Zum 150. Jahrestag

Die Lehren der Pariser Kommune

Am Samstag, den 3. April, veranstaltet die WSWS ein internationales Online-Meeting zum 150. Jahrestag der Pariser Kommune. Hier kann man sich registrieren. Im Vorfeld der Veranstaltung veröffentlichen wir eine Reihe klassischer Werke großer Marxisten des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Bedeutung und Lehren der Kommune analysieren.

Der untenstehende Essay von Leo Trotzki erschien zuerst in französischer Sprache als Vorwort zum Buch „La Commune de 1871“ von C. Talès. Trotzki schrieb ihn am 4. Februar 1921 zum 50. Jahrestages der Pariser Kommune in der Stadt Slatoust. Trotzki war zu diesem Zeitpunkt Oberbefehlshaber der Roten Armee Sowjetrusslands, das 1917 durch die Oktoberrevolution entstanden war. Er untersucht die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Revolutionen von 1871 und 1917. Die unten wiedergegebene deutsche Übersetzung erschien in „Arbeiterliteratur, Jg. 1, Nr. 3/4, Wien 1924, S. 106–118.

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Jedes Mal, wenn wir uns von Neuem in das Studium der Kommune vertiefen, erscheint sie uns unter einem anderen Gesichtspunkt infolge der Erfahrungen, die wir in den späteren revolutionären Kämpfen und hauptsächlich den letzten Revolutionen, nicht nur der russischen, sondern auch der deutschen und ungarischen Revolution gesammelt haben. Der deutsch-französische Krieg war ein blutiges Vorspiel zu dem ungeheuren Weltgemetzel. Die französische Kommune war eine blitzartige Prophezeiung der proletarischen Weltrevolution.

Die Kommune zeigt uns den Heroismus der werktätigen Massen, ihre Fähigkeit, sich zu einem festen Block zusammenzuschließen und sich aufzuopfern, sie zeigt uns aber auch gleichzeitig ihr Unvermögen, den richtigen Weg zu wählen, die Bewegung in die richtigen Bahnen zu lenken, und ihre verhängnisvolle Neigung, nach dem ersten Erfolg Halt zu machen und dem Feind so die Möglichkeit zu geben, seine Stellungen zurückzuerobern und zu festigen.

Kanonen auf dem Montmartre, in Sicherheit gebracht von den Kommunarden, nachdem die Armee am 18. März 1971 versucht hatte, sie zu beschlagnahmen

Die Kommune kam zu spät. Sie hätte am 4. September die Macht erobern und so dem Pariser Proletariat ermöglichen können, an der Spitze der werktätigen Massen den Kampf gegen alle Mächte der Vergangenheit, gegen Bismarck wie gegen Thiers, aufzunehmen. Die Macht geriet jedoch in die Hände geschwätziger Demokraten, der Abgeordneten von Paris. Das Pariser Proletariat hatte weder eine Partei, noch Führer, mit denen es sich aus früheren Kämpfen verbunden gefühlt hätte. Die kleinbürgerlichen Patrioten, die sich Sozialisten wähnten, suchten die Unterstützung der Arbeiter, obwohl sie eigentlich kein Vertrauen zu ihnen hatten. Sie erschütterten das Selbstvertrauen des Proletariats, sie waren fortwährend auf der Suche nach berühmten Advokaten, Journalisten und Abgeordneten, deren ganze Habe in einem Dutzend verschwommener revolutionärer Phrasen bestand, um ihnen die Führung der Bewegung anzuvertrauen.

Der Grund, weshalb Jules Favre, Picard, Garnier-Pagès und Co. die Macht am 4. September an sich reißen konnten, ist derselbe, der es Paul-Boncour, A. Varenne, Renaudel und einigen anderen ermöglichte, eine Zeitlang Führer des Proletariats zu sein.

Die Renaudels, die Boncours und selbst die Longuets und die Pressemanes stehen durch ihre Sympathien, die Art ihrer Intellektualität und ihrer Methoden den Jules Favres und Jules Ferrys viel näher als dem revolutionären Proletariat. Ihre sozialistische Phraseologie ist nur eine historische Maske, die ihnen ermöglicht, sich den Massen aufzudrängen. Und gerade deshalb, weil Favre, Simon, Picard und andere die demokratisch-liberale Phraseologie gebraucht und missbraucht haben, waren ihre Söhne und Enkel gezwungen, Zuflucht zur sozialistischen Phraseologie zu nehmen. Diese Söhne und Enkel sind ihrer Väter würdig geblieben und setzen deren Arbeit fort. Sollte aber die Frage nicht etwa nach der Zusammensetzung irgendeiner Ministerclique aufgeworfen werden, sondern danach, welche Klasse in Frankreich die Macht ergreifen solle, so werden Renaudel, Varenne, Longuet und ihresgleichen im Lager von Millerand, dem Mitarbeiter des Henkers der Kommune Galliffet, zu finden sein. – Wenn die revolutionären Salon- und Parlamentsschwätzer sich Aug in Auge sehen mit der Wirklichkeit der Revolution, erkennen sie sie niemals.

Die wahre Arbeiterpartei ist keine Maschine mit parlamentarischen Praktiken, sondern das organisierte, durch Erfahrung gestählte Proletariat. Nur mit Hilfe einer Partei, die sich auf ihre historische Vergangenheit stützt, die theoretisch den Gang der Entwicklung und alle ihre Etappen voraussieht und daraus den Schluss zieht, welche Form der Aktion im gegebenen Moment die richtigste ist, kann sich das Proletariat von der Notwendigkeit befreien, seine Geschichte, seine Schwankungen, seine Unentschlossenheit und seine Fehler zu wiederholen.

Das Proletariat von Paris hatte keine solche Partei. Die bürgerlichen Sozialisten, von denen es in der Kommune wimmelte, hoben die Augen gen Himmel und warteten auf ein Wunder oder ein prophetisches Wort, und währenddessen tappten die Massen im Dunkeln und verloren den Kopf infolge der Unentschlossenheit der einen und des Phantasierens der anderen. Die Folge war, dass die Revolution zu spät ausbrach. Paris war umzingelt. Sechs Monate mussten verstreichen, bis das Proletariat die Lehren früherer Revolutionen, der vergangenen Kämpfe und des wiederholten Verrats der Demokratie in seinem Gedächtnis wachrief und die Macht ergriff.

Diese sechs Monate waren ein unwiederbringlicher Verlust. Wenn im September 1870 an der Spitze des französischen Proletariats eine straff organisierte Partei der revolutionären Aktion gestanden hätte, würde die Geschichte Frankreichs und damit die ganze Geschichte der Menschheit eine andere Richtung eingeschlagen haben.

Wenn am 18. März die Macht dem Pariser Proletariat in die Hände fiel, so war es nicht die Folge einer bewussten Aktion, sondern die Folge des Rückzuges der Gegner aus Paris. Diese letzteren verloren immer mehr an Einfluss. Die Arbeiter verachteten und hassten sie, das Kleinbürgertum hatte kein Vertrauen mehr zu ihnen, und die Großbourgeoisie fürchtete, sie würden sie nicht verteidigen können. Die Soldaten waren den Offizieren feindlich gesinnt. Die Regierung floh aus Paris, um anderwärts ihre Kräfte zu konzentrieren, und von diesem Moment an beherrschte das Proletariat die Situation. Erst am nächsten Tag kam es ihm aber zum Bewusstsein … Unvorbereitet wurde es von der Revolution überrascht.

Dieser erste Erfolg wurde eine neue Quelle der Passivität. Der Feind war nach Versailles geflohen. War dies nicht ein Sieg? Man hätte in diesem Augenblick die Regierungsbande fast ohne Blutvergießen vernichten können. Man hätte in Paris alle Minister, mit Thiers an der Spitze, verhaften können. Niemand hätte die Hand zu ihrem Schutze erhoben. Aber man unterließ es. Es gab keine geschlossene Parteiorganisation, die einen Überblick über die Gesamtlage gehabt hätte und über die notwendigen Organe zur Ausführung ihrer Beschlüsse verfügte.

Die Reste der Infanterie wollten sich nicht nach Versailles zurückziehen. Das Band, das die Offiziere mit den Soldaten verband, war sehr locker. Und hätte es damals in Paris eine Parteizentrale gegeben, die die Bewegung dirigiert hätte, würde sie in die zurückgehende Armee einige Hundert oder einige Dutzend revolutionärer Arbeiter geschickt und ihnen die Parole gegeben haben: die Unzufriedenheit der Soldaten gegen die Offiziere aufzupeitschen, aus jedem psychologischen Moment Gewinn zu ziehen, die Soldaten von den Offizieren loszureißen, sie nach Paris zurückzuführen, um sich mit dem Volk zu vereinigen, dann wäre dies leicht durchzuführen gewesen, wie selbst die Anhänger von Thiers bezeugen. Doch dachte niemand daran – niemand war da, der daran hätte denken können. Denn während großer Ereignisse können solche Entschlüsse nur von einer revolutionären Partei gefasst werden, die auf die Revolution vorbereitet ist und den Kopf nicht verliert, von einer Partei, die gewohnt ist, die politische Lage zu überblicken, und die keine Angst vor einer Aktion hat.

Und gerade eine aktionsbereite Partei fehlte dem französischen Proletariat.

Das Zentralkomitee der Nationalgarde war in der Tat ein Rat der Abgeordneten der bewaffneten Arbeiter und des Kleinbürgertums. Ein solcher Rat, der unmittelbar von den revolutionären Massen gewählt wird, kann ein glänzender Aktionsapparat sein. Zur gleichen Zeit aber und gerade wegen seiner unmittelbaren und ursprünglichen Verbindung mit den Massen, die sich in dem Zustand befinden, in denen sie die Revolution getroffen hat, spiegelt ein solcher Rat nicht nur alle starken, sondern auch alle schwachen Seiten der Massen wider, und sogar die schwachen Seiten noch mehr als die starken: Man erkennt in ihm den Geist der Unentschlossenheit, des Abwartens, der Tendenz zur Passivität nach dem ersten Erfolg wieder.

Das Zentralkomitee der Nationalgarde brauchte eine Führung. Es hätte unbedingt eine Organisation vorhanden sein müssen, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert hätte und überall zugegen gewesen wäre – nicht nur im Zentralkomitee, sondern auch in den Legionen, den Bataillonen und den untersten Schichten des französischen Proletariats. Die Partei hätte durch den Rat der Abgeordneten – im gegebenen Falle waren es die Organe der Nationalgarde – in ständiger Fühlung mit den Massen sein können. Die Führer hätten jeden Tag eine Parole herausgeben können, die, durch die Parteianhänger in die Massen getragen, ihre Gedanken und ihren Willen geeint hätte.

Kaum hatte sich die Regierung nach Versailles zurückgezogen, als sich die Nationalgarde von jeder Verantwortung lossagte, in einem Augenblick, wo diese Verantwortung ungeheuer groß war. Das Zentralkomitee erfand „legale“ Wahlen für die Kommune. Es trat in Verhandlungen ein mit den Pariser Bürgermeistern, um sich nach rechts durch die „Legalität“ zu schützen.

Hätte man gleichzeitig einen Angriff gegen Versailles vorbereitet, so wären die Verhandlungen mit den Bürgermeistern eine vollkommen gerechtfertigte und zweckentsprechende Kriegslist gewesen. Diese Verhandlungen wurden aber nur geführt, um durch irgendein Wunder dem Kampf auszuweichen. Die kleinbürgerlichen Radikalen und die Sozialisten-Idealisten achteten die „Legalität“ und die Leute, die selbst einen Teil dieser „Legalität“ verkörperten (die Abgeordneten, die Bürgermeister usw.), hofften im Grunde ihrer Seelen, dass Thiers respektvoll vor dem revolutionären Paris Halt machen werde, sobald eine „legale“ Kommune existierte.

Die Passivität und der Entschlussmangel wurden in diesem Falle durch das geheiligte Prinzip der Föderation und der Autonomie unterstützt. Denn Paris ist, seht ihr: nur eine Kommune unter vielen anderen Kommunen. Paris will niemandem etwas aufzwingen. Es kämpft nicht für die Diktatur, es sei denn für die „Diktatur des Beispiels“.

Eigentlich war es nur der Versuch, die sich entwickelnde proletarische Revolution durch eine kleinbürgerliche Reform der kommunalen Selbständigkeit zu ersetzen. Die wahre revolutionäre Aufgabe bestand darin, dem Proletariat die Machtergreifung im ganzen Lande zu ermöglichen. Paris sollte als Basis, als Stützpunkt, als Waffenplatz dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste man, ohne Zeit zu verlieren, Versailles besiegen und überallhin Agitatoren, Organisatoren und bewaffnete Kräfte schicken. Man musste die Sympathisierenden heranziehen, die Zögernden gewinnen und die Opposition der Gegner zerbrechen. Anstatt diese Politik der Offensive zu treiben, die allein die Situation hätte retten können, versuchten die Führer von Paris, sich durch die kommunale Autonomie zu decken: Sie griffen die anderen so lange nicht an, bis sie von ihnen nicht angegriffen wurden; denn jede Stadt habe das geheiligte Recht, sich selbst zu regieren. Das idealistische Geschwätz – so etwas wie mondäner Anarchismus – deckte in Wirklichkeit die feige Angst vor der revolutionären Aktion, die ohne Zaudern bis zum Ziel hätte geführt werden müssen, denn sonst hätte man nicht anzufangen brauchen.

Die feindliche Gesinnung gegen die zentralistische Organisation – eine Erbschaft des kleinbürgerlichen Autonomiegedankens – ist ohne Zweifel die schwache Seite einer bestimmten Fraktion des französischen Proletariats. Die Autonomie der Sektionen, der Bezirke, der Bataillone, der Städte gilt für viele Revolutionäre als Garantie der intensiveren Aktivität und der individuellen Selbständigkeit. Doch ist dies eine falsche Ansicht, die das französische Proletariat schwer hat büßen müssen.

Unter der „Form des Kampfes“ gegen den „despotischen“ Zentralismus und gegen die „erstickende“ Disziplin wird ein Kampf für die Beibehaltung verschiedener Gruppen und Grüppchen der Arbeiterklasse und für kleinliche Interessen im Verein mit den kleinen Führern der Bezirke und ihren lokalen Unterstützern geführt. Die gesamte Arbeiterklasse kann, selbst wenn sie die Eigenart ihrer Kultur und ihre politischen Nuancen beibehält, nur unter der Bedingung mit Methode und Sicherheit handeln und jedes Mal unverzüglich ihre tödlichen Schläge gegen die schwachen Seiten der Gegner führen, dass an ihrer Spitze, über den Bezirken, den Sektionen, den Gruppen sich ein Apparat befindet, der durch eine eiserne Disziplin zusammengehalten ist. Die Tendenz zum Partikularismus, unter welcher Form sie sich auch zeigen mag, ist nur eine Erbschaft der toten Vergangenheit. Je früher der französische Kommunismus – der sozialistische und der syndikalistische – sich davon befreien wird, desto besser wird es für die proletarische Revolution sein.

Die Partei macht nicht willkürlich die Revolution, sie wählt nicht willkürlich den Zeitpunkt, wo sie die Macht ergreift, sie greift aber aktiv in die Ereignisse ein, beeinflusst dauernd die revolutionären Massen, berechnet die Widerstandskraft des Gegners und kann auf diese Weise den geeigneten Augenblick für eine entscheidende Aktion bestimmen. Dies ist die schwierigste Seite ihres Wirkens. Die Partei trifft keine bindenden Entscheidungen für alle Fälle. Sie braucht eine richtige theoretische Grundlage, eine enge Verbindung mit den Massen, Verständnis der Situation, revolutionären Überblick und große Entschlossenheit. Je mehr eine revolutionäre Partei alle Gebiete des proletarischen Kampfes durchdringt, je mehr sie durch die Einigkeit über das Ziel und in der Disziplin mit diesem Kampf verbunden ist, desto schneller und besser wird sie ihre Aufgabe erfüllen.

Die Schwierigkeit besteht darin, die zentralisierte Parteiorganisation, die innerlich durch eiserne Disziplin mit der Bewegung der Massen zusammengeschweißt ist, mit dem Auf und Ab dieser Bewegung in Einklang zu erhalten. Die Macht kann nur durch den gewaltigen revolutionären Druck der werktätigen Massen erobert werden. Eine Vorbereitung dazu ist jedoch unumgänglich notwendig. Und je richtiger die Partei die Konjunktur und den Moment des Handelns berechnet, je straffer die Widerstandskraft organisiert sein wird, je besser die Kräfte und die Rollen verteilt sein werden, desto sicherer wird der Sieg sein und umso weniger Opfer wird er erfordern. Den Ausgleich zwischen einer genau vorbereiteten Aktion und der Bewegung der Massen herzustellen, ist die politisch-strategische Aufgabe der Machtergreifung.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Vergleich zwischen dem 18. März 1871 und dem 7. November 1917 sehr lehrreich. In Paris mangelte es in den Kreisen der revolutionären Führer gänzlich an Initiative. Das von der bürgerlichen Regierung bewaffnete Proletariat war Herr der Stadt, verfügte über alle materiellen Machtmittel – Kanonen und Gewehre –, erkannte aber die Situation nicht. Die Bourgeoisie machte den Versuch, dem Riesen seine Waffen zu stehlen, d. h. die Kanonen zu entwenden. Dieser Versuch missglückte. Die Regierung floh in panischem Schrecken aus Paris nach Versailles. Das Feld war frei. Erst am nächsten Tage aber begriff das Proletariat, dass es Herr von Paris war. Die „Führer“ marschierten hinter den Ereignissen drein, registrierten sie, nachdem sie schon geschehen waren und taten ihr Möglichstes, ihnen die revolutionäre Spitze abzubrechen.

In Petrograd entwickelten sich die Ereignisse anders. Die Partei bereitete sich sicher und entschieden auf die Eroberung der Macht vor. Sie hatte überall ihre Vertrauensmänner, verstärkte jede Stellung und vertiefte die Kluft zwischen den Arbeitern und der Garnison auf der einen Seite und der Regierung auf der anderen Seite.

Julitage 1917 in Petrograd. Der Newski-Prospekt, nachdem die Truppen der Provisorischen Regierung das Feuer auf Demonstranten eröffnet haben

Die bewaffnete Demonstration der Julitage war ein großangelegter Versuch der Partei, die Stärke des Verbundenseins der Massen und die Widerstandskraft des Feindes zu sondieren.

Es entspann sich ein Kampf zwischen den Vorposten. Wir wurden zurückgeworfen, zugleich entstand aber durch die gemeinsame Aktion zwischen der Partei und den breiten Massen ein Solidaritätsgefühl. Die Monate August, September und Oktober sehen das Anwachsen einer mächtigen revolutionären Flut. Die Partei zog daraus ihren Vorteil und verstärkte ihre Stützpunkte in der Arbeiterklasse und der Garnison beträchtlich; danach blieb der Zusammenhang zwischen den Vorbereitungen der Verschwörung und der Massenaktion fast automatisch aufrechterhalten. Der 2. Sowjetkongress war auf den 7. November festgesetzt. Unsere ganze vorherige Agitation lief auf die Machtergreifung durch den Kongress hinaus. So war der Staatsstreich von vornherein für den 7. November vorbereitet. Dies wurde vom Feind wohl erkannt und verstanden. Kerenski und seine Berater mussten versuchen, sich für den entscheidenden Moment in Petrograd zu konzentrieren. So mussten sie vor allen Dingen den revolutionären Teil der Petrograder Garnison aus der Stadt wegschicken. Wir benutzten diesen Versuch Kerenskis, um daraus einen neuen Konflikt heraufzubeschwören, der eine entscheidende Bedeutung gewann. Wir beschuldigten offen die Regierung Kerenskis (unsere Beschuldigung fand später ihre Bestätigung in einem offiziellen Dokument), dass sie den dritten Teil der Petrograder Garnison entfernen wolle, und zwar nicht aus militärischen, sondern aus gegenrevolutionären Gründen. Dieser Konflikt band uns noch enger an die Garnison und stellte diese vor die bestimmte Aufgabe, den auf den 7. November einberufenen Kongress der Sowjets zu unterstützen. Und da die Regierung, wenn auch nicht besonders heftig, darauf bestand, dass die Garnison abziehe, schufen wir, neben dem Petrograder Sowjet, der sich schon in unseren Händen befand, ein revolutionäres Kriegskomitee unter dem Vorwand, die militärischen Gesichtspunkte des Projektes der Regierung zu kontrollieren.

Auf diese Weise kamen wir in den Besitz eines rein militärischen Organs, das an der Spitze der Petrograder Garnison stand und in Wirklichkeit ein legales Organ der bewaffneten Insurrektion war. Gleichzeitig ernannten wir in allen militärischen Formationen – z. B. in militärischen Magazinen usw. – Kommissare (Kommunisten). Die geheime militärische Organisation erfüllte besondere technische Aufgaben und stellte dem revolutionären Kriegskomitee besonders erprobte und zuverlässige Kräfte zur Verfügung. Die Hauptarbeit bestand in der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands und wurde so offen und methodisch betrieben, dass die Bourgeoisie, mit Kerenski an der Spitze, eigentlich nicht begriff, was unter ihren Augen vorging. In Paris begriff das Proletariat erst am nächsten Tag nach seinem wirklichen Sieg – den es übrigens nicht bewusst angestrebt hatte –, dass es Herr der Situation war. In Petrograd geschah das Gegenteil. Unsere Partei, die sich auf die Arbeiter und die Garnison stützte, hatte schon die Macht ergriffen – die Bourgeoisie verbrachte noch eine ganz ruhige Nacht und erfuhr erst am nächsten Morgen, dass sich das Staatsruder in den Händen ihres Todfeindes befand.

Was die Strategie betrifft, so gab es in unserer Partei viele verschiedene Ansichten.

Einige Mitglieder des Zentralkomitees erklärten sich, wie man weiß, gegen die Machtergreifung, weil die Zeit, ihrer Meinung nach, dazu noch nicht reif war, weil dadurch Petrograd vom übrigen Lande und die Arbeiter von den Bauern isoliert werden würden usw.

Andere Genossen dachten, dass wir die Bedeutung der Militärverschwörung nicht hoch genug einschätzten. Ein Mitglied des Zentralkomitees verlangte im Oktober die Einkreisung des Alexandrinski-Theaters, in dem die Demokratische Konferenz tagte, und die Proklamation der Diktatur des Zentralkomitees der Partei. Er sagte: Wenn wir unsere Agitation und unsere vorbereitende militärische Arbeit auf die Zeit des 2. Kongresses konzentrieren, eröffnen wir unseren Plan dem Gegner und geben ihm die Möglichkeit, seine Vorbereitungen zu treffen und uns mit einem Gegenschlag zuvorzukommen. Der Versuch eines Militärkomplotts und die Einkreisung des Alexandrinski-Theaters wären aber ohne Zweifel ein allzu außerhalb der Entwicklung der Ereignisse liegender Eingriff gewesen und hätten die Massen irregeführt. Selbst im Petrograder Sowjet, wo unsere Fraktion den größten Einfluss hatte, hätte ein solches Unternehmen, das der logischen Entwicklung des Kampfes vorgriff, in diesem Moment eine große Verwirrung angerichtet; vor allem auch in der Garnison, wo es zögernde und noch misstrauische Regimenter gab, an der Spitze die Kavallerieregimenter. Kerenski hätte viel leichter eine Verschwörung, die die Massen nicht erwarteten, unterdrücken als die Garnison angreifen können, die immer mehr auf ihrer Unteilbarkeit bestand, um den kommenden 2. Kongress der Sowjets verteidigen zu können. Die Mehrheit des Zentralkomitees verwarf den Plan der Einkreisung der Demokratischen Konferenz und sie hatte damit recht. Der Zeitpunkt war außerordentlich geschickt berechnet: Der Militäraufstand triumphierte fast ohne Blutvergießen an dem Tag, der für die Einberufung des 2. Kongresses der Sowjets festgesetzt war.

Sitzung des Zweiten Allrussischen Kongresses der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten

Diese Strategie kann jedoch nicht zur allgemeinen Regel erhoben, sie kann nur in besonderen Fällen angewendet werden. Niemand glaubte an die Fortsetzung des Krieges mit Deutschland, und die Soldaten, selbst die am wenigsten revolutionär gesinnten, wollten nicht von Petrograd an die Front marschieren. Schon aus diesem Grunde war die Garnison auf der Seite der Arbeiter, und sie wurde in ihrer Absicht immer mehr gefestigt, je offener die Machenschaften Kerenskis zu Tage traten. Diese Stimmung der Petrograder Garnison war noch tiefer in der Lage der Bauernklasse und der Entwicklung des imperialistischen Krieges begründet. Wenn es in der Garnison eine Spaltung gegeben hätte, und wenn Kerenski die Möglichkeit gehabt hätte, sich auf einige Regimenter zu stützen, wäre unser Plan missglückt. Die Elemente einer ausgesprochenen Militärverschwörung hätten überwogen. Selbstverständlich hätte man einen anderen Zeitpunkt zur Insurrektion wählen müssen.

Die Kommune wäre imstande gewesen, sich auch der Bauernregimenter zu bemächtigen; denn diese letzteren hatten das Vertrauen zur Regierung und zur Kommandogewalt verloren. Sie unternahm aber nichts in dieser Richtung. Die Schuld trifft in diesem Falle die revolutionäre Strategie und nicht die Beziehungen zwischen der Arbeiter- und der Bauernklasse.

Wie wird sich in dieser Beziehung gegenwärtig die Lage in Europa gestalten? Es ist nicht leicht, darüber etwas vorauszusagen. Die Ereignisse entwickeln sich langsam, die bürgerlichen Regierungen machen große Anstrengungen, aus den früheren Erfahrungen Nutzen zu ziehen. Es ist vorauszusehen, dass das Proletariat einen starken, gut organisierten Widerstand wird brechen müssen, um sich die Sympathien der Soldaten zu sichern. – Ein geschickter und zur richtigen Stunde erfolgter Angriff seitens der Revolution wird dazu notwendig sein. Darauf sich vorzubereiten ist die Pflicht der Partei. Deshalb muss die Partei ihren Charakter der zentralisierten Organisation beibehalten und entwickeln. Diese Organisation führt offen die revolutionäre Bewegung der Massen und ist gleichzeitig ein geheimer Apparat der bewaffneten Insurrektion.

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Die Frage der Wählbarkeit der Kommandogewalt war ein Konfliktstoff zwischen der Nationalgarde und Thiers. Paris weigerte sich, die von Thiers eingesetzte Kommandogewalt anzuerkennen. Varlin formulierte hierauf die Forderung, dass die gesamte Kommandogewalt der Nationalgarde von den Nationalgarden selbst gewählt werden solle. Hierauf stützte sich das Zentralkomitee der Nationalgarde.

Diese Frage muss von zwei Seiten betrachtet werden: der politischen und der militärischen, die unter sich zwar zusammenhängen, aber doch auseinandergehalten werden müssen. Die politische Aufgabe bestand darin, die Nationalgarde von der gegenrevolutionären Kommandogewalt zu befreien. Die Wählbarkeit war dazu das geeignetste Mittel, denn die Mehrheit der Nationalgarde bestand aus Arbeitern und revolutionären Kleinbürgern – und außerdem, wenn die Parole „Wählbarkeit der Kommandogewalt“ sich auch auf die Infanterie ausgedehnt hätte, hätte Thiers mit einem Schlag seine Hauptstützen, die gegenrevolutionären Offiziere verloren. – Um diesen Vorsatz auszuführen, fehlte es an einer Parteiorganisation, die ihre Vertrauensleute in allen militärischen Formationen gehabt hätte. Kurz, das Verlangen nach der Wählbarkeit der Kommandogewalt verfolgte in diesem Falle nicht das Ziel, der Armee gute Kommandeure zu geben, sondern dasjenige, sie von Kommandeuren, die der Bourgeoisie ergeben waren, zu befreien. – Die Wählbarkeit wurde zum Ausgangspunkt der Spaltung der Armee in zwei Gruppen nach ihrer Klassenzugehörigkeit. So ging auch bei uns zurzeit Kerenskis die Entwicklung vor sich, besonders am Vorabend der Oktoberereignisse.

Die Befreiung der Armee vom alten Apparat der Kommandogewalt hat unvermeidlich die Schwächung der Organisation und des Kampfes im Gefolge. Die gewählte Kommandogewalt ist meistens in technisch-militärischer Hinsicht ziemlich schwach. Auch lockert sich leicht die Ordnung und die Disziplin. In dem Moment, in dem die Armee sich von der alten, gegenrevolutionären Kommandogewalt befreit, muss man ihr eine revolutionäre Kommandogewalt geben, die fähig ist, ihre Aufgabe zu erfüllen. Und diese Frage kann nicht einfach durch die Wählbarkeit gelöst werden. Solange die breiten Massen der Soldaten nicht gelernt haben werden, die Befehlshaber richtig zu wählen, wird die Revolution vom Feind geschlagen werden, weil dieser sich auf Jahrhunderte alte Erfahrungen stützt. Die Methoden der Demokratie müssen in diesem Falle durch eine Wahl von oben ergänzt und teilweise ersetzt werden. Die Revolution muss eine Organisation schaffen, die aus erfahrenen Organisatoren besteht, denen man absolut vertrauen kann, und die die Offiziere wählen und ausbilden können. Bergen Partikularismus und demokratische Autonomie eine große Gefahr schon für die proletarische Revolution in sich, so sind sie für die Armee noch zehnmal gefährlicher. Wir sehen dies an dem tragischen Beispiel der Kommune.

Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee zur Zeit des Bürgerkriegs, nach der Oktoberrevolution

Das Zentralkomitee der Nationalgarde schöpfte seine Autorität aus der demokratischen Wählbarkeit. Als aber das Zentralkomitee die größte Initiative entfalten musste, verlor es den Kopf und beeilte sich, seine Vollmachten den Repräsentanten der Kommune zu überlassen. Es war in diesem Zeitpunkt ein großer Fehler, sich mit der Wählbarkeit zu beschäftigen. Als aber die Wahlen vorbei waren und die Kommune versammelt war, hätte man sofort eine Organisation schaffen müssen, die die Macht zur Reorganisation der Nationalgarde besessen hätte. Es kam aber nicht dazu. Neben der gewählten Kommune funktionierte das Zentralkomitee. Der Charakter seiner Wählbarkeit gab ihm eine politische Autorität, die ihm gestattete, mit der Kommune zu konkurrieren. Zur selben Zeit aber verlor es die Energie und notwendige Festigkeit in den militärischen Fragen, deren Lösung seine Existenz nach der Organisation der Kommune rechtfertigte. Die Wählbarkeit und die demokratischen Methoden sind nur eine der Waffen in den Händen des Proletariats und seiner Partei. Die Wählbarkeit ist kein Fetisch, kein Allheilmittel. Man muss die Methoden der Wählbarkeit mit denen der Ernennung kombinieren. Die Macht der Kommune stammte von der gewählten Nationalgarde. Nach ihrer Wahl hätte die Kommune mit großer Strenge die Nationalgarde von oben bis unten reorganisieren, ihr richtige Führer geben und eine strenge Disziplin einführen müssen. Die Kommune konnte es nicht tun, denn sie hatte selbst kein führendes, revolutionäres Zentrum. So wurde sie erdrückt.

Wir können die ganze Geschichte der Kommune durchblättern, wir finden stets dieselbe Lehre: Eine starke Führung der Partei ist notwendig. Das französische Proletariat hat die größten Opfer für die Revolution gebracht. Es wurde aber auch mehr als alle anderen betrogen. – Die Bourgeoisie hat es durch alle Arten des Republikanismus, des Radikalismus, des Sozialismus zu umgarnen versucht und es dann wieder in kapitalistische Ketten geschlagen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Agenten, ihre Advokaten und ihre Journalisten eine Menge demokratischer, parlamentarischer und autonomistischer Formeln konstruiert, die nur Knüppel zwischen den Beinen des Proletariats sind und seine Vorwärtsbewegung hemmen.

Das Temperament des französischen Proletariats ist eine revolutionäre Lava. Diese Lava ist jetzt von der Asche des Skeptizismus bedeckt infolge des oftmaligen Betruges und der vielen Enttäuschungen. Die revolutionären Proletarier Frankreichs müssen gegen ihre Partei strenger sein und rücksichtslos die Diskrepanz zwischen Worten und Handlungen enthüllen. Die französischen Arbeiter brauchen eine stahlharte Organisation zum Handeln, mit solchen Führern an der Spitze, die durch die Massen bei jeder neuen Etappe der revolutionären Bewegung kontrolliert werden können.

Wie viel Zeit wird uns die Geschichte für Vorbereitungen lassen? Wir wissen es nicht. 50 Jahre lang hielt die französische Bourgeoisie die Macht in Händen, seit sie die Dritte Republik auf den Knochen der Kommunarden errichtet hat. Den Kämpfern von 1871 hat es an Mut nicht gefehlt. Was ihnen fehlte, war Klarheit in der Methode und eine zentralisierte führende Organisation. Deshalb wurden sie besiegt. Ein halbes Jahrhundert verging, bevor das französische Proletariat an Rache für den Tod der Kommunarden denken konnte. Dieses Mal wird die Aktion zielsicherer und konzentrierter sein. Die Nachfolger von Thiers werden ihre historische Schuld ganz bezahlen müssen.

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