Boris Johnsons Teil-Lockdown beginnt: Die Arbeiterklasse muss eingreifen, um eine Covid-19-Katastrophe zu verhindern

Der britische Premierminister Boris Johnson hat gezwungenermaßen einen zweiten, einmonatigen „Lockdown“ ausgerufen, nachdem seine Regierung als eine Ansammlung von Massenmördern entlarvt wurde.

Die herrschenden Kreise Großbritanniens folgte monatelang der Annahme, dass 85.000 zusätzliche Todesopfer durch Covid-19 im Verlauf der Wintermonate ein „realistisches Worst-Case-Szenario“ seien. Am Samstag wurden jedoch neue Daten geleakt, laut denen diese entsetzliche Zahl noch zu niedrig angesetzt ist. Großbritannien ist mit einem Anstieg der Infektionen und Todesfälle durch Covid-19 konfrontiert, der die erste Welle im Frühjahr weit in den Schatten stellt.

Diese Katastrophe ist von durch die Politik der Tory-Regierung und ihrer Mitverschwörer in der Labour Party und den Gewerkschaften vorbereitet worden. Die Aufgabe, diesen Verbrechern die Kontrolle über die Gesellschaft zu entreißen und ein schreckliches Massensterben zu verhindern, ist jetzt die Aufgabe der Arbeiterklasse.

Premierminister Boris Johnson bei einer Pressekonferenz zu Covid-19 am 31. Oktober in der Downing Street (Quelle: Pippa Fowles / No 10 Downing Street)

Während Johnson am Montag im Parlament zugab, dass im Winter „doppelt so viele oder mehr Menschen sterben könnten wie während der ersten Welle“, machte er gleichzeitig deutlich, dass die britische herrschende Klasse nicht die Absicht hat, ernsthafte Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus zu treffen. Als er am letzten Samstag die Einführung von neuen landesweiten Einschränkungen für die Dauer eines Monats ankündigte, verteidigte er gleichzeitig das Vorgehen der Regierung. Mit nie dagewesenem politischem Zynismus erklärte er, die Prognosen von mehreren tausend Toten pro Tag und überfüllten Krankenhäusern sei als Beweis dafür zu nehmen, dass man „vor der Natur demütig auftreten“ müsse.

Diese Pandemie ist keine Naturkatastrophe. Johnson vertuscht sein eigenes abstoßendes Vorgehen, das die Ausbreitung des Virus befördert hat, aber er spricht gleichzeitig für die gesamte kapitalistische Gesellschaftsordnung. Mehr als 1,2 Millionen Menschen sind tot, weil Menschenleben in der rücksichtslosen Jagd nach Profiten als überflüssig angesehen werden. Diese Tatsache ist so explosiv, dass ihre Folgen wie ein Ergebnis unaufhaltbarer Naturkräfte dargestellt werden müssen. Diese Darstellung orientiert sich an den Behauptungen von Thomas Malthus, der im 18. Jahrhundert Hunger und Krankheit zum unvermeidlichen Schicksal der „überschüssigen“ Arbeiterklasse erklärt hatte.

Wie sieht die Bilanz des letzten Jahres wirklich aus? Die Tories hatten von Anfang an nicht die Absicht, das Virus zu bekämpfen. Ihr erklärtes Ziel war die „Herdenimmunität“. Zu diesem Zweck sollte sich das Virus in der Bevölkerung ausbreiten. Die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung hierfür lautete, auf diese Weise würde in der Bevölkerung eine Immunität entstehen – nachdem Hunderttausende gestorben sind. Diesen mörderischen Plan hatte Johnson erst geändert, nachdem in Großbritannien und ganz Europa eine Streikwelle gegen unsichere Arbeitsbedingungen ausgebrochen war. Zudem befürchtete er, die Empörung der Masse der Bevölkerung über seine Reaktion auf die Pandemie könne sich zu politischem Massenwiderstand entwickeln.

Der erzwungene Lockdown am 23. März und ähnliche Maßnahmen im Rest Europas haben Millionen Menschenleben gerettet. Doch von Mai bis Juni kehrte Johnson zu seiner ursprünglichen Strategie zurück, beendete den Lockdown vorzeitig und förderte aktiv ein Verhalten, das die Ausbreitung des Virus begünstigt.

Millionen mussten in öffentliche Verkehrsmittel einsteigen und an die Arbeitsplätze zurückkehren, ohne dass ein nennenswertes Test- oder Kontaktverfolgungssystem aufgebaut oder Sicherheitsinspektionen durchgeführt worden wären. Johnson hat die Gastronomie-, Unterhaltungs- und Freizeitbranche wieder geöffnet und erklärt: „Ich glaube, die Leute sollten ausgehen und Spaß haben.“ Finanzminister Rishi Sunak organisierte ein Subventionssystem mit dem Namen „Eat Out to Help Out“ (Auswärts essen, um zu helfen), in dessen Rahmen Millionen Menschen ermutigt wurden, in Pubs und Restaurants zu gehen. Quarantänen wurden aufgehoben, um die Bevölkerung zu Auslandsurlaub zu ermutigen, u.a. in den Covid-Hotspots Frankreich und Spanien.

Im September wurden die Schulen und Universitäten für Millionen von Schülern, Studenten und Beschäftigten wieder geöffnet. Johnson und Bildungsminister Gavin Williamson lehnten alle Vorschläge für Onlineunterricht ab.

Eine Reihe von absurden Einschränkungen wurde eingeführt, u.a. „lokale Lockdowns“, die „Sechserregel“ und ein regionales „Stufensystem“ von Regulierungen. Deren hauptsächliche Folge war jedoch, dass Verwirrung entstand und die Legitimität von Interventionen des Gesundheitswesens diskreditiert wurde.

Oberste Priorität hatte für die Regierung, dass die Wirtschaft in Gang gehalten und der Zufluss der Profite an die Superreichen nicht unterbrochen wird. Dass sich die Todesfälle vorwiegend unter den älteren Teilen der Bevölkerung ereigneten, die als unproduktive Belastung der Staatsfinanzen gesehen werden, gilt dabei als wirtschaftlicher Bonus.

Auch diesmal hat nur die Angst vor massivem Widerstand Johnson zu neuen Maßnahmen gezwungen. Die Tories haben Bedingungen geschaffen, unter denen die Ausbreitung des Virus zu massiven Todeszahlen führt und ein Zusammenbruch des National Health Service die Gefahr einer Reaktion der Bevölkerung birgt. Deshalb hat die Regierung erklärt, Protestaktionen seien nicht mehr von den Lockdown-Einschränkungen ausgenommen, selbst wenn sie sich an die Hygieneauflagen halten.

Der neue Lockdown wird deutlich begrenzter sein als der erste. Wer nicht von zu Hause arbeiten kann – was u. a. in der Gastronomie, der Unterhaltungs- und Freizeitbranche und im nicht-systemrelevanten Einzelhandel der Fall ist – wird vor Ort arbeiten müssen. Schulen, Hochschulen und Universitäten werden geöffnet bleiben. Durch diese Ausnahmen werden Millionen der Gefahr durch das Virus ausgesetzt sein, was die Effektivität des Lockdowns drastisch verringern wird. Laut Wissenschaftlern werde ein einmonatiger Lockdown die Zahl der Infektionen um nur zehn Prozent senken, die exponentielle Ausbreitung werde sich jedoch nicht verringern.

Doch beträchtliche Teile der Tories und ihrer Verbündeten in Nigel Farages Brexit Party, die sich bald zur Anti-Lockdown-Partei „Reform“ umbenennen wird, lehnen selbst diese begrenzte Intervention ab. Unter Führung von Sir Graham Brady, dem Vorsitzenden des 1922 Committee, fordert „Reform“ ein Ende aller Versuche, das Virus einzudämmen.

Der Widerstand gegen die Regierung wächst. Ein Schritt voran ist jedoch nur möglich, indem ein neues politisches Programm unter einer neuen Führung entwickelt wird.

Die Labour Party und die Gewerkschaften wurden durch die Krise als Komplizen der Johnson-Regierung entlarvt. In den ersten Tagen der Pandemie würgten die Gewerkschaften die Arbeitskämpfe und Proteste der Arbeiter für sichere Arbeitsbedingungen ab und versprachen Johnson ihre Zusammenarbeit im „nationalen Interesse“. Sie waren verantwortlich für die unsichere Wiederöffnung von Arbeitsplätzen und Bildungseinrichtungen und ließen alle zuvor erklärten „roten Linien“ fallen. Angesichts der wachsenden Wut unter ihren Mitgliedern tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um einen Streik zu verhindern. Sie unterstützen die jüngsten Maßnahmen oder bitten bestenfalls höflich um eine teilweise Ausweitung der Maßnahmen auf Bildungseinrichtungen.

Labour unterstützte seit Beginn der Krise die Politik der Tory-Regierung. Ihre Vorsitzenden, erst Jeremy Corbyn und dann Sir Keir Starmer, hatten angekündigt, nur „konstruktiven Widerstand“ zu leisten – was nichts als eine beschönigende Darstellung von Zusammenarbeit ist. Starmer, der auf der Wiederöffnung der Schulen „ohne Wenn und Aber“ beharrt hatte, unternahm letzten Monat einen erbärmlichen Versuch, seine kriminelle Rolle zu vertuschen, indem er sich nachträglich für einen zweiten Lockdown als „Bremse“ aussprach. Dabei ging es ihm ausschließlich darum, die Beeinträchtigungen der britischen Wirtschaft durch eine unkontrollierte Explosion des Virus zu minimieren.

Corbyn und die Labour-„Linke“ haben sich nicht weniger schuldig gemacht. Corbyn hatte im August in einem Interview sogar zugegeben, dass er in seiner Zeit als Labour-Parteichef im Voraus von der geplanten Politik der Herdenimmunität informiert wurde. Dennoch hat er niemanden vor dieser Politik des Massensterbens gewarnt.

Seither hat er nicht einmal die Wiederöffnung der Wirtschaft abgelehnt. Er und seine Verbündeten wie John McDonnell oder Dianne Abbott richten ihre ganze Energie darauf, Corbyns Suspendierung aus der Labour Party rückgängig zu machen. Sie appellieren an die Parteibasis, nicht aus einer Partei auszutreten, die sie als Antisemiten verunglimpft und mit Johnson zusammenarbeitet.

Ein politischer Bruch mit diesen Organisationen ist für die Arbeiterklasse eine Frage von Leben und Tod. In Griechenland, Polen und Frankreich kam es bereits zu spontanen Streiks von Schülern und Lehrern gegen die gefährliche Wiederöffnung der Schulen. Die gleiche Stimmung herrscht auch in Großbritannien, doch Arbeiter und Jugendliche müssen sich darüber bewusst werden, in welchem Kampf sie sich befinden.

Die enorme Herausforderung durch diese Pandemie kann nicht ohne einen Frontalangriff auf das kapitalistische Profitsystem und auf die Monopolisierung des gesellschaftlichen Vermögens durch die Superreichen bewältigt werden. Dieser Kampf ist ein internationaler, nicht nur gegen eine globale Pandemie, sondern gegen eine globale Wirtschaftsordnung. Er erfordert eine internationale Bewegung der Arbeiterklasse über alle künstlichen nationalen Grenzen hinweg und muss mit eigenen unabhängigen Organisationen durchgeführt werden.

Für dieses Programm kämpfen die Socialist Equality Party in Großbritannien und ihre Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale.

Am 27. Mai veröffentlichte die SEP eine Erklärung, in der sie zum Aufbau von Aktionskomitees, die von den Arbeitern selbst demokratisch kontrolliert werden müssen, in allen Fabriken, Büros und an sonstigen Arbeitsstätten aufrief. Diese Komitees sollten „die notwendigen Maßnahmen konzipieren, durchsetzen und deren Einhaltung kontrollieren, um die Gesundheit und das Leben von Arbeitern, ihren Familien und der Gesellschaft insgesamt zu schützen.“

Weiter erklärte die SEP: „Die Pandemie ist untrennbar mit dem Kampf der Arbeiter gegen die herrschende Klasse – die Wirtschafts- und Finanzoligarchie – und ihre Diktatur über das wirtschaftliche und politische Leben verbunden. Dieser Kampf ist daher gegen den Kapitalismus gerichtet und für Sozialismus, für die Umgestaltung der Gesellschaft nach sozialen Bedürfnissen statt privatem Profitstreben.“

Am 25. September veröffentlichten die britische SEP, die deutsche Sozialistische Gleichheitspartei, die französische Parti de l’égalité socialiste und die türkische Sosyalist Eşitlik eine gemeinsame Erklärung „Für einen Generalstreik! Stoppt die zweite Corona-Welle in Europa!“ Darin erklärten sie, die Aufgabe dieses Generalstreiks sei es, „die von der herrschenden Klasse in Jahren obszöner Rettungsaktionen gestohlenen Ressourcen zu beschlagnahmen, die EU-Regierungen und das kapitalistische System zu stürzen und die reaktionäre EU durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu ersetzen.“

Zehntausende von Menschenleben hängen davon ab, dass Arbeiter und Jugendliche diese Perspektive zu ihrer eigenen machen, für sie kämpfen und sich entschließen, der SEP beizutreten und das IKVI als neue sozialistische Führung der internationalen Arbeiterklasse aufzubauen.

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