Täglicher Anstieg der Toten in Italien und Spanien auf höchstem Stand seit September

Die Corona-Pandemie gerät immer mehr außer Kontrolle. Italien verzeichnete in den letzten Tagen die meisten Todesfälle in ganz Europa. Mit 731 Toten am Dienstag und weiteren 753 Toten am Mittwoch liegt die Zahl der Todesopfer auf dem höchsten Stand seit dem Höhepunkt der ersten Welle vom 21. bis zum 31. März.

Laut offiziellen Zahlen, die das Ausmaß der Pandemie nur unzureichend abbilden, forderte Covid-19 in Italien bislang 47.217 Tote. Innerhalb Europas hat nur Großbritannien mehr Todesopfer zu beklagen. Die Zahl der gemeldeten Infektionen liegt bei über 1,2 Millionen; der tägliche Anstieg erreichte am letzten Freitag den Rekordwert von 40.896 und lag seither im Schnitt bei über 30.000.

Auch Spanien verzeichnete mit 435 Toten den größten Anstieg der Todesopfer seit September. Am 21. Oktober überstieg die Gesamtzahl der Erkrankten die Millionengrenze, danach stieg sie innerhalb von nur zwanzig Tagen um 50 Prozent auf über 1,5 Millionen an.

Särge mit Leichen von Opfern des Coronavirus in der Leichenhalle Collserola in Barcelona vor der Bestattung (AP/Emilio Morenatti)

Laut offiziellen Zahlen starben in Spanien 41.668 Menschen durch Covid-19. Die tatsächliche Zahl ist allerdings deutlich höher. Die Zeitung El Diario veröffentlichte am Dienstag einen Bericht über den Anstieg der landesweiten Sterblichkeitsraten während der ersten zwei Wellen der Pandemie. Seit 1975 gab es in Spanien nie mehr als 12.000 Todesfälle innerhalb einer Woche. Vom 23. März bis zum 12. April starben indessen jede Woche mehr als 18.000 Menschen.

Allein von März bis April lag die Zahl der Todesfälle um 43.000 über dem historischen Durchschnitt. Seit September ist die Gesamtzahl der Todesfälle im Bereich der Übersterblichkeit um über 15.000 angestiegen. Die geschätzte Gesamtzahl der Todesopfer durch Covid-19 liegt damit bei über 58.000.

In Italien steht das Gesundheitssystem schon jetzt am Rande des Zusammenbruchs. Landesweit sind mehr als 42 Prozent der Intensivpatienten wegen Covid-19 in Behandlung. Einen Wert von 30 Prozent hatte die Regierung bereits als Notfallgrenzwert festgelegt, ab dem die Krankenhäuser überlastet wären.

Krankenwagen stehen Schlange, weil es zu wenige freie Betten gibt. In den sozialen Netzwerken kursiert das Video eines Pflegers des Krankenhauses San Giovanni Rotondo in der süditalienischen Provinz Foggia, auf dem zu sehen ist, dass mehr als sechs Krankenwagen darauf warten, ihre Patienten abzusetzen. Der Pfleger sagt in dem Video: „Es ist das totale Chaos.“

Während die Pandemie im März und April weitgehend auf die norditalienischen Regionen um die Lombardei begrenzt war, sind jetzt auch die Krankenhäuser im ärmeren Süden überlastet.

Am 11. November ging ein Video aus einem Badezimmer des Cardarelli-Krankenhauses in Neapel viral. Darin ist zu sehen, dass ein Mann unter dem Waschbecken im Badezimmer einer Krankenstation liegt. Der Benutzer der Kamera kommentiert: „Dieser Mann ist tot.“ Zu einem Patienten, der regungslos auf einem Bett liegt, sagt der Filmende: „Bei dem wissen wir nicht, ob er noch lebt.“

Der Chef der Abteilung für Infektionskrankheiten des Krankenhauses Cotugno in Neapel, Rodolgo Punzi, erklärte letzten Freitag gegenüber AP: „Derzeit haben wir in Cotugno keine freien Betten mehr.“ Pflegekräfte wurden dabei beobachtet, wie sie Patienten vor dem Krankenhaus in deren Autos mit Sauerstoff versorgen. Die Rennstrecke der Formel 1 in Monza wurde vom Militär in ein Behelfskrankenhaus umgewandelt.

Wie die italienische Regierung am Montag bekanntgab, hat sie Gino Strada beauftragt, die Maßnahmen gegen die Pandemie in Kalabrien zu organisieren. Strada ist Chirurg und Gründer der NGO Emergency, die zivile Kriegsopfer versorgt und u. a. an der Gründung von Krankenhäusern im Sudan und Afghanistan beteiligt war.

Der Gesundheitsbeauftragte von Kalabrien, Saverio Cotticelli, war am 7. November von seinem Posten zurückgetreten und räumte ein, dass die Region über keinen Notfallplan für Maßnahmen gegen das Coronavirus verfüge.

Kalabrien ist die ärmste Region Italiens. Die Arbeitslosenquote liegt bei 21 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 30 Prozent und damit doppelt so hoch wie im landesweiten Durchschnitt.

Forderungen von medizinischen Fachverbänden nach einem landesweiten Lockdown zur Eindämmung des Virus wies Ministerpräsident Giuseppe Conte mehrfach zurück.

Am Montag erklärte Massimo Galli, der Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten des Krankenhauses Sacco in Mailand, gegenüber dem Fernsehsender RAI: „Ich fürchte, es kann keinen Zweifel mehr daran geben, dass die Lage außer Kontrolle ist. Andere Krankheiten treten wegen Covid nicht einfach in den Streik. Wir müssen Organisation herstellen… andernfalls wird die Pandemie noch mehr Schaden anrichten als die schon jetzt sehr tragische Zahl von Todesopfern.“ Er erklärte, dass ein landesweiter vollständiger Lockdown notwendig sei.

Auch der Präsident des Dachverbands der italienischen Ärzteverbände, Filippo Anelli, forderte am gleichen Tag einen „vollständigen Lockdown“.

Er schrieb: „Die Situation ist dramatisch, deshalb müssen wir sofort eine komplette Schließung durchführen. ... Wir haben ein ziemlich kritisches Niveau erreicht, von überall werden Krankenwagen gemeldet, die vor den Notaufnahmen Schlange stehen. Die Zahl der Intensivpatienten steigt auf ein beträchtliches Niveau an.“

Gegenüber der Nachrichtenagentur Ansa erklärte Anelli: „Entweder wir stoppen das Virus, oder es wird uns stoppen, weil alles darauf hindeutet, dass das System es nicht durchhält. Selbst in den Regionen, die momentan noch ,gelb‘ sind, werden bald Bedingungen wie in den Regionen herrschen, die am schlimmsten betroffen sind.“

Diese Appelle wies Ministerpräsident Giuseppe Conte am Mittwoch zurück und erklärte in einem Interview mit La Stampa: „Ein allgemeiner Lockdown sollte nicht die erste Wahl sein – die Kosten wären zu hoch.“

Für die italienische und europäische herrschende Klasse haben die „Kosten“ eines Lockdowns – d. h. die möglichen Auswirkungen auf die Profite der Unternehmen – absoluten und bedingungslosen Vorrang vor dem Leben von Zehntausenden Menschen, deren Tod in Folge der weiteren Ausbreitung des Virus durch einen Lockdown zu verhindern wäre. Das derzeitige Wiederaufleben der Pandemie in Europa war nicht unvermeidlich, sondern ist das Ergebnis der Politik, die von den Regierungen in Italien und in Europa insgesamt verfolgt wird.

Sie haben neue Lockdowns abgelehnt, die Wirtschaft bewusst geöffnet, Millionen Arbeiter zurück an die Arbeit gezwungen und damit für die Ausbreitung des Virus gesorgt.

Wie in anderen europäischen Ländern und in den USA hat auch die Conte-Regierung in Italien den Unterricht an Grundschulen fortgesetzt, damit die Eltern der Schüler weiterarbeiten können. Nicht lebenswichtige Bereiche, abgesehen von Restaurants und einigen kleineren Läden in bestimmten Regionen, bleiben ebenfalls geöffnet.

Über die hohe Zahl von Todesopfern hinaus, hat die Pandemie zudem enormes soziales Elend ausgelöst und die bestehende soziale Krise verschärft. Während die italienischen Konzerne mit hunderten Milliarden Euro gestützt wurden, hat sich die Conte-Regierung geweigert, grundlegende Unterstützungsmaßnahmen für Arbeiter zu finanzieren, die von den Folgen des Lockdowns betroffen sind.

Valeria Leonardi von dem Nachbarschaftskomitee SOS Ballaro aus Palermo erklärte am Dienstag gegenüber der Financial Times, der Lockdown von März bis April war „eine Katastrophe für viele Menschen, die sich bereits in einer prekären Situation befanden, oft ohne geregelte Arbeitsverträge und außerhalb des institutionellen Sicherheitsnetzes arbeiten mussten und dann über Nacht ohne Einkommen dastanden.“

Loading