Die Morde von Hanau: ein Anschlag auf die Arbeiterklasse

Auch ein Jahr nach den Morden von Hanau sind die Hintergründe nicht aufgeklärt. Die Behörden halten an der Version eines „verwirrten Einzeltäters“ fest. Dabei weisen viele ungeklärte Fragen auf Verbindungen zu den rechtsterroristischen Netzwerken hin, die tief in den Staat hinein reichen. Die Morde sind die Folge einer zutiefst rechten Politik.

Am 19. Februar 2020 tötete der rechtsextreme Tobias Rathjen (43) neun ihm vollkommen unbekannte Personen, acht Männer und eine Frau im Alter zwischen 20 und 37 Jahren. Sechs weitere Personen wurden teils schwer verletzt.

Hanauer Opfer, Wandmalerei unter der Friedensbrücke in Frankfurt am Main

Die Aufzählung der Namen der Getöteten (#Saytheirnames) ist für die Hinterbliebenen mehr als die Pflicht, ihre Angehörigen dem Vergessen zu entreißen. Es ist eine Art Symbol für den aktiven Kampf gegen den Rechtsterrorismus. Sie wollten dafür sorgen, das Hanau „keine Station, sondern die Endstation des rechten Terrors“ sein werde, wie es der Vater eines Getöteten ausdrückte. Die Opfer waren:

  • Hamza Kenan Kurtović (20), der gerade seine Ausbildung zum Fachlageristen abgeschlossen hatte.
  • Said Nesar Hashemi (21), Dunlop-Arbeiter und Techniker-Azubi. Er ließ sich nur wenige Stunden vor dem Mord die Postleitzahl seiner Geburtsstadt Hanau-Kesselstadt auf den Arm tätowieren.
  • Vili Viorel Păun (22), Kurierdienstfahrer. Er hatte beobachtet, wie der Killer die ersten Morde beging, und folgte ihm im Auto bis nach Hanau-Kesselstadt, um Schlimmeres zu verhüten. Dort wurde er auf dem Parkplatz selbst erschossen.
  • Ferhat Unvar (23), hatte gerade seine Gesellenprüfung als Heizungstechniker abgeschlossen, hätte aber gerne studiert. Er verehrte Tolstoi und Dostojewski. Auf seiner Facebook-Seite schrieb Unvar 2015 den Satz: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“
  • Sedat Gürbüz (29), Inhaber der Midnight-Bar am Hanauer Heumarkt, war für seine Großzügigkeit bekannt.
  • Fatih Saraçoğlu (34), wurde auf der Straße vor der Midnight-Bar getötet, als er Alarm schlagen wollte.
  • Kaloyan Velkov (33), Familienvater, wurde in der Bar La Votre erschossen, wo er hinter der Theke arbeitete.
  • Mercedes Kierpacz (35), alleinerziehende Mutter zweier Kinder, wollte gerade Pizza für die beiden holen, als sie erschossen wurde.
  • Gökhan Gültekin (37) Maurer, stand kurz vor seiner Hochzeit. Sein Vater Behçet Gültekin hatte Krebs im Endstadium und musste noch vor seinem eigenen Tod seinen Sohn zu Grabe tragen.

Schon kurz nach der Tat zog die Generalbundesanwaltschaft alle Ermittlungen an sich. Aber bis heute sind die Hintergründe in keiner Weise öffentlich geklärt. „Wir sind heute, ein Jahr nach Hanau, genau so weit wie am ersten Tag“, sagt Ajla, Hamza Kurtovićs Schwester, in einem ausführlichen Feature der dlf-Kulturredaktion. „Wir wissen bis heute nicht, was wirklich passiert ist.“ Keine einzige Frage sei beantwortet worden.

Unbeantwortete Fragen

Da ist zunächst die Frage, wie es möglich war, dass der Mörder eine so lange Zeit ungehindert töten konnte. Es gelang ihm, mehrere Tatorte nacheinander aufzusuchen: Erst betrat er die Bar La Votre und die Midnight-Bar am Heumarkt im Zentrum Hanaus, wo er insgesamt drei Menschen niederschoss. Danach fuhr er nach Hanau-Kesselstadt, um auf dem Lidl-Parkplatz, in einem Kiosk und der dahinter liegenden Arena-Bar sechs weitere Menschen zu töten. Ungehindert kehrte er in sein Elternhaus zurück, wo die Polizei erst nachts um drei eindrang. Sie fand den Killer und seine Mutter erschossen auf.

Blumen am Tatort, Heumarkt in Hanau, am 20. Februar 2020

Wie mehrere Augenzeugen sagen, war der Notruf 110 sehr lange Zeit nicht erreichbar. Dies hat vermutlich mindestens Vili Viorel Păun das Leben gekostet. Vili hatte die ersten Morde aus seinem Auto heraus beobachtet. Er fuhr dem Killer nach und versuchte drei Mal, den Notruf anzurufen, aber niemand ging dran. Dann stoppte der Killer vor ihm in Kesselstadt, stieg aus und kam zu Vilis Auto zurück. Vili wurde durch die Windschutzscheibe erschossen.

Auch mehrere andere Zeugen kamen am Notruftelefon nicht durch. Überlebende vom ersten Tatort versuchten es 20 Minuten lang, ehe es ihnen gelang, das amtliche Kennzeichen des Massenmörders durchzugeben. Doch auch danach wurde Tobias Rathjen nicht aufgehalten.

Erst vor wenigen Tagen hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen zu einem verschlossenen Notausgang der Arena-Bar aufgenommen. Immer wieder hatten Angehörige darauf hingewiesen, dass den Opfern in dieser Shishabar der Fluchtweg abgeschnitten gewesen sei. Auf eine frühere Anordnung der Polizei sei zurückzuführen, dass die Tür verschlossen wurde, um Gäste bei den häufigen Polizeirazzien an der Flucht durch die Hintertür zu hindern.

Weiter werfen die Personen des Killers selbst und seines Vaters schwerwiegende Fragen auf: Tobias Rathjen war den Behörden seit mindestens 18 Jahren als Rassist, Rechtsextremist und Psychopath bekannt. Seit 2002 gab es vier Verfahren gegen ihn, in denen er verschiedener Delikte im Zusammenhang mit Drogen und Gewalt beschuldigt wurde. Immer wieder gab er selbst auch Anzeigen beim Generalbundesanwalt und bei der Staatsanwaltschaft Hanau ein, in denen er behauptete, von einer Geheimorganisation bespitzelt zu werden. Aufgrund eines solchen Schreibens an die Generalbundesanwaltschaft wurde er schon 2002 in die Psychiatrie zwangseingewiesen.

Er war also alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Trotz alledem war der Killer im Besitz eines Waffenscheins, der es ihm erlaubte, mehrere hoch gefährliche Waffen zu besitzen und sich zum Scharfschützen auszubilden. Noch im Jahr vor der Bluttat nahm Rathjen an mehreren Gefechtstrainings teil, darunter Schießübungen in der Slowakei. Ein halbes Jahr vor der Mordnacht von Hanau hatte Rathjen ein 24-seitiges Bekennerschreiben offen ins Internet gestellt. Darin phantasierte der „Trump-Anhänger“ darüber, wie viele Deutsche „reinrassig und wertvoll“ seien, und entwickelte phantastische Völkermordpläne, denen zufolge die Bevölkerung von mehr als zwei Dutzend Staaten, darunter halb Asien und mehrere Kulturen aus Nordafrika und Israel, komplett zu vernichten seien.

Ebenfalls im Sommer 2019 erteilte die zuständige Behörde in Gelnhausen dem Killer die Erlaubnis, seinen Jagdschein erheblich auszuweiten. Dies, obwohl nur wenige Tage davor dieselbe Behörde in die öffentliche Kritik geraten war. Sie hatte auch dem stadtbekannten Rassisten, der den Mordanschlag vom Juli 2019 auf den Eritreer Bilal M. in Wächtersbach verübte, einen Waffenschein nicht abgeschlagen.

Auch Rathjens Vater Hans-Gerd (73) spielt eine äußerst dubiose Rolle. Offenbar teilt der Senior, der weiterhin unbehelligt in Hanau-Kesselstadt lebt, die Verschwörungsphantasien seines Sohnes. Schon früher fiel er als unerträglicher Rassist auf. Schon im März 2017 verlangte er im Bürgerbüro der Stadt Hanau, nur von deutschen Mitarbeitern bedient zu werden. Er kaufte sich einen Schäferhund, angeblich als „Schutz gegen Ausländer“.

In der Tatnacht hatte die Polizei Rathjen Senior kurz verhaftet, aber wieder freigelassen. Nach eigener Aussage will er tief geschlafen und nichts mitbekommen haben, doch eine Nachbarin sah ihn nach der Tatzeit auf der Straße am PKW seines Sohnes hantieren. Noch nach der Tat hat auch er zahlreiche Anzeigen aufgegeben.

Laut einem Spiegel-Bericht fallen beim Vater des Killers nicht nur derselbe Verfolgungswahn wie beim Sohn auf, sondern auch dieselben rassistischen Äußerungen. So habe er gefordert, dass die Gedenkstätten entfernt würden, die er als „Volksverhetzung“ bezeichnete, und er habe Bürgermeister Kaminsky beschimpft, weil dieser gesagt hatte, die Ermordeten seien „keine Fremden“. Der Vater verlangte auch die Tatwaffen und Munition seines Sohnes zurück und forderte, dass die Internet-Seite wieder freigeschaltet werde.

Erst spät wurde bekannt, dass Rathjen Senior sich in einer Eingabe an die Staatsanwaltschaft darüber ausgelassen hatte, dass der Name seines Sohnes und seiner Familie zu Unrecht beschmutzt worden sei. Er stützte sich dabei auf die „Fachliteratur des Herrn Thilo Sarrazin“, dem zufolge „mein Land abgeschafft ist“. Das Schreiben enthielt die ernst zu nehmende Drohung: „Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben erfordern.“

Demonstration nach den Morden in Hanau, 22. Februar 2020

All dies haben die Hinterbliebenen-Gruppen und ihre Anwälte, aber nicht die Ermittlungsbehörden, öffentlich bekannt gemacht. Die Angehörigen finden, Rathjen Senior sei eine „tickende Zeitbombe“, und haben Strafanzeige gegen ihn gestellt. Er habe höchstwahrscheinlich frühzeitig von der geplanten Tat gewusst und sie gebilligt, und möglicherweise sei er am Mord an seiner Frau beteiligt. In jedem Fall habe er seither offen mit weiteren Morden gedroht.

All diese Hinweise ergeben zusammen ein Bild: Die hessischen Behörden lassen derart „tickende Zeitbomben“ völlig unbehelligt laufen. In der Mordnacht ließ die Hanauer Polizei die kaltblütigen Morde lange Zeit geschehen und griff erst sehr spät ein. Und die Staatsanwaltschaft, das Innenministerium und weitere Behörden versuchen offensichtlich seit einem Jahr, die Ermittlungen im Sand verlaufen zu lassen. Die Frage stellt sich: Was haben sie zu verbergen? Welche Freunde oder Sympathisanten hatten Vater und Sohn im Staatsapparat? Welche Verbindungen und rechten Netzwerke werden hier vertuscht?

Bis heute hat die hessische Polizei nicht mit den Angehörigen der Opfer gesprochen, angeblich weil „die Ermittlungen noch laufen“. Es mache sie „fassungslos“, sagte Ajla Kurtović, Hamzas Schwester, dass die Polizei keine einzige Frage beantworte. Ihrer Familie habe man damals eine Woche lang nicht gesagt, wo ihr Bruder sei. Sie hätte niemals geglaubt, dass Ermittlungen so schleppend vorangehen könnten.

Tatsächlich haben die Behörden nach der Mordnacht die Angehörigen der Opfer – nicht jedoch den Vater des Killers – mit einer offiziellen „Gefährder-Ansprache“ bedacht. Darüber berichtete Etris Hashemi, der Bruder des getöteten Said Nesar Hashemi, am Donnerstag in den Tagesthemen.

Etris hatte selbst mit einer Kugel im Hals nur schwerverletzt überlebt. Er habe eine „Gefährder-Ansprache“ erhalten, als er das Krankenhaus verlassen konnte. Darin stand, er solle sich nicht rächen, keine Straftat begehen – „dass ich die Füße stillhalten soll“, wie Etris sagte. „Ich habe das damals als Beleidigung angesehen. Für mich ist es selbstverständlich, dass ich in diesem Land keine Straftat begehe. Und dann bekommen wir nach Monaten, ja fast einem Jahr, mit, dass der Vater sich derart rassistisch äußert!“

Die politischen Fragen

Die Morde von Hanau sind nicht aus heiterem Himmel gekommen. Wie Claus Kaminsky (SPD), Oberbürgermeister von Hanau, am Jahrestag einräumte: „Ich glaube, der Staat hat hier eine große Bringschuld. Aber bisher kommt erkennbar mehr durch die Familien als durch den Staat selber.“

Als unerträgliche Heuchelei ist zu bezeichnen, dass am gestrigen Freitagabend Frank Walter Steinmeier zum „gemeinsamen Kampf gegen Rassismus“ aufrief. „Lasst nicht zu, dass die böse Tat uns spaltet!“ rief der Bundespräsident den Anwesenden auf der Gedenkveranstaltung in Hanau zu.

Allerdings nannte er nicht die wirklichen Verantwortlichen: die Regierungspolitiker von Bund und Ländern. Schließlich hat kein geringerer als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) das Unwort von der Migration als der „Mutter aller Probleme“ geprägt. Er war es auch, der auf einem politischen Aschermittwoch ankündigte, die Regierung werde „bis zur letzten Patrone“ dagegen kämpfen, „dass wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“. Auch das Buch von Thilo Sarrazin (SPD), „Deutschland schafft sich ab“, wurde offenbar zur Inspiration für den Killer und seinen Vater.

Brutale Abschiebungen führen regelmäßig nicht nur die Große Koalition von CDU und SPD in Berlin, sondern auch die hessische Landesregierung durch, in der neben der CDU die Grünen sitzen, und das Linkspartei-regierte Thüringen. Zuletzt hat sich besonders in der Corona-Pandemie gezeigt, dass alle Parteien in der Praxis die Politik der AfD verwirklichen.

Demonstrationszug durch Hanau am 22. Februar 2020

Dennoch hatte der Anschlag auf die Neun von Hanau eine besondere Dimension: Es war ein offener Anschlag auf die Arbeiterklasse. In Hanau-Kesselstadt wohnen hauptsächlich Arbeiterfamilien, die ursprünglich aus Italien, der Türkei, Bosnien oder Rumänien, später aus Syrien und Afghanistan herkamen, und deren Kinder hier geboren und aufgewachsen sind.

Die Eltern arbeiteten am Bau oder bei Dunlop, Heräus, BBC oder anderen Hanauer Industriebetrieben, von denen viele heute geschlossen sind. Die Jüngeren sind in Frankfurt am Main, am Flughafen, in den Opelwerken oder in der Zulieferindustrie tätig. In Hanau-Kesselstadt kennen sich alle und empfinden sich als zusammengehörig. Gegen diese internationale, proletarisch geprägte Nachbarschaft richteten sich die tödlichen Schüsse.

Hier ist auch der Schlüssel zum Verständnis der unbeantworteten Fragen: Spätestens seit der deutschen außen- und sicherheitspolitischen Wende verträgt sich die offizielle Politik immer weniger mit den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung. Schon die schiere Existenz einer wachen und potentiell aufmüpfigen Arbeiterklasse stellt für die regierenden Politiker eine ständige Bedrohung dar.

Die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) treten dem faschistischen Treiben entschieden entgegen. Die SGP fordert die Auflösung des Verfassungsschutzes, den sofortigen Stopp der Abschiebungen und die Schließung aller „Anker“- und Abschiebelager und die gleichen demokratischen und sozialen Rechte für jeden hier lebenden Menschen.

In ihrer Wahlerklärung schreibt die SGP: „Massensterben, soziale Ungleichheit und Krieg sind nicht mit Demokratie vereinbar. Deshalb wendet sich die herrschende Klasse auf der ganzen Welt autoritären Herrschaftsformen zu. (…) In Deutschland ist die rechte Gefahr besonders akut. Polizei, Armee und Geheimdienste sind von rechtsradikalen Terrornetzwerken durchzogen, die von höchster Stelle gedeckt werden. Trotz der tödlichen Terroranschläge in Halle, Hanau und anderen Orten und der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke befinden sich die Führer und Hintermänner der braunen Strukturen nach wie vor auf freiem Fuß (…) Die AfD wurde von Politik und Medien systematisch gestärkt.“

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