Großbritannien: Johnson-Regierung zu neuem landesweitem Lockdown gezwungen – Bildungseinrichtungen und Betriebe bleiben geöffnet

Am Samstag hat der britische Premierminister Boris Johnson einen eingeschränkten landesweiten Lockdown angekündigt, der am Donnerstag in Kraft treten wird. Er soll zwar nur bis zum 2. Dezember dauern, aber die Regierung hat bereits eine mögliche Verlängerung angedeutet.

Als Johnson am Samstag vor die Presse trat, war die Zahl der Fälle in Großbritannien gerade auf über eine Million gestiegen und die Zahl der Toten um 326 auf 1.530 für die Vorwoche. Das Office for National Statistics (nationales Statistikbüro) bestätigt mindestens 61.000 Todesfälle in ganz Großbritannien, die in Zusammenhang mit Covid-19 stehen. Andere Studien gehen von mehr als 65.000 aus.

Johnson sah sich zu dem Lockdown gezwungen, weil die Corona-Pandemie seit der Wiedereröffnung der Betriebe Anfang Mai außer Kontrolle geraten ist. Die Folgen einer drohenden Überlastung des National Health Service wären Todesfälle, die selbst die Zahlen auf dem Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr in den Schatten stellen würden. Dennoch versicherte Johnson gegenüber den Konzernen noch bei der Verkündung der neuen Maßnahmen: „Wir werden den vollständigen Lockdown von März und April nicht wiederholen. Die Maßnahmen, die ich skizziert habe, sind weniger einschränkend.“

Der britische Premierminister Boris Johnson (rechts) und der oberste wissenschaftliche Berater, Sir Patrick Vallance, bei einer Pressekonferenz in 10 Downing Street in London am 31. Oktober (AP Photo/Alberto Pezzali, Pool)

Neben nicht-systemrelevanten Geschäften müssen Pubs, Restaurants, Freizeiteinrichtungen, Fitnessstudios und Sporteinrichtungen schließen. Fabriken und Baustellen dürfen geöffnet bleiben, ebenso Spielplätze, Schulen, Kindergärten, Universitäten, Gerichte, Kinderbetreuungseinrichtungen und andere öffentliche Einrichtungen. Das bedeutet, dass sich Millionen Menschen weiterhin mit der tödlichen Krankheit infizieren und sie verbreiten können. Die Premier League im Fußball und andere Profisportveranstaltungen werden ohne Zuschauer stattfinden.

Ab dem 2. Dezember will die Regierung zu dem bisherigen dreistufigen regionalen System von Einschränkungen zurückkehren, abhängig von einer „Überprüfung“.

Im Mai und Juni hatte die Johnson-Regierung die Betriebe voreilig wieder geöffnet, sodass sich das Virus ausbreiten konnte. Diese Maßnahmen wurden mit der mörderischen Politik der Herdenimmunität gerechtfertigt, die von der Labour Party und den Gewerkschaften uneingeschränkt unterstützt wurde. Sie führten zu einem katastrophalen Anstieg der Infektionen und Todesfälle. Teil dieser Maßnahmen war das System „Eat Out and Help Out“ („Auswärts essen, um zu helfen“), mit dem während des gesamten August subventioniertes Essen und nicht-alkoholische Getränke in Restaurants und Pubs angeboten wurden. Laut Studien des Ökonomen Thiemo Fetzer von der University of Warwick könnte diese Politik direkt verantwortlich sein für fast ein Fünftel der neuen Corona-Infektionscluster im Sommer. Auch die Wiedereröffnung der Reise- und Tourismusbranche hatte katastrophale Folgen. Die große Mehrheit der Infektionen kommt von einem neuen Virenstamm aus Spanien.

Die „Sechserregel“, die Johnson am 14. September eingeführt hatte und die Versammlungen von mehr als sechs Menschen verbietet, hat die erneute Ausbreitung des Virus, die durch die profitgierige Politik der Regierung verursacht wurde, ebenso wenig bremsen können wie das lokal basierte Dreistufensystem, das am 12. Oktober eingeführt wurde.

Zudem wurde die Ausbreitung von Covid-19 durch die Wiederöffnung der Schulen, Hochschulen und Universitäten ab September deutlich beschleunigt.

Die Regierung hat monatelang alle Warnungen ignoriert, dass ein zweiter Lockdown notwendig sein würde. Diese kamen u.a. von der eigens der Regierung unterstellten Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), von Dutzenden Epidemiologen, Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten und der Independent SAGE-Gruppe.

Am 21. September forderte SAGE die sofortige Ausrufung eines zweiwöchigen nationalen Lockdowns, um den Anstieg zu unterbrechen. Die Regierung unternahm jedoch nichts, und seither kamen mehr als 4.000 neue Todesopfer und 300.000 neue Infizierte dazu.

Am 12. Oktober erklärte der Chief Medical Officer, Chris Whitty, die Ausbreitung ließe sich nicht einmal aufhalten, wenn man in Teilen des Landes die höchste Lockdown-Stufe 3 verhängt. Am 14. Oktober warnten Wissenschaftler, die Krise entwickle sich schlimmer als das prognostizierte Worst-Case-Szenario. Laut einem Dokument, das im August an die Öffentlichkeit geriet, geht SAGE davon aus, dass im Winter im schlimmsten Fall 85.000 Menschen an Covid-19 sterben werden. Das entspricht etwa 800 Toten pro Tag.

Am Freitag erschien ein weiteres Dokument von SAGE, mit Datum vom 14. Oktober, laut dem Wissenschaftler mit einem täglichen Anstieg der Infizierten in England zwischen 43.000 und 74.000 rechnen. Der Bericht warnte: „Das liegt deutlich über den Werten, von denen wir in einem wahrscheinlichen Worst-Case-Szenario ausgegangen sind, bei dem die Zahl der Infizierten in England im Oktober bei täglich 12.000 bis 13.000 bleiben würde.“ Die Regierung aber hat wieder nicht gehandelt.

Im Vorfeld seiner Ankündigung wurden Johnson neue Prognosen vorgelegt, die von bis zu 4.000 Toten pro Tag im Winter ausgehen, falls er nichts unternimmt.

Dieses Diagramm präsentierte der führende wissenschaftliche Berater der britischen Regierung am Samstag. Es zeigt eine Schätzung, laut der die Zahl der Todesfälle ohne eine Intervention der Regierung auf bis zu 4.000 pro Tag steigen könnte. (Quelle: gov.uk)

Eine Studie des Londoner Imperial College namens REACT-1, die letzte Woche veröffentlicht wurde, kam zu noch höheren Schätzungen als SAGE. Die Studie auf der Grundlage von Tests an 85.000 Personen zeigte eine Infektionsrate von 96.000 pro Tag bis zum 25. Oktober. Sie kam zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl der Infektionen in allen Teilen des Landes und allen Altersgruppen erhöht hat. Die größte Verbreitung fand in der Altersgruppe von 18 bis 24 statt, der stärkste Anstieg bei den 55- bis 64-Jährigen.

Eine so hohe Infektionsrate bedeutet, dass sich in Großbritannien bereits fast so viele Menschen infizieren wie auf dem Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr. Im ganzen Land werden fast 11.000 Menschen wegen Covid-19 stationär behandelt, fast 1.000 davon an Beatmungsgeräten. Neunzehn NHS-Trusts in England behandeln mehr Covid-19-Patienten als während der ersten Welle.

Whitty und Johnsons oberster wissenschaftlicher Berater, Sir Patrick Vallance, präsentierten bei der Pressekonferenz in der Downing Street eine Reihe von Diagrammen, die die schrecklichen Folgen von Johnsons Herdenimmunitätspolitik illustrieren. Zu einem der Diagramme erklärte Vallance, es zeige, dass sich „vermutlich mehr als 50.000 täglich“ mit dem Virus anstecken, und „möglicherweise eine halbe Million oder mehr insgesamt infiziert werden“.

Ein weiteres Diagramm zeigte die verheerenden Auswirkungen der verfrühten Wiedereröffnung der Wirtschaft ohne systematische Massentests und Kontaktverfolgung, die die Regierung nicht organisiert hat, obwohl sie mehrere Monate Zeit dafür hatte. Durch die Untätigkeit ist der R-Wert (Reproduktionswert) des Virus deutlich angestiegen. Vallance erklärte: „Der R-Wert war relativ flach und unter 1 [...] Wie Sie sehen, stieg er im August [die Regierung hat einen Großteil der Wirtschaft am 4. Juli wieder geöffnet] über 1, die Epidemie breitete sich aus und tut es weiterhin [...] Sie wächst immer noch, und von dem hohen Niveau aus steigt diese Zahl sehr schnell.“

Laut diesem Diagramm, das der führende wissenschaftliche Berater der britischen Regierung am Samstag zeigte, ist der R-Wert des Virus aufgrund der Wiederöffnung der Wirtschaft durch die Johnson-Regierung seit August deutlich angestiegen. (Quelle: gov.uk)

Ein weiteres Diagramm zeigt ein Modell, das im Auftrag von SAGE von akademischen Gruppen zusammengestellt wurde und von einem anhaltenden Anstieg des R-Werts auf 1,5 im Winter ausgeht. Vallance erklärte, die Gruppen gingen von unterschiedlich hohen Todesfällen aus, „allerdings gehen alle klar davon aus, dass es möglicherweise doppelt so schlimm oder noch schlimmer wird als bei der ersten Welle“.

Seit Mai hat Johnson immer wieder erklärt, ein neuer landesweiter Lockdown sei das Letzte, was er in Erwägung ziehen würde. Im Juli erklärte er in einem Interview mit dem Sunday Telegraph, er halte den Lockdown für das Äquivalent einer „nuklearen Abschreckung, die ich mit Sicherheit nicht einsetzen werde. [...] Und ich glaube auch nicht, dass wir wieder in diese Lage kommen werden.“

Die Weigerung der Regierung, Schulen und andere Bildungseinrichtungen zu schließen, wird zu Tausenden weiteren Todesopfern führen. Etwa neun Millionen Menschen – 15 Prozent der britischen Bevölkerung – gehen zur Schule oder arbeiten dort. Laut der Twitter-Seite Tory Fibs gab es bereits an 8.000 Schulen Covid-Infektionen, und auf Schulen entfallen 29 Prozent der Infektionscluster. Letzte Woche mussten mehr als 600.000 Schüler in häusliche Quarantäne. Die Infektionsrate unter den 11- bis 16-Jährigen ist seit dem 1. September um 2.000 Prozent angestiegen.

Johnson wird bei all dem von der Opposition, der Labour Party, unterstützt. Deren Parteichef, Sir Keir Starmer, erklärte am Sonntag, die Schulen „müssen offen bleiben, aber wir müssen das Risiko steuern“.

Im Rahmen des neuen landesweiten Lockdowns wird das staatliche „Jobs Furlough“-System, das am Samstag auslaufen sollte, um einen Monat verlängert. Doch nach dem wiederaufgenommenen System werden Selbstständige nur 40 Prozent ihrer vorherigen Einnahmen erhalten. Unternehmen, die wegen der neuen Maßnahmen geschlossen werden, erhalten Zuschüsse bis zu 3.000 Pfund pro Monat.

Loading