Perspektive

„Unsere Gesellschaft ist krank“: Medizinische Fachzeitschrift The Lancet verurteilt amerikanischen Kapitalismus

Am Donnerstag veröffentlichte The Lancet, die renommierte britische Fachzeitschrift für Medizin, ihren offiziellen Bericht zur Bilanz der Gesundheitspolitik unter der Regierung von Donald Trump. Insgesamt arbeiteten die Autoren drei Jahre an den Bericht.

Die Corona-Pandemie nimmt einen angemessenen, zentralen Platz im Bericht ein. The Lancet kommt zu dem Schluss, dass die Regierung Trump unmittelbar für den Tod Zehntausender Menschen im Verlauf der Pandemie verantwortlich ist. Weiter heißt es, dass über 200.000 der Opfer noch leben könnten, wenn die Sterblichkeitsrate von Covid-19 in den USA den Zahlen in anderen Industrieländer entsprechen würde.

Ein Obdachlosenlager in San Francisco. Die Rechtecke sollen die Ausbreitung des Coronavirus verhindern (AP Photo/Emilio Morenatti)

Doch der akribisch recherchierte Bericht in The Lancet, an dem mehr als ein Dutzend renommierter Autoren mitgewirkt haben, geht weit darüber hinaus, bloß die Bilanz von Trump zu verurteilen. Es heißt, dass zu den Covid-19-Toten – in den USA sind es inzwischen fast eine halbe Million – noch diejenigen „verschwundenen Amerikaner“ hinzugezählt werden müssen, deren Tod auf die in den letzten vier Jahrzehnten massiv angestiegene soziale Ungleichheit zurückzuführen ist. Der Bericht in The Lancet vertritt die Ansicht, dass sowohl die Pandemie als auch die Regierung Trump das Ergebnis tiefgreifender Entwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft ist.

„Unter dem Deckmantel von Deregulierung und Sparmaßnahmen vergrößerte der so ermutigte Geldadel seinen Reichtum und seine Macht, indem er zu seinem Vorteil die Märkte deregulierte und die Finanzhaushalte der Regierungen korrigierte“, schreibt The Lancet. „In solch einer Regierungsform erhalten wohlhabende Familien und Unternehmen großzügige Transfers des Staates“, während „Arbeitsplätze verschwunden sind.“

Die Autoren ziehen hieraus folgenden Schluss: „Die beunruhigende Wahrheit lautet, dass viele der politischen Maßnahmen Präsident Trumps keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit darstellen. Vielmehr haben sie den Trend der seit Jahrzehnten zurückbleibenden Lebenserwartung weiter beschleunigt, die die grundlegenden und langjährigen Fehlentwicklungen der amerikanischen Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialpolitik widerspiegelt. Diese Fehlentwicklungen werden nicht nur anhand der schwindenden Aussichten auf ein langes Leben deutlich…, sondern auch in der Sterblichkeit, die zwischen den Gesellschaftsklassen zunehmend auseinanderklafft.“

Die enorme Zahl der Todesopfer durch Covid-19, die besonders häufig aus der Arbeiterklasse stammen, beschleunigte nochmals die sinkende Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten. Noch bedeutsamer ist, dass sich diese sinkende Lebenserwartung entlang der Linien zwischen den sozialen Klassen unterschiedlich auswirkt.

„Als Trump im Januar 2017 sein Amt antrat, konnte beim allgemeinen Gesundheitszustand der amerikanischen Bevölkerung bereits ein Abwärtstrend festgestellt werden“, heißt es in dem Bericht weiter. „Die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA ist zwischen 2014 und 2018 von 78,9 Jahren auf 78,7 Jahre gesunken. Zum ersten Mail seit dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe von 1918 ging die Lebenserwartung in dieser Periode über einen Drei-Jahres-Zeitraum zurück.“

Weiter steht in dem Bericht, dass sich „die Ungleichheit zwischen sozialen und wirtschaftlichen Klassen seit den 1980er Jahren vergrößert hat, da gut bezahlte Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie verschwunden sind. … Trotz des Booms an den Aktienmärkten … wurden viele Menschen in den USA in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen, die einen nur geringen Lohn und unzureichende Zusatzleistungen bieten. Diese zunehmende Ungleichheit bei den Einkommen hat die Ungleichheit in der Gesundheit wachsen lassen.“

In dem Bericht in The Lancet wird eine historische Analyse dieses Prozesses vorgenommen, in denen beide Parteien des amerikanischen Kapitalismus – sowohl die Demokraten als auch die Republikaner – eine führende Rolle dabei gespielt haben. „Trotz wirtschaftlicher Stagnation und steigender Inflation drängte [der demokratische] Präsident Jimmy Carter (im Amt von 1977-1981) darauf, das staatliche Defizit durch Ausgabenkürzungen zu verringern.“

Der demokratische Präsident Bill Clinton „vertrat Schlüsselelemente einer neoliberalen, unternehmerfreundlichen Politik.“ Er deregulierte „Banken und Telekommunikationsunternehmen und setzte zeitliche und andere Beschränkungen für soziale Leistungen und die Lebensmittelbeihilfe durch.“ Unter Clinton „stiegen die Aktienkurse rasch an“, während „die Einkommens- und Vermögensungleichheit zunahm.“

Die von Barack Obama initiierten Programme zur Gesundheitsversorgung „verstärkten den jahrzehntelangen Prozess marktorientierter Reformen, die die Rentabilität zum grundlegenden Maßstab machten, und die Verwandlung der Gesundheitsversorgung in eine Ware sowie deren zunehmende Kontrolle durch Großkonzerne.“

Weiter heißt es in The Lancet: „Die sinkende Lebensdauer in den USA zwischen 2014 und 2017 sowie der minimale Aufwärtstrend der Lebenserwartung im Jahr 2018 haben in den Medien große Aufmerksamkeit erregt. Eine ausschließliche Fokussierung auf diese jüngsten Trends birgt jedoch die Gefahr, dass verschleiert wird, wie weit die Vereinigten Staaten bereits hinter anderen einkommensstarken Ländern zurückliegen und wie lange sich diese länderübergreifenden Unterschiede bereits entwickeln. Die Lebenserwartung in den USA lag 1980 im Durchschnitt unter der von anderen Ländern mit hohem Einkommen. 1995 lag sie 2,2 Jahre unter dem Durchschnitt der G7-Länder. Dieser Abstand ist bis 2018 auf 3,4 Jahre angewachsen.“

Der Bericht kommt zu einer schockierenden Einsicht hinsichtlich der Anzahl von Amerikanern, die aufgrund der zunehmenden sozialen Ungleichheit in den USA vorzeitig gestorben sind: „Das Ausmaß dieses Unterschieds lässt sich auch anhand der Zahl der verschwunden Amerikaner beziffern – das heißt, anhand der Zahl der Einwohner der USA, die noch am Leben wären, hätten sich die altersspezifischen Sterberaten in den USA im Vergleich zum Durchschnitt in anderen G7-Ländern nicht verschlechtert. Legt man diesen Maßstab zugrunde, sind allein im Jahr 2018 461.000 Menschen verschwunden – eine Zahl, die seit 1980 jährlich steigt.“

Weiter schreiben die Autoren: „Die sinkende Lebenserwartung in den USA geht einher mit einer wachsenden Kluft bei der einkommens- und bildungsbedingten Sterblichkeit bei Erwachsenen. Diese Ungleichheiten spiegeln eine zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit wider: steigende Einkommen für das oberste Zehntel der Bevölkerung (sowie enorme Einkommenszuwächse bei den sehr reichen), aber stagnierenden Realeinkommen für die unteren 50 Prozent. Bis zum Jahr 2014 hat sich die Lebenserwartung so entwickelt, dass sie beim reichsten 1 Prozent der Männer 15 Jahre höher lag als beim ärmsten Prozent.“

Weiter heißt es: „Zwischen 2000 und 2014 stieg die Lebenserwartung jener Erwachsenen, die zur oberen Hälfte in der Einkommensverteilung zählen, um mehr als 2 Jahre. Die untere Hälfte hingegen erfuhr wenig oder keine Verbesserung.“

Die Autoren des Berichts kommen zu folgendem Schluss: „Die Regierung Trump stellt den Höhepunkt von mehr als drei Jahrzehnten neoliberaler Politik dar, deren Ziel darin besteht, eine Vielzahl öffentlicher Dienstleistungen zu privatisieren und Unternehmen zu deregulieren, um die Profite zu maximieren.“

„Die Wahl von Trump wurde durch das Versagen seiner Vorgänger ermöglicht. Die Vorrechte von Unternehmen wurden im Verlauf der vier Jahrzehnte, die von neoliberaler Politik geprägt waren, gestärkt. … Die Reichen wurden immer reicher, während ihre Steuerlast halbiert wurde. Die Löhne der Arbeiter stagnierten, Sozialprogramme wurden geschrumpft, die Zahl der Gefängnisinsassen nahm massiv zu und Millionen wurde der Zugang zur Gesundheitsversorgung verwehrt. Gleichzeitig wurden Investoren, die ihr Geld im Gesundheitswesen anlegten, durch staatliche Gelder bereichert.“

„Das Leid und die Verwerfungen, die durch die Corona-Pandemie verursacht wurden, haben die Zerbrechlichkeit der sozialen und medizinischen Verhältnisse in den USA offengelegt“, schreiben die Autoren des Berichts.

„Während die Wirtschaft boomte, verschlechterte sich die allgemeine Gesundheit der Amerikaner“, erklärt Dr. Steffie Woolhandler, eine der Vorsitzenden des Ausschusses. „Es ist diese beispiellose Abkopplung der Gesundheit vom Volksvermögen, die uns zeigt, dass unsere Gesellschaft krank ist. Während es den Wohlhabenden blendend ging, haben die meisten Amerikanern an Boden verloren – sowohl wirtschaftlich als auch medizinisch.“

Bei der Formulierung seiner politischen Schlussfolgerungen versucht der Bericht von The Lancet, US-Präsident Biden davon zu überzeugen, einen grundlegenden Bruch mit der Politik der vorangegangenen Regierungen zu vollziehen. Doch die Bilanz des Berichts selbst macht deutlich, dass dies unmöglich ist. Er zeigt auf, dass die Demokraten bei der jahrzehntelangen Umverteilung der Vermögen von unten nach oben an der Spitze beteiligt. Biden selbst war unter Obama Vizepräsident und unterstütze ihn dabei, die Bankenrettung nach der Finanzkrise 2008 zu organisieren.

Wie ein erfahrener Arzt zählt der Bericht in The Lancet die Symptome der erkrankten amerikanischen Gesellschaft auf. Doch wenn die amerikanische Gesellschaft krank ist – wie Dr. Woolhandler nachdrücklich darlegt –, besteht die notwendige Therapie dagegen ebenso wenig in der Biden-Regierung wie zuvor die Regierungen von Clinton oder Obama. Im Gegenteil: Die Krankheit, die die Autoren diagnostiziert haben, ist im Endstadium angelangt. Nur eine grundlegend neue und andersartige politische Bewegung kann eine Lösung bringen – eine Bewegung, die auf dem Kampf der Arbeiterklasse für den Sozialismus beruht.

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