Kurdische Regionalregierung im Irak unterdrückt Lohnproteste mit brutaler Gewalt

Seit einer Woche gehen Sicherheitskräfte der nordirakischen Autonomieregion Kurdistan (KRG) mit Schusswaffen gegen Arbeiter und Staatsbedienstete vor, die für die Zahlung ausstehender Löhne demonstrieren. Acht Protestierende und ein Wachmann wurden getötet und 65 weitere verwundet.

Mehrere Opfer sollen laut ihren Angehörigen erschossen worden sein, während sie sich nur einen Weg durch die protestierende Menge bahnten.

Demonstrationsteilnehmer in Said Sadiq (As-Sulaimaniyya), 9. Dezember 2020 (Quelle: BKirkuk/Facebook)

Die Proteste begannen am 3. Dezember, als Tausende im öffentlichen Dienst Beschäftigte der halbautonomen KRG in Sulaimani im Gouvernement As-Sulaimaniyya für die Zahlung ausstehender Löhne demonstrierten. Etwa 1,2 Millionen Lehrer und Arbeiter haben einen Großteil des Jahres über noch keinen Lohn erhalten, weil der KRG das Geld ausgegangen ist. Verantwortlich hierfür sind sowohl Haushaltsstreitigkeiten der Regional- mit der Zentralregierung in Bagdad, als auch die Wirtschaftskrise im Irak, sowie der Rückgang der Ölpreise und die Krise in Folge der Pandemie. Zunächst gingen Polizei und Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und Tränengas gegen die Demonstranten vor.

Seither sind die Proteste gegen die Regierung eskaliert und haben sich auf weitere Städte der Gouvernements As-Sulaimaniyya und Halabja ausgebreitet. Treibende Kraft ist nicht nur die Unzufriedenheit über monatelang ausstehende Lohnzahlungen in einer Situation verheerender Arbeitslosigkeit und Armut, sowie des Mangels an Strom, Wasser, Treibstoff und grundlegenden Dienstleistungen. Hinzu kommt die Wut über die staatliche Korruption.

Am 6. Dezember setzten Demonstranten in Said Sadiq die Büros der beiden wichtigsten kurdischen Parteien sowie das Büro des Bürgermeisters in Brand. Als die Unruhen eskalierten, ging die Regionalregierung mit Schusswaffen dagegen vor.

Die Autonomiebehörde ließ verlauten, sie lasse keine „nicht genehmigten“ Proteste zu, und kündigte Strafverfahren gegen jeden an, der sich an der Zerstörung von Regierungseigentum beteilige. Um eine weitere Eskalation der Proteste zu verhindern, schränkte sie den Zugang zum Internet ein, setzte den Sendebetrieb des Regionalfernsehsenders NRT für eine Woche aus und durchsuchte dessen Büros in Sulaimani. Am Mittwoch verhängten die Behörden in As-Sulaimaniyya eine 24 stündige Reisesperre.

Bereits im November hatte es ähnliche Proteste wegen ausstehender Löhne und Lohnsenkungen gegeben. Auch damals setzte die Regierung Tränengas gegen die Demonstranten ein.

Schon im August hatte die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), die die westlichen Gebiete der KRG kontrolliert, in großem Umfang Sicherheitskräfte zur Unterdrückung von Demonstrationen in den Gouvernements Erbil und Duhok mobilisiert. Vor allem in der Stadt Zakho wurden zahlreiche Menschen verletzt.

Die Sicherheitskräfte haben Journalisten angegriffen und den Betrieb eines wichtigen Fernsehsenders eingestellt, während gleichzeitig die Sender und Zeitungen aus dem Umfeld der beiden Regierungsparteien – der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) – kaum über die Zusammenstöße berichten. Diese beiden rivalisierenden Parteien gleichen korrupten mafiösen Banden, die sich seit Mitte der 1990er Jahre gegenseitig bekämpfen. Sie betrachten die KRG als ihren Privatbesitz und tolerieren keinerlei Widerspruch, Kritik oder andere Feinheiten der bürgerlichen Demokratie. Mehrere Prominente unterhalten private Milizen, um ihre korrupte Selbstbereicherung abzusichern.

Die KDP herrscht über ein Einflussgebiet mit 5,1 Millionen Einwohnern. Sie wird seit ihrer Gründung vor 70 Jahren vom Barzani-Clan kontrolliert. Staats- und Regierungsoberhäupter sind Nêçîrvan Barzani (Präsident) und Masrur Barzani (Regierungschef). Letzterer ist der Sohn des früheren Präsidenten. Der Clan hat das Monopol auf die meisten Unternehmen in der Region, was ihn in die Lage versetzt hat, ein riesiges Vermögen anzuhäufen.

Insgesamt sind in letzter Zeit mehr als 280 Menschen verhaftet und misshandelt worden. Al Jazeera zitiert die NGO Rights and Freedoms Advocacy Committee mit den Worten: „Unter den Verhafteten waren Lehrer, Beamte, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, von denen einige physisch und psychisch gefoltert oder lange Zeit in Einzelhaft gehalten wurden. Das Recht auf Rechtshilfe und Besuche wurde ihnen vorenthalten.“

Diese Unterdrückung ist Teil eines brutalen Vorgehens gegen die freie Presse. Laut dem Metro Center for Journalist Rights im PUK-kontrollierten Gouvernement As-Sulaimaniyya gab es innerhalb der ersten sechs Monate des Jahres 2020 im Autonomiegebiet 98 Angriffe auf Medienorganisationen und Journalisten. Nur die Medienorganisationen aus dem Umfeld der beiden großen Parteien wurden verschont. Zudem plant die KRG Gesetze, die die Tätigkeit der digitalen Medien einschränken sollen.

Im aktuellen Bericht von Human Rights Watch heißt es, die Situation für engagierte Menschen sei im Autonomiegebiet nicht besser als in den anderen Teilen des Irak. „Kurdische Behörden nutzen weiterhin vage formulierte Gesetze, um Journalisten, Aktivisten und andere kritische Stimmen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.“

Am 7. Dezember rief Masrur Barzani, Regierungschef in Erbil, der Hauptstadt des Autonomiegebiets, alle Lohnempfänger zu Geduld auf. Er machte die Zentralregierung in Bagdad für die Krise verantwortlich, weil sie schon seit vier Monaten die Zahlungen an die KRG in Höhe von 270 Millionen Dollar pro Monat nicht überwiesen habe. Er forderte den irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi auf, „das Finanzministerium anzuweisen, die Gelder für die Region freizugeben“. Am Mittwoch behauptete Barzani: „Die Proteste in As-Sulaimaniyya waren anfangs friedlich, allerdings werden sie jetzt ausgenutzt.“

Demonstranten attackieren Büros der Regierungspartei PUK im Gouvernement As-Sulaimaniyya (Quelle: Social Media)

Die irakische Regierung steht selbst am Rande des Bankrotts. Der Zusammenbruch der Ölnachfrage und der Ölpreise hat eine katastrophale Finanzkrise verursacht.

Auch haben sich die Beziehungen zwischen Bagdad und der kurdischen Autonomieregion verschlechtert, seit diese 2017 erfolglos versuchte, einen unabhängigen kurdischen Staat zu errichten. Die Transferzahlungen stehen im Zusammenhang mit der politischen Pattsituation im irakischen Parlament, die eine Einigung über den Haushaltsplan für 2021 verhindert hat. Vermutlich wird dies auch nicht vor dem neuen Jahr geschehen. Al-Khadimi hat das Parlament zwar um die Erlaubnis gebeten, einen Kredit in Höhe von 34 Milliarden Dollar aufzunehmen, doch das Parlament genehmigte nur einen Kredit von zehn Milliarden Dollar. Dieser Betrag reicht kaum aus, um bis zum Ende des Jahres die Gehälter von vier Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu zahlen, die seit zwei Monaten und länger ausstehen.

Die Beziehungen zur Autonomieregion sind besonders schlecht, weil in der KRG drei von vier Arbeitnehmern vom öffentlichen Dienst abhängig sind.

Die 270 Millionen Dollar, welche die Zentralregierung in Bagdad der KRG monatlich überweist, bedeuten bereits eine Kürzung im Vergleich zu einem früheren Abkommen, laut dem sie monatlich 400 Millionen Dollar überwiesen hatte. Die Kürzung wurde beschlossen, als die KRG begann, ihr Öl eigenständig an die Türkei zu verkaufen. Daraufhin wurde ein neues Gesetz verabschiedet, laut dem die KRG als Gegenleistung für ihren Anteil am Haushalt die Einnahmen aus direkten Ölverkäufen an die Türkei an Bagdad überweisen muss. Daraufhin verließen die kurdischen Abgeordneten das Parlament unter wütendem Protest.

Die Situation ist zusätzlich angespannt, weil es in letzter Zeit mehrmals zu Zusammenstößen zwischen den Peschmerga-Truppen der KRG und Kämpfern der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kommt, von denen etwa 5.000 in der Autonomieregion stationiert sind. Diese Zusammenstöße könnten einen offenen Konflikt auslösen. Vor kurzem haben PKK-Kämpfer die Pipeline, die von der KRG in die Türkei führt, sabotiert, wodurch die Ölexporte verringert wurden. Die PKK steht seit 35 Jahren im Kampf mit der türkischen Herrschaft, und dieser Kampf hat schon etwa 40.000 Todesopfer gefordert, 4.000 Dörfer zerstört und eine Million Menschen zu Vertriebenen gemacht. Im Vorfeld der jüngsten Zusammenstöße hatte die Türkei Boden- und Luftangriffe gegen die PKK auf nordirakischem Territorium geführt, was Bagdad als Verletzung der irakischen Souveränität betrachtet.

Vertreter der US-Regierung äußerten am Mittwoch während eines Treffens mit der KRG-Führung in Erbil scheinheilig ihre Besorgnis über das Vorgehen gegen Demonstranten. Washington unterhält seit Langem Beziehungen zum Barzani-Clan und seiner Demokratischen Partei Kurdistans. Es hat die KRG militärisch und finanziell unterstützt und ihre Peschmerga-Kämpfer als Stoßtruppen im Kampf gegen den Islamischen Staat im Irak eingesetzt.

Das Pentagon hat im Nordirak einen wichtigen Stützpunkt bei Erbil errichtet, in einem Camp, in dem auch 50 Bundeswehr-Soldaten stationiert sind. Berichten zufolge sollen weitere Stützpunkte nahe der iranischen Grenze errichtet werden. Die kurdische Autonomieregion gerät damit ins Zentrum der Operationen des US-Imperialismus in der Region. Die US-Regierung ist auch bestrebt, weitere Unruhen im Irak selbst zu verhindern, nachdem immer wieder Proteste die irakische Regierung erschüttern. Am letzten Mittwoch hat Barzani nun eine Delegation nach Bagdad geschickt, um über die Krise zu diskutieren.

Die kurdische Arbeiterklasse sieht die herrschenden Cliquen im Autonomiegebiet mehr und mehr als williges Werkzeug Washingtons und seiner Verbündeten, darunter Deutschlands, an. Deren Unterstützung erlaubt es beiden Parteien, sowohl der KDP als auch der PUK, jede öffentliche Kritik und jeden Widerstand gegen die Ausbeutung der Gesellschaft und die Plünderungsorgien im Keim zu ersticken.

Für die Trump-Regierung hat sich der Irak zu einem zentralen politischen Schlachtfeld entwickelt. Sie versucht, die US-Kontrolle über diese ölreichste Region der Welt zu festigen, und bereitet eine militärische Konfrontation mit dem Iran vor. Dies wiederum steht im Zusammenhang mit den Vorbereitungen auf eine Großmachtkonfrontation der USA mit China. Die US-Regierung möchte – auch mit militärischen Mitteln – die Energieressourcen der chinesischen Wirtschaft unter Kontrolle bringen.

Besonders die US-Kriegsvorbereitungen und Provokationen gegen den Iran sind in eine neue und noch gefährlichere Phase eingetreten. Die US-Army hat innerhalb von drei Wochen zweimal B52-Bomber in den Persischen Golf entsandt. Das birgt die Gefahr eines Kriegs, dem auch eine große Zahl der zehntausenden in der Region stationierten US-Soldaten zum Opfer fallen würden. Der noch amtierende US-Präsident Trump könnte dies als Vorwand nutzen. Trump hat seine Wahlniederlage gegen Joe Biden am 3. November noch immer nicht anerkannt. Er hat bereits damit gedroht, das Kriegsrecht zu verhängen und die Machtübergabe auszusetzen.

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