Perspektive

200 Jahre seit Engels’ Geburt

Am 28. November 1820 wurde Friedrich Engels geboren, der zusammen mit seinem zweieinhalb Jahre älteren Freund Karl Marx den wissenschaftlichen Sozialismus begründete. 200 Jahre danach ist ihr Lebenswerk von brennender Aktualität. Sie waren weitsichtiger als die unzähligen Akademiker, deren Bemühungen, den Marxismus zu widerlegen, ganze Bibliotheken füllen.

Friedrich Engels 1891

Finanzmärkte, die völlig außer Kontrolle sind; Handelskriege, die in einen dritten Weltkrieg umzuschlagen drohen; fortwährende Zerstörung ganzer Weltregionen durch neokoloniale Kriege; Zerfall der Demokratie im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA; eine sich anbahnende Umweltkatastrophe; der vermeidbare Tod Hunderttausender als Folge der Corona-Pandemie; ein Ausmaß der sozialen Ungleichheit, bei dem 26 reiche Individuen gleich viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – all dies bestätigt, dass „die moderne bürgerliche Gesellschaft“ einem Hexenmeister gleicht, „der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor“, wie es Marx und Engels 1848 im Kommunistischen Manifest formulierten.

Marx und Engels haben es nicht dabei belassen, die Widersprüche des Kapitalismus zu analysieren und dessen Zusammenbruch vorauszusagen. Sie waren beide Revolutionäre. Man kann ihre theoretische Arbeit nicht verstehen, wenn man sie von ihrer politischen und revolutionären Tätigkeit trennt. Was sie von allen bisherigen Sozialisten, kleinbürgerlichen Demokraten und sonstigen Kritikern der politischen Verhältnisse unterschied, war die Einsicht, dass nur die Machteroberung der Arbeiterklasse, der einzig „wirklich revolutionären Klasse“ in der kapitalistischen Gesellschaft, den Rückfall in die Barbarei verhindern, die Klassenspaltung der Gesellschaft aufheben und die Grundlage für einen gewaltigen Fortschritt der menschlichen Zivilisation und Kultur legen kann.

Engels betonte dies, als er 1883 am Grab seines verstorbenen Freundes sprach:

Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewusstsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige.[1]

Dasselbe gilt auch für Engels selbst. 1935, vierzig Jahre nach seinem Tod, portraitierte ihn Leo Trotzki in einem brillanten Essay und verglich ihn mit Karl Kautsky, der in London mehrere Jahre lang mit Engels zusammengearbeitet hatte, nach dessen Tod zum führenden marxistischen Theoretiker der Zweiten Internationale aufstieg und sich schließlich zum erbitterten Gegner der russischen Oktoberrevolution wandelte.

In Kautsky, so Trotzki, habe Engels schon damals den Wiener Kleinbürger erahnt, „selbstzufrieden, egoistisch und konservativ“. Er habe Kautsky und Eduard Bernstein, der ebenfalls in London weilte, zwar dabei unterstützt, „sich die Marxsche Methode anzueignen. Doch er konnte in ihnen weder die revolutionäre Willenskraft noch die Fähigkeit zu kühnem Denken entfachen. Die Schüler waren und blieben Kinder einer anderen Geisteshaltung.“ Kautsky sei es während seines gesamten Lebens gelungen, „all jene Schlussfolgerungen zu umschiffen, die seinen geistigen und physischen Frieden zu stören drohten. Er war kein Revolutionär, und das erwies sich als eine unüberwindbare Barriere, die ihn vom Roten General [Engels] trennte.“ [2]

Engels Beitrag zum Marxismus

Engels als junger Mann

Engels Beitrag zur Entwicklung des Marxismus wird oft unterschätzt. Er selbst hat zwar neidlos zugegeben, dass er zu Marx‘ Lebzeiten die zweite Violine spielte. Man muss aber hinzufügen, dass er diese ebenso meisterhaft beherrschte, wie Marx die erste, und dass sie sich im Zusammenspiel gegenseitig zu immer neuen Höchstleistungen antrieben.

Es sei unmöglich, „in der Geschichte einen vergleichbaren Fall zu finden, wo zwei Männer von so kraftvollem Temperament und eigenständigem ideologischen Denken wie Marx und Engels ihr ganzes Leben lang durch die Entwicklung ihrer Ideen, ihre soziale Aktivität und persönliche Freundschaft so untrennbar miteinander verbunden blieben“, bemerkt Trotzki. Die Zusammenarbeit der beiden Freunde sei so tiefgehend gewesen, „dass es unmöglich ist, eine Trennlinie zwischen ihren Werken zu ziehen. Aber unendlich wichtiger als das rein literarische Zusammenwirken war die geistige Verbundenheit, die zwischen den beiden existierte und die niemals zerbrach. … Über vier Jahrzehnte stärkten sich Marx und Engels so in ihrem ununterbrochenen Kampf gegen die offizielle Wissenschaft und den traditionellen Aberglauben gegenseitig den Rücken. Die öffentliche Meinung hatten sie dabei stets gegen sich.“ [3]

Einen wichtigen Beitrag zur gemeinsamen Weltanschauung leistete Engels insbesondere auf dem Gebiet der politischen Ökonomie und des Verständnisses der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse. Aufgrund seiner familiären Herkunft, seiner über 30-jährigen kaufmännischen Tätigkeit sowie seiner gründlichen Kenntnis der Arbeiterbewegung im industriell fortgeschrittenen England besaß er hier Kenntnisse aus erster Hand. Außerdem verfügte er über ein enzyklopädisches Wissen – er beherrschte aktiv oder passiv mehr als zwei Dutzend Sprachen und „sein Wissen auf den Gebieten der Philosophie, der Ökonomie, der Geschichte, der Physik, der Philologie und der Militärwissenschaften hätten für ein gutes Dutzend ordentlicher und außerordentlicher Professuren gereicht“, wie Trotzki bemerkte. [4]

Engels kam als ältestes von neun Kindern eines Textilunternehmers in Barmen, heute ein Stadtteil Wuppertals, zur Welt. Er besuchte das Gymnasium, musste aber die Schule ein Jahr vor dem Abitur auf Druck seines Vaters abbrechen und eine Kaufmannsausbildung im väterlichen Unternehmen beginnen. Ab Sommer 1838 setzte er die Ausbildung für drei Jahre im weltoffenen Bremen fort, wo auch seine erste publizistische Tätigkeit begann. Im linksliberalen Telegraph für Deutschland erschienen unter einem Pseudonym die „Briefe aus dem Wuppertal“, in denen Engels mit dem bigotten Pietismus seiner Heimat und seines Elternhauses abrechnet und eindringlich das soziale Elend der Industriearbeiter schildert.

Kurz vor seinem 21. Geburtstag ging Engels dann für ein Jahr nach Berlin, wo er offiziell seinen Militärdienst ableistete, vor allem aber ein intensives Studium der Philosophie aufnahm und in engen Kontakt zu den Junghegelianern trat. Seine publizistische Tätigkeit setzte er fort. Unter anderem schrieb er für die von Karl Marx redigierte Rheinische Zeitung, hatte aber, abgesehen von einer flüchtigen Begegnung, keinen persönlichen Kontakt zu Marx. Auch auf philosophischem Gebiet tat sich der junge Engels hervor. Er veröffentlichte anonym zwei glanzvolle, polemische Streitschriften gegen den Irrationalismus Schellings, der den Lehrstuhl Hegels an der Berliner Universität übernommen hatte, und erregte damit gewaltiges Aufsehen.

Ende 1842 ging Engels ins väterliche Unternehmen nach Manchester. Er nutzte seinen Aufenthalt, um sich mit der klassischen Ökonomie auseinanderzusetzen, die Lage der Arbeiterklasse zu studieren und in engen Kontakt zur britischen Arbeiterbewegung zu treten. Aus dieser Zeit stammt auch seine Liebe zu Mary Burns, einer irischen Arbeiterin, die bis zu ihrem frühen Tod 1863 seine Lebenspartnerin blieb.

Wenige Monate vor Engels Ankunft hatte die Bewegung der Chartisten ihren Gipfelpunkt erreicht. Sie war mit 70.000 Mitgliedern die erste politische Massenbewegung der Arbeiterklasse auf der Welt. Die Chartisten hatten 3,3 Millionen Unterschriften für eine Petition ans Unterhaus gesammelt, die das allgemeine Wahlrecht für Männer ab 21 Jahren sowie eine Reihe von Sozialreformen forderte. Die Ablehnung der Petition durch das Unterhaus löste eine Welle von Streiks aus, die brutal niedergeschlagen wurden. Engels freundete sich mit dem linken Chartistenführer Julian Harney an und schrieb für dessen Zeitung Northern Star. Auch mit den Anhängern des utopischen Sozialisten Robert Owen stand er in Kontakt.

Anfang 1844 veröffentlichte der 23-jährige Engels dann den Artikel „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, der Marx tief beeindruckte. Es war der erste Versuch, den Sozialismus nicht auf moralische oder ethische Postulate, sondern auf die politische Ökonomie zu begründen. Engels untersuchte darin „vom sozialistischen Standpunkt aus die grundlegenden Erscheinungen der modernen Wirtschaftsordnung als zwangsläufige Folgen der Herrschaft des Privateigentums“, wie Lenin in einem Nachruf auf Engels schrieb. [5]

Ein Jahr später fasste Engels seine Beobachtungen in England in der Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ zusammen, auf die Marx später im Kapital zurückgriff. Er stellt darin das Proletariat nicht nur als leidende, sondern auch als kämpfende Klasse dar, als Trägerin der sozialistischen Revolution.

Engels „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ erschienen in der ersten – und einzigen – Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher, die Karl Marx und Arnold Ruge in Paris geründet hatten, nachdem sie vor der preußischen Reaktion hatten fliehen müssen. Marx veröffentlichte im selben Heft den Artikel „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, einen Meilenstein seines Bruchs mit dem Hegelschen Idealismus.

Zusammenarbeit von Marx und Engels

Marx und Engels bei ihrem ersten Zusammentreffen in Paris. Filmszene aus "Der junge Marx" (Bild: Kris Dewitte, Neue Visionen Filmverleih)

Nun begann die enge Zusammenarbeit von Marx und Engels, die bis zu Marx‘ Tod 39 Jahre später andauerte. Auf der Rückreise von Manchester traf sich Engels für zehn Tage mit Marx in Paris zu einer intensiven Diskussion, in der sie in allen wichtigen Fragen Übereinstimmung feststellten. Ein Ergebnis dieser Diskussion war „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“, eine scharfe Abrechnung mit den Junghegelianern, die im Frühjahr 1845 unter beider Namen erschien.

Die Junghegelianer, die sich ungeheuer revolutionär gebärdeten, vertraten eine Kritik, die über den Klassen und Parteien stand, jede praktische Tätigkeit verneinte und die Arbeiterklasse als unkritische Masse verachtete. Sowohl der Anarchismus wie die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule sollten sich später auf sie berufen. Ihre „Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen“, höhnten Marx und Engels. Sie seien „trotz ihrer angeblich ‚welterschütternden‘ Phrasen die größten Konservativen“. Sie vergäßen, „dass sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen“. [6]

Dieses Zitat stammt aus „Die deutsche Ideologie“, einem umfangreichen Werk, das Marx und Engels im Winter 1845/46 gemeinsam in Brüssel verfassten, wo Engels mittlerweile hingezogen war. Es setzt die Kritik an den Junghegelianern fort und dehnt sie auf Ludwig Feuerbach aus. Feuerbach hatte Hegels objektiven Idealismus erstmals von einem materialistischen Standpunkt aus kritisiert und damit starken Einfluss auf Marx und Engels ausgeübt. Doch sein Materialismus schloss die menschliche Praxis aus und blieb deshalb kontemplativ, passiv und ahistorisch.

In der „Deutschen Ideologie“ arbeiteten Marx und Engels die materialistische Geschichtsauffassung, die ihren späteren Meisterwerken zugrunde liegt, in ihren wesentlichen Grundzügen aus. Diese Geschichtsauffassung beruhe darauf, schrieben sie,

den wirklichen Produktionsprozess, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln, … die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen [und sämtliche] theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewusstseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären…

[Die materialistische Geschichtsauffassung] erklärt nicht die Praxis aus der Idee, [sondern] erklärt die Ideenformationen aus der materiellen Praxis und kommt demgemäß auch zu dem Resultat, dass alle Formen und Produkte des Bewusstseins nicht durch geistige Kritik, … sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen diese idealistischen Flausen hervorgegangen sind, aufgelöst werden können – dass nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte auch der Religion, Philosophie und sonstigen Theorie ist.

Eine Revolution tritt dann ein, wenn die „materiellen Elemente“ stark genug sind –

nämlich einerseits die vorhandnen Produktivkräfte, andrerseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige ‚Lebensproduktion‘ selbst, die ‚Gesamttätigkeit‘, worauf sie basierte, revolutioniert. [7]

Es gelang Marx und Engels nicht, „Die deutsche Ideologie“ zu veröffentlichen, das Werk erschien erst 1932 in vollem Umfang. Doch sie hatten ihr wichtigstes Ziel erreicht: Selbstverständigung. Aus der Arbeit an der „Deutschen Ideologie“ ging das großartigste politische Programm hervor, dass jemals geschrieben wurde, „Das Manifest der Kommunistischen Partei“. 1847 schlossen sich Marx und Engels dem Bund der Gerechten an, einer internationalen sozialistischen Organisation, in der viele deutsche Exilanten tätig waren. Der Bund hatte sie dazu eingeladen und änderte seinen Namen auf ihren Wunsch in Bund der Kommunisten. In seinem Auftrag verfassten Marx und Engels das Manifest.

Es fällt schwer, dieser Schrift, die bis heute durch ihre Klarheit, ihre Weitsicht und ihre Kühnheit besticht, in wenigen Sätzen gerecht zu werden. Marx und Engels skizzieren darin mit wenigen Pinselstrichen die dynamische Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die alle regionalen und nationalen Grenzen sprengt, den Klassengegensatz auf die Spitze treibt und schließlich die heraufbeschworenen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag. Die Bourgeoisie hat „nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier“, schreiben sie.

Es folgt ein revolutionäres, sozialistisches Programm, das in seinen Grundzügen bis heute Bestand hat. Im Zentrum stehen die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und ihr internationaler Charakter. Das Manifest enthält eine scharfe Kritik aller bisherigen – utopischen, kleinbürgerlichen und bürgerlichen – Formen des Sozialismus und definiert die Aufgaben in der sich anbahnenden demokratischen Revolution. Es endet mit dem berühmten Satz: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Revolution von 1848

Letzte Ausgabe der Neuen Rheinischen Zeitung, gedruckt in roter Farbe mit einem Abschiedswort des Dichters Freiligrath

Das „Kommunistische Manifest“ erschien am 21. Februar 1848 in London. Drei Tage später stürzte in Frankreich ein revolutionärer Aufstand die Monarchie. Im März griff die Revolution auf Deutschland über und dehnte sich auf ganz Europa aus. Die feudalen Machthaber der deutschen Staaten mussten reihenweise abdanken oder Parlamente und Verfassungen zulassen. Ab Mai tagte in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung, die eine Verfassung für ein vereintes Deutschland ausarbeiten sollte.

Marx und Engels zögerten keine Sekunde, sich an der Revolution zu beteiligen. Anknüpfend an die Rheinische Zeitung, die 1843 verboten worden war, gründeten sie in Köln die Neue Rheinische Zeitung, die vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai 1849 in insgesamt 301 Ausgaben erschien und eine für die damalige Zeit hohe Auflage von 6000 Exemplaren erreichte. Sie verstand sich als linker Flügel des demokratischen Lagers und sah ihre Aufgabe darin, die bürgerliche Revolution voranzutreiben, die – wie es im „Kommunistischen Manifest“ hieß – „nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann“.

Die Arbeit, die Marx und Engels leisteten, um mit den damaligen primitiven technischen Mitteln eine Tageszeitung herauszugeben, ist nahezu unvorstellbar. Engels reiste durch das ganze Land, um Gelder und Abonnenten zu werben, und steuerte gleichzeitig zahlreiche Artikel bei. Marx war als Chefredakteur treibende Kraft der Redaktion. Geldsorgen überschatteten das Projekt von Anfang an – insbesondere nachdem Engels in der ersten Ausgabe die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, die sich über die Tagesordnung stritten und auf die strikte Einhaltung der Essenspausen achteten, während im benachbarten Wiesbaden revolutionäre Kämpfer preußischen Kugeln zum Opfer fielen, heftig gegeißelt hatte.

Doch die NRZ schwächte ihre Kritik an den bürgerlichen Liberalen, die sich bald mit der feudalen Reaktion gegen die Revolution verbündeten, und den kleinbürgerlichen Demokraten nicht ab. Später fasste Engels die Erfahrungen dieser Zeit in dem Buch „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ zusammen, das urspünglich als Serie in der New-York Daily Tribune erschien. Es bleibt bis heute eine der besten Darstellungen der 48er Revolution. Engels prägt darin ein Urteil über die Frankfurter Nationalversammlung, dass das deutsche „demokratische“ Kleinbürgertum seither immer wieder bestätigt hat:

Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen. [8]

Im März 1850 fassten Marx und Engels die politischen Lehren aus der Niederlage der 48er Revolution in einer „Ansprache der Zentralbehörde“ an den Bund der Kommunisten zusammen, die maßgeblichen Einfluss auf Trotzkis Theorie der permanenten Revolution haben sollte. Sie beharrten auf der vollständigen politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von den kleinbürgerlichen Demokraten:

Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird. … [Die Arbeiter dagegen müssen] sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen. Ihr Schlachtruf muss sein: Die Revolution in Permanenz. [9]

London und Manchester

Marx und Engels (im Hintergrund) auf dem Haager Kongress der Ersten Internationale 1872

Nach dem Verbot der NRZ gingen Marx und seine Familie ins Londoner Exil. Engels schloss sich revolutionären badischen Truppen an, die gegen die vorrückende preußische Armee kämpften. Als Adjudant von August Willich, der später als General der Nordstaaten am amerikanischen Bürgerkrieg teilnahm, erlebte er drei Schlachten. Danach ging auch er über die Schweiz und Italien nach London.

Das erste Jahrzehnt des Exils war von schweren Geldsorgen geprägt. Marx und Engels waren nicht bereit, ihren Frieden mit den Demokraten zu machen, die die Revolution ausverkauft hatten und sich nun im Londoner Exil als Helden feiern ließen. Engels nahm die Arbeit als kaufmännischer Angestellter in der väterlichen Fabrik in Manchester wieder auf, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren und Marx zu unterstützen, dem er dadurch die Konzentration auf die Arbeit am „Kapital“ ermöglichte. Anfangs war das Gehalt bescheiden, doch später wurde er Teilhaber der Firma. 1870 konnte er seinen Anteil zu einem Preis verkaufen, der ihm ein sorgenfreies Leben und die Unterstützung von Marx und seiner Familie ermöglichte. Auch nach Marx‘ Tod half er weiterhin dessen Töchtern, denen er auch einen Großteil seines Vermögens vererbte.

20 Jahre lang lebten Marx und Engels in verschiedenen Städten. Doch sie unterhielten einen nahezu täglichen, brieflichen Gedankenaustausch, mit dem sie ihre intensive theoretische und politische Zusammenarbeit fortsetzten. Marx erarbeitete sein Hauptwerk, das „Kapital“, in enger Zusammenarbeit mit Engels, den er immer wieder wegen seines Fachwissens um Rat fragte. Ohne die uneingeschränkte Freundschaft und Unterstützung seines Freundes hätte Marx sein welthistorisches Werk niemals vollbringen können.

Der erste Band von „Das Kapital“ erschien 1867. Der zweite und der dritte Band waren unfertig, als Marx 1883 starb. Engels übernahm die Aufgabe, sie zu vollenden und herauszugeben. Trotzki beschreibt, wie penibel und sorgfältig er dabei arbeitete:

Engels beschränkte sich nicht darauf, die Manuskripte für den zweiten und dritten Band vom Kapital zu entziffern, feinzuschleifen, zu transkribieren, Korrektur zu lesen und mit Kommentaren zu versehen, sondern wachte mit Argusaugen über Marx‘ Erbe und verteidigte es gegen feindliche Angriffe. [10]

Auch über die weltpolitischen Ereignisse ihrer Zeit führten Marx und Engels eine intensive und manchmal auch kontroverse Diskussion – über den amerikanischen Bürgerkrieg, den Krimkrieg, den polnischen Aufstand von 1863 und vieles mehr. Sie schrieben darüber in internationalen Publikationen; teilweise nahm Engels Marx die Arbeit ab und verfasste Artikel, die dann in seinem Namen erschienen.

Gleichzeitig wurden sie, sobald es die Umstände erlaubten, wieder politisch aktiv. Nach einer Phase der Reaktion in den 1850er Jahren schwoll die Arbeiterbewegung seit Anfang der 1860er Jahre wieder stark an. 1864 wurde die Erste Internationale, die Internationalen Arbeiterassoziation gegründet, deren Kopf Karl Marx war. Es war der erste systematische Versuch, die Arbeiterbewegung auf einer einheitlichen, sozialistischen Perspektive aufzubauen, die Marx enorm in Anspruch nahm.

Trotz seiner zeitraubenden beruflichen, journalistischen und politischen Tätigkeit fand Engels in Manchester die Zeit, sich weiterzubilden. Er erweiterte und vervollkommnete seine Sprachkenntnisse, entwickelte sich zu einem auch in bürgerlichen Kreisen respektierten Militärwissenschaftler, was ihm den Spitznamen „General“ einbrachte, und befasste sich intensiv mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften.

Engels Rolle nach Marx‘ Tod

Clara Zetkin (3.v.l.), Friedrich Engels, Julie Bebel und August Bebel während des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses in Zürich 1893

Am 14. März 1883 starb Karl Marx. Engels überlebte ihn um zwölf Jahre. In dieser Zeit vollendete er nicht nur den zweiten und dritten Band des Kapitals, sondern leistete auch einen entscheidenden, kreativen Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus und spielte eine zentrale Rolle in der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung, die sich rasant entwickelte.

Schon in den 1870er Jahren, als Marx‘ Schaffenskraft aufgrund zunehmender Krankheit merklich nachließ, wuchs Engels Beitrag zur gemeinsamen Arbeit sowohl auf theoretischem, politischem und organisatorischem Gebiet. Spielte Marx die „erste Violine“ bei der Ausarbeitung der historisch materialistischen Weltanschauung, so übernahm Engels diese Aufgabe beim Aufbau von Massenparteien der Arbeiterklasse, der neue Herausforderungen mit sich brachte.

Bereits nach seiner Rückkehr aus Manchester war Engels Mitglied des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation geworden. Er war korrespondierender Sekretär für Belgien, Spanien und Italien. Auch mit Russland befassten sich sowohl Marx wie Engels, die beide die russische Sprache beherrschten.

Die Internationale Arbeiterassoziation geriet nach dem deutsch-französischen Krieg und der Niederlage der Pariser Kommune 1871 in die Krise und wurde schließlich aufgelöst. Doch die sozialistische Arbeiterbewegung begann bald wieder stark zu wachsen. Am 14. August 1889, dem hundertsten Jahrestag der französischen Revolution, wurde in Paris auf Engels‘ Initiative die Zweite Internationale gegründet. Rund 300 Organisationen und Parteien aus 20 Staaten waren vertreten. Engels stand in engem Kontakt mit den Führern insbesondere der deutschen Sozialdemokratie, die regelmäßig bei ihm Rat suchten.

Karl Kautsky hat beschrieben, welch herausragende Rolle Marx und Engels in der Ersten und Engels in der Zweiten Internationale spielten:

Niemand besaß in größerem Maße das Vertrauen der einsichtigen sozialistischen Elemente aller Länder; kein Wunder, dass diese in kritischen Momenten sich stets gern an die beiden Veteranen in London um Rat gewendet haben. Und nie haben ihn diese verweigert. Sie sprachen frank und frei ihre Überzeugung aus, ohne Rückhalt, aber auch ohne sich aufdrängen zu wollen. Kein Proletarier, keiner, dem es um die Sache der Proletarier ernst war, hat sich je vergebens an die beiden gewendet. Zahllose Briefe in verschiedenen Sprachen legen Zeugnis ab von ihrer unermüdlichen Tätigkeit als Berater des internationalen Proletariats. [11]

Das ungeheure Korrespondenzpensum, das Engels dabei erledigte, lässt sich an der Marx-Engels-Gesamtausgabe ermessen. Die gesamte Korrespondenz von Marx und Engels füllt darin 35 Bände von jeweils 1300 bis 1500 Seiten, von denen bisher 13 im Druck erschienen sind. Allein die Korrespondenz nach Marx‘ Tod, die Engels alleine erledigte, umfasst zehn Bände.

Neben der internationalen politischen Arbeit, der Verwaltung von Marx‘ Nachlass und der Fertigstellung der letzten beiden Bände des Kapitals – was alles für sich genommen die Arbeitskraft mehrerer Menschen erfordert hätten –, verfasste Engels eine Reihe bedeutsamer Werke, die den Triumph des Marxismus als theoretische und politische Grundlage der sozialistischen Weltbewegung sicherten. Sie wurden in Massenauflagen gedruckt, in mehrere Sprachen übersetzt und ermöglichten Hunderttausenden Arbeitern auf der ganzen Welt den Zugang zum Marxismus.

Engels meisterhafte Beherrschung der Sprache, seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen, sein enzyklopädisches Wissen und sein Humor, der selbst bei den ernstesten Themen durchscheint, machen die Lektüre seiner Schriften bis heute zu einem Genuss. Das gilt nicht nur für die marxistischen Klassiker, sondern auch für seine zahlreichen zeitaktuellen Artikel und Beiträge. Hier bewies er ein Ausmaß an politischem Scharfsinn und Weitblick, wie es außer Marx vielleicht nur noch Leo Trotzki eigen war.

So sah Engels im Dezember 1887, als sich die kapitalistische Wirtschaft im scheinbar unaufhaltsamen Aufschwung befand und sich in der Sozialdemokratie die ersten reformistischen Illusionen breit machten, mit erstaunlicher Präzision den Ersten Weltkrieg voraus. Er warnte im Vorwort zu einer antimilitaristischen Broschüre:

Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt. [12]

Allein diese Zeilen machen deutlich, wie absurd die Behauptung ist, Engels habe sich angesichts der organisatorischen Erfolge der SPD am Ende seines Lebens in einen Reformisten verwandelt.

Noch zu Marx Lebzeiten – und in enger Zusammenarbeit mit diesem – veröffentlichte Engels eine Reihe grundlegender theoretischer Schriften. Sie stellten nicht nur die gemeinsam erarbeitete Weltanschauung in einer systematischen und zusammenhängenden Weise dar, sondern entwickelten diese auch weiter. Insbesondere Engels gründliche Kenntnis der Naturwissenschaften, die im 19. Jahrhundert gewaltige Fortschritte machte, spielte dabei eine zentrale Rolle. Wie später auch Lenin verstand Engels, dass der philosophische Materialismus nicht verteidigt und weiterentwickelt werden kann, wenn er nicht ständig die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaft berücksichtigt.

1877/78 erschien, zuerst als Artikelserie im SPD-Zentralorgan Vorwärts, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“. Ursprünglich als Polemik gegen den theoretischen Scharlatan und späteren Begründer des rassistischen Antisemitismus Eugen Dühring konzipiert, dessen als ultimative Wahrheit verkündetes „System“ der Philosophie und Wissenschaft in der SPD viel Verwirrung stiftete, entwickelte sich der „Anti-Dühring“ zu einer umfassenden Darstellung der marxistischen Auffassung von Philosophie, Natur- und Gesellschaftswissenschaft. „Die negative Kritik wurde damit positiv,“ schreibt Engels. „Die Polemik schlug um in eine mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretenen dialektischen Methode und der kommunistischen Weltanschauung, und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten.“ [13]

Der „Anti-Dühring“, in dem Engels sämtliche Auffassungen über die Dialektik der Natur und den historischen und dialektischen Materialismus darlegt, die er in späteren Schriften vertiefen sollte, entstand in engster Absprache mit Marx. „Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (‚Aus der „Kritischen Geschichte“‘) ist von Marx geschrieben,“ berichtet Engels. [14] Spätere Vorwürfe, sie stellten eine „positivistische“ Vulgarisierung von Marx‘ Auffassungen dar, sind also völlig aus der Luft gegriffen.

Aufbauend auf den „Anti-Dühring“ veröffentlichte Engels 1880 „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus, zu der Marx ein Vorwort verfasste und die in unzähligen Auflagen in mehreren Sprachen erschein.

Auch zentrale Kapitel aus der „Dialektik der Natur“, ein Buch, das unvollendet blieb und erst nach Engels Tod erschien, waren bereits in den 1870er Jahren entstanden. Engels weist darin im Einzelnen nach, dass sich die Dialektik nicht auf das Denken beschränkt. Die Natur sei „die Probe auf die Dialektik“, welche „die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehen und Vergehen auffasst“. Die moderne Naturwissenschaft habe „für diese Probe ein äußerst reichliches, sich täglich häufendes Material, geliefert und damit bewiesen, dass es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht“. [15]

Nach Marx Tod veröffentlichte Engels dann eine Reihe weiterer bedeutender Werke, die die gemeinsame Weltanschauung theoretisch vertiefen. 1884 erschien „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, das gestützt auf neuere Forschungen die Rolle von Staat, Eigentum und Familie in frühere Kulturstufen zurückverfolgt und so historisch relativiert. Die Schrift übte maßgeblichen Einfluss auf Lenins am Vorabend der Oktoberrevolution verfasstes Werk „Staat und Revolution“ aus.

„Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ (1888) ist eine geniale Zusammenfassung der Philosophiegeschichte, deren Unterteilung der Philosophen in zwei große Lager – Idealisten, „die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten“, und Materialisten, „die die Natur als das Ursprüngliche ansahen“ – bis heute einen Schlüssel zum Verständnis und zur Einordnung der verschiedenen philosophischen Schulen liefert.

Neben diesen grundlegenden theoretischen Werken verfasste Engels zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der marxistischen Bewegung („Marx und die Neue Rheinische Zeitung“, „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten“), biografische Studien (über den Dichter Georg Weerth und den Arbeiterführer Johann Philipp Becker), bedeutende Vorworte zur Neuauflage marxistischer Schriften und Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen.

Engels starb am 5. August 1895 in London im Alter von 74 Jahren.

Der Versuch, Engels gegen Marx auszuspielen

Fotografie von Engels 1891

Lange Zeit galt es als selbstverständlich, dass Marx und Engels – in den Worten von Marx‘ Tochter Eleanor – „so eng miteinander verbunden waren, dass man sie unmöglich voneinander trennen kann“. Doch in den vergangenen sechs Jahrzehnten hat sich in akademischen Kreisen ein regelrechter Wettbewerb entwickelt, einen Keil zwischen die beiden zu treiben.

All diesen Bemühungen ist gemein, dass sie Engels eine „positivistische“ Vulgarisierung des Marxismus vorwerfen. Durch seine Identifikation des Marxismus mit dem Materialismus habe er sich von dem philosophischen Humanismus abgewandt, den Marx in seinen Frühschriften vertreten habe. Während sich für Marx die Dialektik nur im Zusammenspiel von sozialer Praxis und menschlichem Denken manifestiere, habe Engels die Dialektik fälschlicherweise in Materie und Natur verwurzelt.

Inhaltlich lassen sich diese Standpunkte leicht widerlegen. Sowohl Marx‘ und Engels‘ lebenslange Zusammenarbeit wie die Tatsache, dass Engels – wie wir gezeigt haben – sein Verständnis der Dialektik der Natur und des Materialismus in enger Absprache mit Marx entwickelte, beweisen das Gegenteil. Doch Engels‘ Gegnern geht es nicht um historische Fakten. Der Angriff auf Engels und den Materialismus ist ein Versuch, den „Marxismus“ von der Arbeiterklasse und vom Aufbau einer revolutionären Partei für den Sturz des Kapitalismus zu trennen.

George Lukács und Karl Korsch hatten bereits in den 1920er Jahren solche Auffassungen vertreten. Die Frankfurter Schule trieb sie dann auf die Spitze. Max Horkheimer und Theodor Adorno lehnten am Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer maßgeblichen Schrift „Dialektik der Aufklärung“ das historisch materialistische Verständnis der Gesellschaft und mit ihm die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse explizit ab.

Sie erklärten, der Fortschritt der Produktivkräfte leite keine Epoche der sozialen Revolution ein, sie bilde nicht die Grundlage für eine höhere, sozialistische Gesellschaftsform, sondern führe zur Verdummung der Massen, zum Niedergang der Kultur und schließlich zum Rückfall der Gesellschaft in die Barbarei: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression. … Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft.“

Die Frankfurter Schule verwandelte, wie David North schreibt, „den Marxismus aus einer theoretischen und politischen Waffe des proletarischen Klassenkampfs, den Horkheimer, Adorno und Marcuse ablehnten, in eine gesellschaftlich undifferenzierte Form der Kulturkritik, die den politischen Pessimismus, die gesellschaftliche Entfremdung und die persönliche und psychologische Frustration von Teilen der Mittelklasse zum Ausdruck brachte.“ [16]

In den 1960er Jahren, als sich die Arbeiterklasse und die Jugend weltweit radikalisierten, häuften sich die Angriffe auf Engels. 1961 veröffentlichte George Lichtheim sein einflussreiches Buch „Marxism: An Historical and Critical Study“. Es stellte Engels als einfältigen Deterministen und Positivisten dar, während Marx in seinen Schriften von 1843 bis 1848 eine „komplexe Dialektik der Existenz und des Wesens, der Wirklichkeit und der ‚Entfremdung‘“ entwickelt habe. [17]

Ein Jahr später erschien „Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx“ des Adorno- und Habermas-Schülers Alfred Schmidt, der ähnliche Thesen vertrat. Sie spielten eine wichtige Rolle dabei, die Protestbewegung der Jugend von der Arbeiterklasse zu spalten. In den folgenden Jahren gewannen solche Positionen im „linken“ akademischen Milieu die Oberhand und mischten sich mit den reaktionären, irrationalistischen Konzeptionen der Postmoderne.

Lichtheim vertrat die Auffassung, dass eine direkte Linie von Engels über Kautsky, Plechanow und Lenin zur stalinistischen Diktatur in der Sowjetunion führe. Sie alle hätten, ungeachtet bestehender Differenzen, einen „gemeinsamen Glauben an den ‚dialektischen Materialismus‘ als universelle ‚Wissenschaft‘“ geteilt, der „zum Eckpfeiler des sowjetischen marxistischen Bauwerks“ wurde. [18]

Die Absurdität dieser Behauptung ist offensichtlich. Erstens beruhte die stalinistische Diktatur nicht auf dem Marxismus, sondern auf der Unterdrückung und Ermordung zehntausender revolutionärer Marxisten, die 1937/38 im Großen Terror gipfelten. Zweitens waren die einzigen, die den Stalinismus seit 1923 richtig einschätzten und seine Entwicklung voraussahen, die Marxisten der trotzkistischen Linken Opposition. Und drittens führte der Stalinismus wie in ökonomischer auch in ideologischer Hinsicht eine rein parasitäre Existenz.

Die stalinistische Bürokratie war, wie Trotzki stets betonte, keine Klasse. Sie usurpierte die Macht im Arbeiterstaat und schmarotzte von den Eigentumsverhältnissen, die die Oktoberrevolution geschaffen hatte. Ähnlich verhielt es sich mit der marxistischen Ideologie. Die Tatsache, dass die stalinistischen Herrscher Statuen von Marx und Engels aufstellten, Straßen und Städte nach ihnen benannten, ihre Bücher druckten und den „DiaMat“ zum Pflichtfach erklärten, bedeutet nicht, dass sie sich auf den Marxismus stützten. Es zeigt lediglich, dass selbst die revolutionärste Theorie pervertiert werden kann, wenn ein autoritärer Staatsapparat dahintersteht. Wer es wagte, das stalinistische Regime gestützt auf die Schriften von Marx und Engels zu kritisieren, wurde vom Geheimdienst und Staatsanwalt verfolgt und landete im Gefängnis, im Lager oder vor dem Exekutionskommando.

Die Angriffe auf Engels und den historischen Materialismus gingen auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiter. David North hat sich in dem Essay „Engels war an allem schuld“ ausführlich mit Philosophieprofessor Tom Rockmore auseinandergesetzt, der 2002 unter dem Titel „Marx nach dem Marxismus“ die Angriffe auf Engels neu aufwärmte. North gelangt zum Schluss:

Was Rockmore will – ein Marx ohne historischen Materialismus, ohne Engels, ohne Marxismus –, erweist sich am Ende als ein Marx ohne sozialistische Revolution, ein ‚Marx‘, der nicht nur auf dem Kopf steht, sondern überdies gefesselt und geknebelt ist. [19]

Engels Persönlichkeit

Engels, Marx und dessen Töchter

Man kann einen Rückblick auf Friedrich Engels nicht beenden, ohne auf seine außerordentlichen menschlichen Qualitäten einzugehen. Er zählt, was persönliche Integrität, Mut und Hingabe an die Sache der menschlichen Befreiung betrifft, zu den edelsten Figuren der Weltgeschichte. Es gibt unzählige Zeugnisse, die seine Warmherzigkeit, seinen Charme, seinen unverwüstlichen Optimismus, seine Lebenslust und seine unzerbrechliche Treue zu seinem Freund Marx schildern. Eine der besten stammt aus der Feder Leo Trotzkis:

Engels Beziehungen zu anderen Menschen waren frei von Gefühlsduselei und Illusionen, zeichneten sich deshalb durch Unkompliziertheit aus und waren somit auch zutiefst menschlich. In seiner Gesellschaft bei einem Abendessen, wo Vertreter verschiedener Länder und Kontinente zusammenkamen, lösten sich alle Gegensätze zwischen der geschliffenen radikalen Gräfin Schack und der alles andere als geschliffenen russischen Nihilistin Vera Sassulitsch wie von Zauberhand auf. Die prächtige Persönlichkeit des Gastgebers drückte sich darin aus, dass er imstande war, sich selbst und die anderen über alles Zweitrangige und Oberflächliche zu erheben, ohne auch nur im Geringsten von seinen Sichtweisen oder gar seinen Gewohnheiten abzuweichen.

Dabei war Engels, so Trotzki, nichts Menschliches fremd:

Dieser Mann der Pflicht und sehr tiefgehender Bindungen erinnert an alles andere als an einen Asketen. Er war ein Natur- und Kunstliebhaber, er genoss die Gemeinschaft kluger und lustiger Menschen, er umgab sich gerne mit Frauen und liebte gute Scherze, lachte gerne, schätzte ein gutes Abendessen, guten Wein und guten Tabak. Gelegentlich war er auch nicht abgeneigt, sich bei der Lektüre von Rabelais, der sich gerne seine Inspiration unter der Gürtellinie suchte, einen Lachkrampf zu holen. [20]

Wilhelm Liebknecht, ein Veteran der 1848er Revolution, der sich dem Bund der Kommunisten anschloss, in England viele Jahre eng mit Marx und Engels zusammenarbeitete und gemeinsam mit August Bebel die deutsche Sozialdemokratie gründete, sagte an Engels Grab:

Er war eine wunderbar vielseitige und zugleich fest abgeschlossene Persönlichkeit, eine Persönlichkeit im Großen und im Kleinen – des Größten fähig, das Kleinste nicht vernachlässigend. Selbstlos, sich stets der Sache unterordnend, bis zu Marx‘ Tod und noch nach Marx' Tod seine Person dem großen Freund aufopfernd, hat er stets der Pflicht gelebt, stets an sich selbst die höchsten Anforderungen stellend. … Nichts Menschliches war ihm fremd, immer und überall tat er seine Schuldigkeit und war liebevoll und heiter – heiter auch in den ernstesten Kämpfen. [21]

200 Jahre nach Engels Geburt ist sein theoretisches und politisches Vermächtnis aktueller denn je zuvor. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale, das dieses Erbe verteidigt und entwickelt hat, wird zum Anziehungspunkt für alle, die nach einer revolutionären, sozialistischen Alternative zum bankrotten Kapitalismus suchen.

Quellen

1) Friedrich Engels, „Das Begräbnis von Karl Marx“, MEW Bd. 19, Berlin 1973, S. 336

2) Leo Trotzki, „Engels‘ Briefe an Kautsky“, Oktober 1935

3) Ebd.

4) Ebd.

5) W.I.Lenin, „Friedrich Engels“, Werke Band 2, S.10

6) Karl Marx und Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“, MEW Band 3, S. 20

7) Ebd. S. 37-39

8) Friedrich Engels, „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, MEW Band 8, S. 46

9) Karl Marx/Friedrich Engels, „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März“, MEW Band 7, S. 247, 254

10) Leo Trotzki, „Engels Briefe an Kautsky“, Oktober 1935

11) Karl Kautsky, „Friedrich Engels. Zu seinem siebzigsten Geburtstag“. In: Die Neue Zeit, 9. Jahrg., 1. Bd., 1890/1891

12) Friedrich Engels, „Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre ‚Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806–1807‘]“, MEW, Bd. 21, S. 350-51

13) Friedrich Engels, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, Vorwort von 1885, MEW Band 20, S. 8

14) Ebd. S. 9

15) Friedrich Engels, „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, MEW Band 19, S. 205

16) David North, „Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken“, Mehring-Verlag 2016, S. 195

17) George Lichtheim, „Marxism: An Historical and Critical Study“, New York 1961, S.58-59

18) Ebd, S. 234-35

19) David North, „Engels war an allem schuld: Eine Kritik von Tom Rockmores ‚Marx nach dem Marxismus‘“, in „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“, Mehring-Verlag 2015, S. 454 (WSWS)

20) Leo Trotzki, „Engels Briefe an Kautsky“, Oktober 1935

21) Wilhelm Liebknecht, „Zum Tod von Friedrich Engels“, 10. August 1895 (online)

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