Nach „schrittweiser Normalisierung“ nimmt die Pandemie in der Türkei Fahrt auf

Die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan seit Anfang März betriebene Politik der „schrittweisen Normalisierung“ bzw. der ungebremsten „Herdenimmunität“ hat zu einer gesundheitlichen Katastrophe geführt. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist wieder auf 30.000 gestiegen, d. h. auf den höchsten Stand seit Dezember.

Die Regierung hat frühere Beschränkungen aufgehoben und Reisen wieder freigegeben. Grundlage ist eine unwissenschaftliche Einstufung der Städte nach vier Risikokategorien (niedrig, mittel, hoch und sehr hoch). Obwohl sich ansteckende, tödliche Varianten über das Land ausbreiten, wurden die Ausgangssperren am Wochenende weitgehend aufgehoben. Restaurants und Cafés öffneten tagsüber mit 50 Prozent Auslastung. Die Öffnung der schulischen Abschlussklassen für Präsenzunterricht und Prüfungen verschlimmerte das Desaster.

Fußgänger im Einkaufsviertel Kizilay, Ankara, 16. Juni 2020

Wissenschaftler und Gesundheitsexperten warnen, dass die Aufhebung der begrenzten Einschränkungen eine Katastrophe auslösen wird, die das Massensterben vom November-Dezember in den Schatten stellt.

Nachdem die Regierung im vergangenen Herbst die Schulen wieder geöffnet hatte, war es in den letzten beiden Monaten des Jahres 2020 zu über 30.000 Infektionen und mehr als 250 Todesfällen pro Tag gekommen. Begrenzte Maßnahmen, darunter die Schließung der Schulen, reduzierten dann die tägliche Zahl der Fälle Anfang Februar auf 5.000.

Anfang März schritt die Regierung zur „Öffnung“. Sie setzte sich dabei über den Rat der Wissenschaftler und der Organisationen des öffentlichen Gesundheitswesens hinweg, die eine 14- bis 28-tägige vollständige Abriegelung und eine Impfkampagne forderten.

Die World Socialist Web Site warnte damals, dass diese Maßnahmen im Interesse der herrschenden Eliten auf Kosten der Gesundheit und des Lebens der Arbeiter gingen. Die WSWS rief die Arbeiter auf, „für einen Stopp aller nicht lebensnotwendigen Produktion und für die Schließung der Schulen zu kämpfen, bis die Pandemie eingedämmt ist. Die betroffenen Arbeiter und Kleinbetriebe müssen für ihren Einkommensverlust vollständig entschädigt werden.“

Die Regierung hielt jedoch an ihrer Herdenimmunitätspolitik fest. Und so meldete das Gesundheitsministerium am Mittwoch vergangener Woche 29.762 Neuinfektionen und 146 Todesfälle. Am 1. März waren es noch knapp 9.000 Neuinfektionen und 69 Todesfälle gewesen. Amtlichen Daten zufolge gab es in der Türkei bislang insgesamt 3,1 Millionen Infektionen und 30.462 Todesfälle, darunter mindestens 391 Mitarbeiter des Gesundheitswesens.

Doch diese Angaben sind eine Untertreibung der wahren Verluste an Menschenleben. Nach Berechnungen des investigativen Filmemachers Güçlü Yaman gab es bis Anfang März 98.000 überzählige Tote in der Türkei.

Das Land steht nun in Bezug auf die täglichen Neuinfektionen an fünfter Stelle in der Welt. Außerdem ist die Positivrate bei den Tests auf 13 Prozent gestiegen – verglichen mit nur 4 Prozent in den Vereinigten Staaten, wo die gleiche Politik der herrschenden Elite zu fast 560.000 Todesfällen geführt hat. Die Reproduktionsrate (R0) in der Türkei stieg nach den Berechnungen von Prof. Dr. Fatih Tank auf 1,22, was ein exponentielles Wachstum der Infektionen bedeutet.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums stieg die Zahl der schwerwiegenden Fälle auf 1.720. Die Auslastung der Intensivstationen für Erwachsene liegt bei 65 Prozent. Prof. Dr. Bengi Başer wies darauf hin, dass die Sterblichkeitsrate unter den schwer erkrankten Patienten am 24. März ihren bisherigen Höchststand (7,68 Prozent) erreicht hat, und warnte: „Die Situation ist ernst, die UK-Variante zeigt eine fatale Wirkung.“

Am 10. März erklärte Gesundheitsminister Fahrettin Koca: „Bis heute wurden in der Türkei insgesamt 41.488 (UK)-B.1.1.7-Mutanten in 76 Provinzen, 61 (Südafrika)-B.1.351-Mutanten in 9 Provinzen, 2 (Kalifornien-New York)-B.1.427-Mutanten in 1 Provinz und 1 (Brasilien)-P.1-Mutant entdeckt“.

Nach offiziellen Angaben leben 87 Prozent der Bevölkerung, also fast 72 Millionen Menschen, in Städten, für die offiziell ein „hohes Risiko“ oder „sehr hohes Risiko“ besteht. Das sind Gebiete, in denen die Inzidenzrate über 50 bzw. 100 pro 100.000 Einwohnern liegt. Dieser Wert beträgt 251 in Istanbul und 508 in Samsun (hier ist die Inzidenzrate am höchsten).

Als Erdoğan die Öffnungspolitik bekannt gab, versprach er, dass im Falle zunehmender Risiken wieder Beschränkungen eingeführt würden. Aber es wurden keinerlei Maßnahmen in dieser Richtung ergriffen. Tatsächlich ignoriert die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) selbst die begrenzten bestehenden Einschränkungen.

Mehr als 1.000 Delegierte wurden mit Bussen nach Ankara gebracht, um am Sonntag am Parteitag der AKP teilzunehmen. Erdoğan hielt eine Kundgebung vor der Kongresshalle ab. Die Anwesenheit von 1.500 Delegierten in der Halle rief in der Bevölkerung großen Unmut hervor. Wörtlich erklärte Erdoğan: „Ich begrüße Sie bei einem Treffen, bei dem Schneefall alle Keime vernichtet.“

Die Verantwortung für die verbrecherische Politik der herrschenden Klasse, die Zehntausende von Toten und Millionen von Infektionen verursacht hat, liegt in erster Linie bei der Regierung Erdoğan. Aber die bürgerlichen Oppositionsparteien, angeführt von der Republikanischen Volkspartei (CHP), haben sich seit Beginn der Pandemie an dieser Politik mitschuldig gemacht. Sie haben im Parlament keinen ernsthaften Widerspruch erhoben und verfolgen in den von ihnen regierten Städten genau dieselbe Politik.

Die Gewerkschaften und pseudolinken Gruppen haben sich der Herdenimmunitätspolitik der Regierung völlig angepasst. Die Bildungsgewerkschaften machen der Regierung nur Vorschläge, während unter den Massen der Arbeitern die Wut über die Wiedereröffnung der Schulen wächst. Die pseudolinken Parteien, die sich hinter der CHP einreihen, schweigen und machen sich damit mitschuldig.

Das türkische Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Der Vorsitzende der Ärztekammer Izmir, Lütfi Çamlı, erklärte gegenüber der Tageszeitung BirGün: „Die Krankenhäuser in Izmir sind jetzt an der Belastungsgrenze. Vor allem seit Anfang der Woche sind fast alle Pandemie-Dienste und Intensivbetten voll ausgelastet.“

In Bezug auf die Auswirkungen der Schulöffnungen warnte Çamlı: „Wenn nicht dringend Maßnahmen ergriffen werden, um den Anstieg der Infektionen zu stoppen, und die Zahl der Fälle nicht gesenkt werden kann, wird es für das Gesundheitssystem nicht möglich sein, den Bedarf zu decken.“

Die Istanbuler Ärztekammer veröffentlichte am 23. März einen Bericht, in dem sie betonte, dass Covid-19 zu einer „Krankheit der Arbeiterklasse“ geworden ist. Grund sei die Politik der Regierung: „Die Räder sollen sich drehen, die Produktion soll weitergehen.“ Die Pandemie zeige, „wie schädlich es für die öffentliche Gesundheit ist, die Gesundheitsversorgung durch Privatisierungspolitik der Anarchie des Marktes zu überlassen“.

Außerdem kommen die Impfungen in der Türkei wie überall nur langsam voran. Bis Donnerstag, als die Verteilung der ersten Dosen des Impfstoffs ausgesetzt wurde, waren erst 7,2 Prozent der türkischen Bevölkerung bzw. 6,1 Millionen Menschen vollständig geimpft.

In der vergangenen Woche erhielten täglich weniger als 20.000 Menschen die erste Dosis. Neue Impfstofflieferungen sind ungewiss. Und so fragen Mitarbeiter des Gesundheitswesens in den sozialen Medien: „Wo bleiben die Impfstoffe?“ Außerdem wurden trotz des Versprechens der Regierung, die Lehrer zu schützen, nach Angaben des Bildungsministeriums bisher nur 10 Prozent der Lehrer geimpft.

Die Pandemie verschärft die soziale Katastrophe, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist. Das Kurzarbeitergeld für 1,3 Millionen Betroffene läuft zum Ende dieses Monats aus. Einem aktuellen Bericht des Gewerkschaftsbundes DİSK zufolge ist die Zahl der Arbeitslosen real auf 9.638.000 bzw. 27,4 Prozent gestiegen. Im Jahr 2020 stieg die Zahl der Gelegenheitsarbeiter, die weniger als 40 Stunden pro Woche beschäftigt sind, um 900.000 auf 1.251.000.

Nachdem Präsident Erdoğan am vergangenen Freitag den Chef der Zentralbank entlassen hatte, verlor die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar fast 10 Prozent ihres Werts. Dadurch wurden die Lebenshaltungskosten für Arbeiter weiter in die Höhe getrieben.

Aufgrund dieser wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise fürchtet die Regierung eine soziale Explosion. Sie setzt daher auf antidemokratische Maßnahmen, um die Arbeiterklasse entlang nationaler Linien zu spalten und ihren Widerstand abzulenken. Letzte Woche leitete sie ein Verbotsverfahren gegen die kurdisch-nationalistische Demokratische Volkspartei (HDP) ein.

Wie die World Socialist Web Site aus diesem Anlass unterstrich, erfordert die Verteidigung der demokratischen Rechte, der Gesundheitsversorgung und des menschlichen Lebens die Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, das gegen die Herdenimmunitätspolitik der herrschenden Klasse gerichtet ist.

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