Schlachthöfe arbeiten trotz Corona-Ausbrüchen auch sonntags

Trotz explosiver Ausbreitung der Sars-CoV-2-Pandemie haben Bund und Länder keinen Lockdown, sondern nur eine höchst inkonsequente Kontaktbeschränkung verhängt. Schulen und Kitas bleiben offen, damit die Produktion weiterlaufen kann. „Regierungen schützen Profite, nicht Leben“, heißt es im Titel einer Erklärung der WSWS vom 30. Oktober.

Wer dafür noch eine Bestätigung braucht, der werfe einen Blick auf die deutsche Fleischindustrie. Seit Wochen gibt es in den Schlachthöfen und Zerlege-Betrieben immer neue, hochgefährliche Corona-Ausbrüche, auch wenn die großen Zeitungen wenig darüber berichten. Die Schlachthöfe produzieren dennoch weiter und sind dabei, ihre Kapazitäten noch zu steigern.

Arbeiter in einem Schlachthof bei der Fleischverarbeitung (Wikipedia Commons)

Beim Schlachtbetrieb Ulmer Fleisch (Baden-Württemberg) hat sich die Zahl der infizierten Mitarbeiter Ende letzter Woche auf 65 erhöht. In dem Betrieb, der zur Müller-Gruppe gehört, wurden vor zwei Wochen zunächst 29 Arbeiter der Rinderschlachtung positiv auf Covid-19 getestet. Erst nach mehreren Tagen wurde die Abteilung geschlossen – und nur für drei Tage. Mehr als 450 der 770 Beschäftigten sind Werksvertragsarbeiter, die aus Rumänien oder anderen osteuropäischen Ländern stammen.

Weitere Ausbrüche bei den großen Fleischkonzernen gab es bei Tönnies und Vion. Im Tönnies-Schlachthof Weidemark in Sögel (Niedersachsen) waren am 8. Oktober mindestens 112 Arbeiter an Covid-19 erkrankt. Bei einem Ausbruch bei Vion in Emstek (Kreis Cloppenburg) wurden 63 Arbeiter positiv auf das Coronavirus getestet. In beiden Konzernen läuft der Betrieb mit nur geringen Einschränkungen weiter.

Auch im Geflügel-Schlachthof Steinfeld (Niedersachsen) wurden letzte Woche 20 Beschäftigte positiv auf das Virus getestet. Weitere Ausbrüche gab in Bayern und Hessen: Erst wurden zwölf Fleischarbeiter der Schlachthöfe München positiv getestet, dann folgten am 15. Oktober weitere 39 Beschäftigte eines Schlachthofs in Ampfing (Kreis Mühldorf). In Hessen wurde in Münster (Kreis Darmstadt-Dieburg) ein Corona-Ausbruch in einem ehemaligen Hotel bekannt, das als Unterkunft für 175 Arbeiter aus Osteuropa dient. Bis zum 28. Oktober wurden hier 35 Bewohner positiv getestet, die in mehreren Betrieben der fleischverarbeitenden Industrie arbeiten. Das gesamte Gebäude wurde abgeriegelt.

Nicht verwunderlich, kommt es gerade in der fleischverarbeitenden Industrie, in den Schlachthöfen und Zerlege-Betrieben, zu immer neuen Ausbrüchen. Hier herrschen für das Virus ideale Bedingungen: Bei kalten, feuchten Temperaturen werden Tiere im Akkord zerlegt und verpackt. Der Lärm ist groß, so dass man schreien muss, um sich zu verständigen – insgesamt ein idealer Nährboden für neue Superspreading-Events.

Im Juni gab es bei Tönnies, dem europaweit größten Fleischkonzern, im Hauptbetrieb Rheda-Wiedenbrück den deutschlandweit bisher größten Ausbruch mit über 1500 Corona-Erkrankten. Zwei Dutzend Patienten mussten damals im Krankenhaus behandelt werden. Sechs Arbeiter konnte man nur durch die künstliche Beatmung retten. Im Kreis Gütersloh haben sich mehr als die Hälfte der bisher rund 4300 Infizierten im Zusammenhang mit der Fleischindustrie angesteckt. Heute weist der Kreis Gütersloh einen Sieben-Tages-Wert von knapp 170 pro 100.000 Einwohner auf. 52 Corona-Patienten müssen derzeit stationär behandelt werden. Das ist in dem Kreis die höchste Zahl seit Pandemiebeginn.

Um weiter produzieren zu können, haben die Tönnies-Werke sich vom Kreis Gütersloh ein Hygienekonzept bestätigen lassen, das mit zusätzlichen Plexiglaswänden und neuen Luftfiltern arbeitet. Dennoch ist eine zentrale Ursache für das extreme Ansteckungsrisiko nicht beseitigt: die brutalen Ausbeutungsbedingungen. Infolge langer Arbeitsschichten, der Überstunden, Nacht- und Feiertagsarbeit sind die Arbeiter erschöpft und anfällig für Krankheit. Die meisten haben keine vernünftige Krankenversicherung und keine Möglichkeit, zuhause zu bleiben.

Obwohl die Corona-Zahlen rasend schnell ansteigen, werden die Schlachthöfe nicht geschlossen, im Gegenteil: Die Fleischbarone fordern immer höhere Kapazitäten. Der Tönnies-Schlachthof Weidemark ist gerade dabei, sein Potential auf 80 Prozent der maximal möglichen Schlachtkapazitäten auszuweiten. Mit Zustimmung der Behörden wird auch am Sonntag gearbeitet. Mehrere Schlachthöfe haben schon Sonntagsarbeit beantragt, wobei die Landesregierungen jeden Fall einzeln als „gesetzliche Ausnahme vom verfassungsrechtlich gewährleisteten Sonn- und Feiertagsarbeitsverbot im Arbeitszeitgesetz“ entscheiden müssen.

In den Betrieben, in denen es Corona-Fälle gibt, werden die nicht-betroffenen Kollegen in die sogenannte „Arbeitsquarantäne“ versetzt. Das bedeutet, dass sie nur noch arbeiten, essen und schlafen, aber sich nirgendwo anders als auf dem Schlachthof und in ihrer Unterkunft aufhalten dürfen. Allein im Tönnies-Betrieb im niedersächsischen Sögel betrifft das 200 Arbeiter. Sie schuften in einer Parallelwelt, die sich der Öffentlichkeit völlig entzieht.

Das Modell erinnert an die Zwangsarbeit unter der Nazi-Diktatur, da es die betroffenen Arbeiter in keiner Weise schützt. Es stammt von der Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU); sie hat die „faktische Quarantäne bei gleichzeitiger Arbeitsmöglichkeit“ im Frühjahr in Corona-betroffenen Agrarbetrieben eingeführt, nachdem am 11. April ein rumänischer Erntehelfer an Covid-19 gestorben war. Nun wird das Modell systematisch auch auf die Produktion in den Schlachthöfen angewandt.

Vor einer Woche schrieb Frau Klöckner einen Brief an ihren Ministerkollegen, den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), in dem sie davor warnte, dass aufgrund des eingeschränkten Betriebs in den Corona-betroffenen Schlachthöfen bis Weihnachten ein Überhang von 1,3 Millionen Schweinen entstehen könnte. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, behauptete die Ministerin, sei eine „übergangsweise Ausweitung der Rahmenarbeitszeiten“. Dafür solle sich der Bundesarbeitsminister bei seinen Kollegen in den Arbeitsministerien von Niedersachsen und NRW für „flexible Lösungen zur Öffnung der Schlachtbetriebe an Sonn- und Feiertagen“ einsetzen, so Julia Klöckner.

Vor vier Monaten, bei dem Ausbruch im Juni in Rheda-Wiedenbrück, wurden im Kreis Gütersloh schon 7000 Arbeiter vier Wochen lang in Quarantäne versetzt: Ihre Unterkünfte und ganze Wohnsiedlungen wurden damals mit Bauzäunen abgeriegelt und von Sicherheitskräften bewacht. Damals lösten die Corona-Ausbrüche und die menschenverachtenden Verhältnisse in der Fleischindustrie Zorn und Unruhe in der Bevölkerung aus.

Um den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigte die Regierung Ende Juli ein neues Arbeitsschutzgesetz an, das Werkverträge im Kernbereich der Fleischindustrie ab Januar 2021 und entsprechende Leiharbeit ab April 2021 verbieten sollte. Eine „Schande für unser Land“, nannte Arbeitsminister Hubertus Heil damals die Zustände in den Schlachthöfen.

Als er am 10. September im Bundestag zum Entwurf des neuen „Arbeitsschutzkontrollgesetzes“ sprach, begann Heil seine Rede mit folgenden markigen Worten: „Blutige Schweinekadaver, Zerlegen im Akkord, Schulter an Schulter mit Kollegen, ohne Schutz vor Corona, zwölf Stunden am Stück malochen, manchmal aber auch 16, an sechs oder sieben Tagen in der Woche. Am Abend eingepfercht in einen kleinen Bus ohne Schutz, kaserniert werden in einer Bruchbude. Und das Einzige, was du hast, ist eine schimmlige Matratze, die dich mehrere hundert Euro im Monat kostet, und vielleicht noch ein Foto deiner Familie, die tausend Kilometer entfernt lebt.“

Diese drastische, aber zutreffende Schilderung beweist nur, wie genau die Regierungspolitiker die Zustände in den Fleischkonzernen kennen. Sie grundlegend zu ändern, dafür bestand niemals die leiseste Absicht. Zu eng sind die Beziehungen von CDU- und SPD-Spitzenpolitikern zu den Fleischbaronen. So ist Clemens Tönnies, der Schweinebaron in Gütersloh, mit der Merkel-Freundin Liz Mohn von Bertelsmann bekannt. Bezeichnend sind auch die Beziehungen zur SPD, deren ehemaliger Vorsitzender Sigmar Gabriel bei Clemens Tönnies ein hohes Beraterhonorar kassierte.

Letzte Woche wurde das Verbot der Werkverträge denn auch im Bundestag stillschweigend auf Eis gelegt. Noch am Freitag davor war geplant, das entsprechende „Arbeitsschutzkontrollgesetz“ am Donnerstag, den 29. Oktober abschließend zu diskutieren und darüber abzustimmen. Kurz vor der Abschlussdebatte verschwand der Punkt jedoch aus der Tagesordnung. Damit ist es zeitlich kaum mehr möglich, das lauthals propagierte Gesetz zum 1. Januar 2021 in Kraft zu setzen. Dies obwohl selbst der Gesetzentwurf völlig halbherzig war, viele Schlupflöcher ließ und zum Beispiel vorsah, dass erst im Jahr 2028 (!) gerade mal fünf Prozent (!) der Fleischbetriebe pro Jahr kontrolliert werden sollten.

Von Anfang an war die Fleischindustrie dagegen Sturm gelaufen, unterstützt von der AfD und der rechten CDU. Alle Vorwürfe seien „völlig unberechtigt“, ließ sich die Lobby der Schlachtungs-, Zerlegungs- und Verpackungsbetriebe hören. Im Bundestag behauptete Uwe Witt, der arbeits- und sozialpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, das geplante Verbot von Werksverträgen und Leiharbeit im Kerngeschäft der Fleischindustrie komme „einer Entmündigung der unternehmerischen Freiheit“ gleich. Diese Position der AfD hat die Große Koalition jetzt in der Praxis übernommen.

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