herdenimmunität“ in Bezug auf Covid-19.

Angesichts eines rapiden Wiederauflebens der Pandemie in Europa – Frankreich verzeichnete am Sonntag mehr als 52.000 Neuinfektionen – verschärft Macron seine nationalistischen Appelle an antimuslimische Hysterie und Rufe nach „Recht und Ordnung“. Während Innenminister Gérald Darmanin der neofaschistischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen Respekt gezollt hat und das Verbot von Organisationen der muslimischen Gemeinschaft fordert, attackiert er auch den Verkauf von koscheren und Halal-Lebensmitteln mit Begriffen, die direkt aus dem politischen Arsenal der extremen Rechten stammen.

Erdoğans populistische Inszenierung als Verteidiger der Muslime ist zweifellos scheinheilig. In Wirklichkeit ist die türkische Bourgeoisie ein Komplize bei der imperialistischen Plünderung des Nahen Ostens. Sie hat die Nato-Stellvertreterkriege von CIA-gestützten islamistischen Milizen in Libyen und Syrien unterstützt und der Nato ihr Staatsgebiet als Basis für Militäroperationen in der ganzen Region zur Verfügung gestellt. Auch ihre Reaktion auf die Corona-Pandemie war katastrophal. Doch die Angriffe der französischen Regierung auf Erdoğans Äußerungen sind falsch und bergen gefährliche Implikationen für demokratische Rechte.

In Frankreich sind Millionen Menschen erschüttert über Macrons katastrophale Reaktion auf die Pandemie, seine brutale Unterdrückung von Arbeiterprotesten und die hemmungslosen Appelle von höchsten Vertretern seiner Regierung an politischen Rassismus und Neofaschismus. Obwohl Macron selbst wohl der meistgehasste Präsident Frankreichs ist, veranstaltet die Presse eine Kampagne mit dem Ziel, jede Kritik an Macrons Gesetz als „Islamo-Linksextremismus“ zu verurteilen. Damit wird der Widerstand gegen Macron faktisch mit Unterstützung für Terrorismus gleichgesetzt.

Die Lösung ist die Zurückweisung aller Versuche, die Arbeiterklasse mit Appellen an religiösen und ethnischen Hass zu spalten, und die Vereinigung der Arbeiterklasse und der Jugend im Kampf gegen imperialistische Kriege, die Politik der „Herdenimmunität“ und rechtsextreme Angriffe auf demokratische Rechte.

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