Französische Regierung lehnt Lockdown ab, obwohl Covid-19 in ganz Europa wütet

Am Donnerstag stellten der französische Premierminister Jean Castex und Gesundheitsminister Olivier Véran die Gesundheitsschutzmaßnahmen vor, die Präsident Emmanuel Macron einen Tag zuvor bei einem Treffen des nationalen Sicherheitsrats beschlossen hatte.

Die Mehrheit der Bevölkerung würde einen vollständigen Lockdown zur Eindämmung des europaweiten Massensterbens unterstützen. Laut einer Umfrage von Elabe rechneten 83 Prozent der französischen Bevölkerung mit einem Lockdown, und 75 Prozent ziehen einen Lockdown einer Ausgangssperre ab 18 Uhr vor. Trotz der Propagandakampagne der Medien, die einen Lockdown wegen der Gefährdung der Unternehmensprofite ablehnen, sprechen sich 52 Prozent für einen landesweiten Lockdown statt mehrerer regionaler Lockdowns aus.

Eine Krankenschwester hält für einen Corona-Patienten das Telefon, während er mit seiner Familie spricht. Aufgenommen in der Intensivstation des Joseph-Imbert-Krankenhauszentrums im südfranzösischen Arles am 28. Oktober 2020 (AP Photo/Daniel Cole)

Doch die Regierung hat sich über die öffentliche Meinung hinweggesetzt und nur eine landesweite abendliche Ausgangssperre ab 18 Uhr beschlossen. Schulen und nicht systemrelevante Industriezweige bleiben hingegen geöffnet. Da laut den Statistiken des Gesundheitsministeriums zwei Drittel aller Infektionen mit Covid-19 in Schulen und Arbeitsplätzen erfolgen, werden die Masseninfektionen mit Sicherheit eskalieren. Gleichzeitig breitet sich die deutlich ansteckendere britische Variante des Coronavirus in ganz Europa aus.

Die Europäische Union (EU) und Präsident Macron betreiben eine kriminelle Politik, die von den Gewerkschaftsbürokratien durch ihre Zustimmung zu den billionenschweren Rettungspaketen für Banken und Konzerne unterstützt wird. Die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung erkennt immer klarer, dass ihr Leben in Macrons Kalkulationen nichts zählt. Nur ein unabhängiges Handeln der Arbeiterklasse kann eine wissenschaftlich fundierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie durchsetzen.

Castex begann auf der Konferenz mit den Worten: „Wir haben heute etwas mehr als 15.000 neue Fälle pro Tag, d.h. dreimal so viel wie unsere Zielvorgabe von 5.000 Infektionen pro Tag.“ Er erwähnte auch „2.500 Einweisungen ins Krankenhaus pro Tag“ wegen Covid-19. Castex erklärte, die Lage in Frankreich sei besser als in mehreren Nachbarstaaten, darunter Großbritannien, wo eine neue Mutation des Virus wütet, und Deutschland, wo es täglich mehr als 1.000 neue Todesfälle gibt, in Frankreich hingegen nur etwa 400.

Tatsächlich entwickelt sich eine internationale Katastrophe. In Europa wurde letzte Woche die Marke von 600.000 Corona-Toten überschritten. Die Marke von 300.000 war am 12. November erreicht worden, darauf folgte die 400.000-Marke am 28. November, dann 500.000 am 22. Dezember. Das bedeutet, dass alle drei Wochen etwa 100.000 Menschen sterben und im Verlauf des Winters durchaus die Millionengrenze erreicht werden könnte. Selbst wenn sich die Ausbreitung der Pandemie in Frankreich nicht weiter beschleunigt, könnte es dort alleine im Januar eine halbe Million Infektionen, 75.000 Hospitalisierungen und 12.000 Todesfälle geben.

Der Leiter des Nationalen Wissenschaftsrats, Professor Jean-François Delfraissy, betonte dennoch: „Wir befinden uns nicht in einer extremen Notlage.“ Er erklärte zwar, es werde „drei schwierige Monate“ geben und die Situation werde sich „erst nach dem Sommer“ verbessern, lehnte aber einen Lockdown ab: „Wir empfehlen, mit der Wiederaufnahme des Schulunterrichts weiter zu machen. Wir glauben, dass die Daten über die Ausbreitung des englischen Virus noch nicht eindeutig genug sind, um eine Schulschließung zu rechtfertigen.“

Castex und Véran erklärten deshalb, Orte wie Restaurants, Bars, Fitnessstudios und kulturelle Einrichtungen sollten zwar geschlossen sein, Schulen und die nicht systemrelevante Produktion aber offen bleiben. Im Grunde argumentierte Castex, die Eindämmung des Virus sei weniger wichtig als Impfungen: „Wir können uns jetzt auf eine stärkere Waffe verlassen: den Impfstoff. Er ist unser wichtigster Hoffnungsträger, um aus dieser Krise herauszukommen.“

Die Impfkampagne in Frankreich verläuft jedoch katastrophal langsam. Die Macron-Regierung wurde weltweit zum Gespött, als bekannt wurde, dass bis zum 6. Januar nur 5.000 Menschen geimpft waren. Der Grund für diese Verzögerung war die Konzentration auf Altenheime und ein langwieriges Verfahren zur Einholung der Erlaubnis, das angeblich aus Respekt vor dementen Senioren eingeführt wurde. Castex bezeichnete es euphemistisch als „Entscheidung, die Prinzipien und Prioritäten der Nationalen Gesundheitsbehörde zu respektieren“.

Véran erklärte, er habe zwar „die heutigen Zahlen“ über Impfungen nicht, versprach aber: „Unser Ziel ist es, bis Ende Januar eine Million Menschen zu impfen.“ Er behauptete, es werde Impfstoff für alle über 75-Jährigen bereitstehen. Doch selbst wenn die Macron-Regierung dieses Tempo halten kann, hieße das dennoch, dass etwa 66 Millionen Menschen nicht geimpft und weiterhin gefährdet wären.

Diese Verachtung gegenüber dem Wohlergehen der Bevölkerung ist der Grund, warum Castex einen Lockdown ablehnt: „Ab Samstag wird im ganzen Land für mindestens 15 Tage eine abendliche Ausgangssperre ab 18 Uhr verhängt werden... Auf diese Weise sollen die Sozialkontakte nachts noch weiter reduziert werden, während wirtschaftliche Aktivität, Bildung und Bewegungsfreiheit am Tag erhalten bleiben.“

Castex machte deutlich, dass er keine Schulschließungen erlauben wird, da dies die Wirtschaft stören würde, weil die Eltern dann nicht zur Arbeit gehen können. Nach der vollständigen Öffnung der Schulen sollen auch die Universitäten für Studenten des ersten Jahrs in kleineren Klassen und dann nach und nach für alle Studenten geöffnet werden. Er erklärte: „Die Schließung von Schulen darf nur im äußersten Notfall erwogen werden. Ich weiß, dass gewisse Länder das getan haben. Meine Haltung ist, dass die Gesundheitslage tatsächlich sehr ernst sein muss, wenn Schulen geschlossen werden, weil wir wissen, dass die Konsequenzen – auch die gesundheitlichen – von geschlossenen Schulen schrecklich sind.“

Die erschütternde Gleichgültigkeit der Macron-Regierung gegenüber dem Massensterben verdeutlicht ihren zunehmend faschistischen Charakter. Obwohl Castex behauptet, die Situation sei nicht „sehr ernst“ und Delfraissy eine „extreme Notlage“ leugnet, fordert Covid-19 in Europa jeden Monat mehr als 100.000 Todesopfer.

Das Argument der Regierung, die britische Variante des Coronavirus stelle keine ausreichend große Gefahr dar, um ernsthafte Maßnahmen zu rechtfertigen, ist eine Lüge, der die Wissenschaftler widersprechen. Laut wissenschaftlichen Schätzungen gehen bereits etwa zwei Prozent der Infektionen in Frankreich auf die neue Variante zurück, die um 50 bis 70 Prozent ansteckender ist und in Großbritannien zu einem starken Anstieg der Todesfälle geführt hat. Im Raum Paris steigt dieser Anteil auf sechs Prozent, in Marseille auf fünf Prozent und in Lyon auf drei Prozent.

Die Epidemiologin Vittoria Colizza erklärte offen: „Wir werden härtere Maßnahmen brauchen... Die Lage wird sehr schnell sehr kritisch werden. Da diese Variante ansteckender ist, könnte sie bis März dominant sein... Wir müssen jetzt handeln, denn bis dahin werden die Inzidenzwerte extrem hoch und die Ausbreitung des Virus viel schwerer zu kontrollieren sein.“

Der Epidemiologe Pascal Crépey erklärte: „Man hat den Eindruck, die Epidemie sei unter Kontrolle, aber die britische Variante wird das ändern.“ Er forderte 100.000 Impfungen pro Tag – dreimal so viel wie Véran vorgeschlagen hatte – und fügte hinzu: „Die Kampagne muss wirklich forciert werden... Wenn es Versorgungsprobleme gibt, sollten wir impfen, bis wir nichts mehr haben. Impfstoffe sind in den Armen von Patienten wirkungsvoller als in Gefrierschränken.“

Eine politische Mobilisierung der Arbeiterklasse ist dringend notwendig, um eine noch größere Katastrophe abzuwenden. Im Frühjahr 2020 erzwangen spontane Massenstreiks von Italien über Spanien, Frankreich, Großbritannien und weitere Länder Lockdowns, die die Ausbreitung des Virus fast beendeten. Doch die voreilige Beendigung der Lockdowns im Mai und die Tatsache, dass die EU-Regierungen keine effektiven Systeme aufgebaut haben, um Covid-19-Fälle zu identifizieren, zu testen und zurückzuverfolgen, führte zu einem massiven Wiederanstieg der Pandemie.

Damals erklärten die EU-Staaten, die wirtschaftlichen Kosten der Lockdowns seien zu hoch, als Rechtfertigung dienten die Auswirkungen auf Kleinunternehmer. Dieses Argument wurde mittlerweile als Betrug entlarvt. Es sollte einer Politik, die auf die Bereicherung der Finanzaristokratie abzielte, den Anschein von Popularität verleihen. Um eine Überlastung der Krankenhäuser durch Covid-19 zu verhindern, hat der Staat Kleinunternehmen geschlossen, während die nicht systemrelevante Produktion fortgesetzt wurde, damit die Banken und Konzerne weiter Profite erwirtschaften. Zudem erhielten sie EU-Rettungsgelder in Höhe von zwei Billionen Euro.

Um die Ausweitung der Pandemie zu stoppen, muss die Arbeiterklasse an Arbeitsplätzen und in Schulen von den Gewerkschaften unabhängige Aktionskomitees gründen und eine internationale politische Bewegung für den Sozialismus aufbauen. Die Macht, einschließlich der Macht über die Gesundheitspolitik, muss von der bankrotten und gescheiterten herrschenden Elite auf die Arbeiterklasse übertragen werden, damit alle Mittel der Gesellschaft für die wichtigen sozialen Bedürfnisse wie den Kampf gegen die Pandemie eingesetzt werden können.

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