Frankreich: Macron diktiert dem Dachverband der Muslime „Grundsatz-Charta“

Letzten Monat hat der Conseil français du culte musulman (CFCM), der Dachverband der Muslime in Frankreich, die „Grundsatz-Charta“ zum Islam angenommen, die ihm die französische Regierung aufgezwungen hat. Diese Charta verpflichtet muslimische Geistliche dazu, die Prinzipien zu respektieren, die ihnen die französische Regierung diktiert. Die Regierung hatte Muslimen seit Ende 2019 unterstellt, sie seien von „Separatismus“ angetrieben.

Die Regierung behauptet zwar heuchlerisch, sie würde religiöse Rechte verteidigen, doch in Wirklichkeit zielt ihre Maßnahme darauf ab, die Muslime faktisch zu Bürgern zweiter Klasse zu machen. Obwohl die Rechtsstellung von Religionen durch das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat von 1905 geregelt ist, hat die Regierung versucht, den Muslimen ein demütigendes Versprechen zur Loyalität gegenüber dem Staat aufzuerlegen. Von anderen Religionen wird nichts Derartiges verlangt.

Innenminister Gérald Darmanin hat letzten Dezember in der Zeitung Le Figaro den Inhalt der antimuslimischen Kampagne offen gelegt: „Bisher war die Regierung an Radikalisierung und Terrorismus interessiert. Jetzt werden wir auch den Nährboden des Terrorismus angreifen, wo sich diejenigen befinden, die das intellektuelle und kulturelle Umfeld schaffen, mit dem sie Sezession und ihre Werte durchsetzen wollen.“

Das bedeutet, die Polizei wird gegen Menschen vorgehen, die nichts verbrochen haben. Sie wird gegen Meinungsäußerungen und Erklärungen vorgehen können, weil sie angeblich „Separatismus“ begünstigen könnten. Der so genannte „Nährboden“ ist so vage definiert, dass damit Gotteshäuser, muslimische religiöse und kulturelle Vereine und ihre Verteidiger gemeint sein können. Letzten Endes könnte jeder ein „Separatist“ sein, dessen Ansichten oder Gewohnheiten der Polizei nicht gefallen.

Dass der Staat Gedankenverbrechen als pseudojuristische Kategorie und eine Schuldvermutung einführt, die sich primär gegen Muslime richtet, stellt eine Gefahr für die demokratischen Rechte der ganzen Bevölkerung dar. In dieser Situation ist die Verteidigung der Muslime eine grundlegende Aufgabe der Arbeiterklasse. Der Kampf gegen Versuche, die Arbeiter nach religiösen und ethnischen Gesichtspunkten zu spalten, ist von entscheidender Bedeutung für die Vereinigung der Arbeiterklasse.

Was sind die Vorschriften in der „Grundsatz-Charta“?

Die Charta basiert auf dem grotesken Betrug, der kapitalistische Staat sei der Verteidiger des Gleichheitsprinzips gegen Muslime, während er gleichzeitig versucht, ihnen das Recht auf freie Meinungsäußerung wegzunehmen. Die Polizei diktiert den Muslimen die erlaubten Meinungen und verbietet ihnen, sich politisch zu äußern.

In der Charta heißt es: „Vom religiösen und ethischen Standpunkt sind Muslime, egal ob Staatsbürger oder ausländische Einwohner, durch einen Pakt an Frankreich gebunden. Dieser verpflichtet sie, den nationalen Zusammenhalt, die öffentliche Ordnung und die Gesetze der Republik zu respektieren.“ Diese Pflicht gegenüber dem Staat steht über dem eigenen Glauben: „Keine religiöse Überzeugung darf als Vorwand benutzt werden, um sich ihren Verpflichtungen als Bürger zu entziehen.“

Was bedeutet es, wenn Macron von Muslimen fordert, den „nationalen Zusammenhalt“ zu respektieren? In Frankreich setzt die Regierung einen Austeritätskurs durch, der die soziale Ungleichheit verschärft, sowie eine Politik der Herdenimmunität in Bezug auf das Corona-Virus, die von Wissenschaftlern verurteilt wird. Die gleiche Entwicklung findet im Rest Europas statt und hat hier bereits mehr als 600.000 Todesopfer gefordert. Die „Gelbwesten“-Bewegung und zahlreiche Streiks in Frankreich und Europa verdeutlichen, dass in der Arbeiterklasse gewaltige Wut über diese Politik herrscht.

Mit der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion 1991 ist für die Nato-Mächte auch das wichtigste Hindernis für den Einsatz militärischer Gewalt weggefallen. Seither hat Frankreich immer wieder mehrheitlich muslimische Länder überfallen, die früher zu seinem Kolonialreich gehörten. Die Kriege in der Elfenbeinküste, Afghanistan, Libyen, Syrien und Mali haben unter Arbeitern Opposition und Misstrauen ausgelöst, vor allem unter muslimischen Arbeitern.

Die „Grundsatz-Charta“ verbietet ihnen jede politische Diskussion in Gotteshäusern: „Wir dulden nicht, dass Gotteshäuser zur Verbreitung politischer Auseinandersetzungen oder zum Import von Konflikten aus anderen Teilen der Welt benutzt werden. Unsere Moscheen und Gotteshäuser sind Gebeten und der Übertragung von Werten vorbehalten. Sie wurden nicht errichtet, um nationalistische Reden zu verbreiten, mit denen fremde Regimes oder eine ausländische Politik verteidigt wird, die Frankreich, unserem Land und unseren französischen Landsleuten feindlich gesonnen ist.“

Das neue Gesetz gilt nicht für Terrorismus, der bereits strafbar war, bevor Macron seine Charta diktiert hat. Es verbietet jedoch politische Diskussionen, die sich kritisch über die Außen- und Innenpolitik des französischen Staats äußern.

Das ständige Eindringen der Regierung in das Privatleben der Muslime, u.a. das Verbot von Kopftüchern oder Gesichtsschleiern in Schulen und allen öffentlichen Orten seit 2004 und 2010 hat eine hysterisch islamfeindliche Atmosphäre geschaffen. Reaktionäre Vorfälle wie der Ausschluss von muslimischen Schülerinnen, die zu lange Röcke trugen, und die tätlichen Übergriffe der Polizei auf die Ehemänner von verschleierten Frauen haben unter muslimischen Arbeitern das Gefühl erzeugt, das Opfer von staatlich sanktioniertem Rassismus zu sein.

Die „Grundsatz-Charta“ verbietet es daher, staatlichen Rassismus in irgendeiner Form zu erwähnen. Islamfeindliche Taten sind laut der Charta „das Werk einer extremistischen Minderheit, die weder mit dem Staat noch mit der französischen Bevölkerung verwechselt werden darf. Folglich ist die Anprangerung von staatlichem Rassismus, ebenso wie jede Opferhaltung, eine Diffamierung.“

Weiter heißt es in der „Charta“, dass islamische Geistliche ihre Anhänger daran erinnern müssen, dass „gewisse angeblich muslimische kulturelle Praktiken nicht Teil des Islam sind“. Diese vage und unklare Erklärung verpflichtet den CFCM dazu, staatliche Maßnahmen wie das Kopftuchverbot in Schulen zu verteidigen.

Darin zeigt sich der reaktionäre und diskriminierende Inhalt der „Charta“. Der französische Staat macht die Muslime zu einer besonderen Minderheit, denen jede kollektive Kritik am Staat verboten ist. Wenn man es als „Diffamierung“ bezeichnet, dass Muslime auf staatlichen Rassismus hinweisen, kommt das einer Kriminalisierung von Diskussionen über das politische und religiöse Leben in Frankreich gleich, das durch die Geschichte Frankreichs und Europas geprägt wurde.

Mehr oder weniger offener staatlicher Rassismus hat in der Geschichte des französischen Imperialismus eine lange und blutige Tradition. Zwischen der Eroberung Algeriens in den 1830ern bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren Muslime in den Kolonien dem diskriminierenden „Code de l’indigénat“ (Eingeborenengesetz) unterworfen. Dieser wurde erst 1946 nach einem Aufstand der Arbeiter gegen das Vichy-Kollaborationsregime abgeschafft. Das Vichy-Regime hatte Juden in die Vernichtungslager in Europa deportiert.

Im derzeitigen Kontext sind diese Fakten nicht einfach nur akademische historische Bezüge. Neofaschistische Befürworter der französischen Kolonialherrschaft über Algerien, die auch die Kollaboration mit den Nazis rechtfertigen, spielen eine wichtige Rolle in der heutigen Politik. Ihre Verteidiger, wie der rechtsextreme Experte Eric Zemmour, der wegen Anstachelung zum Rassenhass verurteilt wurde, haben umfangreiche Beziehungen zu Medien und Wirtschaft.

Der Versuch, einen Mantel des Schweigens über die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu legen, findet auf dem Hintergrund eines eindeutigen internationalen Zusammenhangs statt. Die Pandemie hat nicht nur die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930ern ausgelöst, sondern auch die herrschende Klasse diskreditiert. Die Finanzaristokratie, die durch ihre Politik der „Herdenimmunität“ entlarvt wurde und den Widerstand der Arbeiterklasse fürchtet, nimmt Kurs auf rechtsextreme Diktaturen.

Trumps Putschversuch, der in Washington am 6. Januar von Neonazis angeführt wurde, hat gezeigt, dass die faschistische Fäulnis selbst das Herz des Weltimperialismus zerfrisst. Die Nachwirkungen dieses politischen Erdbebens fangen gerade erst an, sich über Europa auszubreiten. Schon lange vor Trumps Putschversuch wurden hier neofaschistische Parteien von breiten Teilen der herrschenden Elite ermutigt.

Die Muslim-Charta kann unmöglich außerhalb dieses internationalen Kontextes bewertet werden. In Deutschland sitzt die extreme Rechte wieder im Bundestag, rechtsextreme Professoren erklären unter dem Schutz der Großen Koalition, Hitler sei „nicht grausam“ gewesen. In Spanien prahlen Offiziere damit, Faschisten zu sein, und haben auf Streiks spanischer Arbeiter mit der Äußerung reagiert, man müsse „26 Millionen“ Menschen erschießen.

Faschistische Politik unter dem Deckmantel der Verteidigung der Republik

Das Besondere an dem faschistischen Angriff auf demokratische Rechte in Frankreich ist die Tatsache, dass er im Namen der Verteidigung der Republik durchgeführt wird.

Die „Grundsatz-Charta“ wurde im Kontext des geplanten Gesetzes gegen islamistischen „Separatismus“ angenommen, das mittlerweile in „Gesetz zur Bestätigung des Respekts vor den Prinzipien der Republik“ umbenannt wurde. Das Gesetz wird seit dem 18. Januar in einem Ausschuss der Nationalversammlung diskutiert. Seit Ende letzten Jahres ist das ganze politische Establishment hinter der Parole des Kampfs gegen „islamistischen Separatismus“ vereint.

Es hat sich in einer Mehrparteien-Untersuchungskommission des Senats unter der Führung der rechten Republicains (LR) zusammengetan, die den Titel trägt: „Islamistische Radikalisierung: Zusammen erkennen und bekämpfen“. Diese Kommission besteht aus Vertretern aller politischen Gruppen im Senat einschließlich der Kommunistischen Partei Frankreichs.

Die Pandemie und die politische Krise im Zusammenhang mit der Öffnungskampagne haben diese Offensive beschleunigt. Dutzende von Moscheen und muslimischen Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, die humanitäre Organisation Barakacity und die Menschenrechtsorganisation Collectif contre l'islamophobie en France (CCIF) wurden aufgelöst. Hierbei handelte es sich um etablierte Organisationen, die in einem völlig legalen Rahmen operierten.

Macron versucht unter dem Deckmantel, die Republik zu schützen, das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905 auszuhebeln. Dieses Gesetz wurde nach der Dreyfus-Affäre unter dem Einfluss der sozialistischen Bewegung verabschiedet und bedeutete die Niederlage der antisemitischen Kräfte in Militär und Kirche, die versuchten, den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus wegen fingierter Anklagen ins Gefängnis zu bringen. Mit seinem Angriff auf das Gesetz von 1905 bedroht Macron den juristischen Rahmen der Meinungsfreiheit und der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, die in Frankreich – abgesehen von der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg – mehr als ein Jahrhundert Bestand hatten.

Macron hat die CFCM gezwungen, wichtige Dokumente innerhalb weniger Wochen zu verfassen, deren Inhalte größtenteils von den Behörden diktiert wurde. Er will einen verbindlichen und forcierten Zeitplan, um den Nationalen Rat der Imame zu schaffen. Dieser soll Geistliche „zertifizieren“, die gezwungen werden, die Charta einzuhalten.

Mehrere Medienkommentatoren verglichen die Lage mit dem frühen 19. Jahrhundert und der Schaffung einer offiziellen Vertretung der französischen Juden nach der Revolution von 1789 durch Napoleon I.

Im französischen Kaiserreich von 1806 bis 1808 führte Napoleon nach dem Emanzipationsgesetz vom 27. September 1791 in der verfassungsgebenden Versammlung eine Neuordnung des Judentums in Frankreich durch, die den Juden die Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft ermöglichte. Napoleons Reformen führten zur Schaffung der Consistoire central israélite, die die jüdische Religionsausübung organisierte und legalisierte.

In Wirklichkeit lässt sich Napoleons Arbeit nicht mit der von Macron vergleichen. Trotz seines Autoritarismus und seiner Vorurteile gegen die Juden erlaubte Napoleon ihnen die Ausübung ihrer Religion und die Integration der jüdischen Bevölkerung. Damit folgte er, angetrieben von der Revolution, das Ziel, die letzten Reste des Feudalismus zu beseitigen.

Im Gegensatz dazu kann man bei den Maßnahmen, die Macron vorbereitet, die bösartige Absicht nicht übersehen, die Verfolgung von Muslimen zu legitimieren.

Die Vorläufer von Macrons Maßnahmen liegen nicht in der Französischen Revolution von 1789, sondern bei deren Gegnern. Bevor er am Abend seiner Wahl die Stimmen der Neofaschisten positiv begrüßte, hatte er bereits die Hinrichtung von Ludwig XVI. im Jahr 1793 kritisiert und erklärt, Frankreich fehle ein König. Seine Regierung hat versucht, die Werke des Action-Francaise-Führers, Charles Maurras, einem antisemitischen Monarchisten und Nazi-Kollaborateur, neu aufzulegen. Später bezeichnete er den Diktator Pétain als „großen Soldaten“, nachdem er zuvor die Bereitschaftspolizei gegen die „Gelbwesten“ eingesetzt hatte.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung im Jahr 2019 die Medienkampagne gegen Roman Polanskis Film J'Accuse über die Dreyfus-Affäre unterstützt hat. Der Film richtet sich gegen den Einfluss der Dreyfus-Gegner, gegen Maurrass' Rassismus und Maurrass selbst, der die französische Niederlage im Jahr 1940, Pétains Machtübernahme und dessen Kollaboration mit den Nazis als „göttliche Überraschung“ bezeichnet hatte.

Die anti-muslimische Kampagne des französischen Staats geht einher mit der Politik von „Herdenimmunität“, imperialistischen Kriegen und einem brutalen Angriff auf die Arbeiterklasse und ihre sozialen Rechte, darunter das Recht auf Streik und Demonstrationen.

Das Separatismusgesetz wird ergänzt durch das „globale Sicherheitsgesetz“, das die Veröffentlichung von Videos über Polizisten verbietet. Wie der Übergriff der Polizei auf den Pariser Musikproduzenten Georges Zecler in seinem Studio gezeigt hat, würde dies der Polizei ermöglichen, jeden zu misshandeln und hinterher zu behaupten, sie hätten in Notwehr gehandelt. Die Vereinten Nationen haben bereits erklärt, das Gesetz verstoße gegen die Menschenrechte. Das Ziel des Gesetzes ist es, einen faschistischen Polizeistaat gegen die Arbeiterklasse zu errichten.

Die Arbeiterklasse muss einen politischen Kampf führen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und der faschistische Völkermord an den europäischen Juden sind eine ständige Warnung davor, welchen schrecklichen Preis die Arbeiterklasse zahlen muss, wenn sie zulässt, dass die Kräfte der extremen Rechten Rassenhass, religiösen Hass und Spaltung schüren können. Die Arbeiterklasse muss weltweit unabhängig von den Gewerkschaftsapparaten in einem Kampf gegen die Politik der „Herdenimmunität“ und den faschistischen Kurs der herrschenden Klasse und für die Übertragung der Macht an die Arbeiterklasse auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive vereint werden.

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