Bulgarien: Wahl verschärft politische Krise

Nach den ersten Ergebnissen ist die rechts-konservative Partei GERB von Regierungschef Bojko Borissow erneut als stärkste Kraft aus den bulgarischen Parlamentswahlen vom Sonntag hervorgegangen. Sie erreichte nur noch rund 24 Prozent der Stimmen und verlor damit etwa 10 Prozent gegenüber der Wahl von 2017. Die Wahlbeteiligung lag mit 47,5 Prozent auf einem historischen Tiefstand.

Bojko Borissow (Bild: EVP / CC BY-SA 2.0)

Obwohl das endgültige Wahlergebnis erst am Donnerstag erwartet wird, ist bereits jetzt klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur die Politik der rechten Borissow-Regierung ablehnt, sondern auch kein Vertrauen in die anderen etablierten Parteien des Balkanlandes hat. Die oppositionellen Sozialisten (BSP) kamen nach der vorläufigen Auszählung auf rund 15 Prozent und verloren damit etwa 12 Prozent gegenüber der letzten Wahl. Die ultra-nationalistische WMRO, die zuletzt eine Koalition mit Borissow gebildet hatte, scheiterte an der Vier-Prozenthürde und wird im neuen Parlament nicht vertreten sein.

Ins Parlament einziehen wird dagegen die Partei „Demokratisches Bulgarien“, die mit Ex-Justizminister Hristo Ivanov an der Organisation der Massendemonstrationen gegen Borissow im letzten Jahr beteiligt war. Sie lag mit rund 10 Prozent knapp vor der Partei der türkischen Minderheit, die mit 9,4 Prozent erneut in das 240 Sitze umfassende Parlament einziehen wird.

Von der Niederlage der etablierten Parteien konnte die Partei „Es gibt ein solches Volk“ des Fernsehmoderators und Sängers Slawi Trifonow profitieren. Die 2019 gegründete Partei wurde bei der ersten Wahlteilnahme mit über 18 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft.

Dabei beschränkt sich das politische Programm der Partei auf eine vage Kritik an der grassierenden Korruption im Land und am Einfluss der Regierung auf die Medien. Während des Wahlkampfs hielt Trifonow keine Veranstaltungen oder Kundgebungen ab. Die Wahlabschlussveranstaltung war ein Musikkonzert in einer leeren Halle. Vor allem Wähler unter 30 stimmten mehrheitlich für Trifonow.

Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Bulgaren der Wahl fernblieb und fast ein Fünftel der Wähler für einen bekannten Entertainer ohne nennenswertes politisches Programm stimmte, spricht Bände über die politischen Zustände im ärmsten EU-Mitgliedsstaat.

Dass Borissow kaum über Rückhalt in der Bevölkerung verfügt, hatte sich bereits nach der letzten Wahl 2017 gezeigt. Um eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit zu erreichen, ging GERB eine Koalition mit dem faschistischen Parteienbündnis Vereinigte Patrioten (VP) ein. Dem Bündnis gehörten die Nationale Front zur Rettung Bulgariens, die Innere Revolutionäre Mazedonische Organisation (WMRO) und Ataka an.

Die WMRO, die größte der drei Organisationen, ist Nachfolgerin einer nationalistischen Kampforganisation, die jahrzehntelang mit terroristischen Mitteln für ein Großbulgarien unter Einschluss Mazedoniens gekämpft hatte. Auch die Nationale Front zur Rettung Bulgariens vertritt offen faschistische und rassistische Standpunkte. Sie war 2011 aus der Ataka-Partei hervorgegangen.

Im letzten Jahr hatten über zwei Monate hinweg fast jeden Tag Tausende Menschen gegen den Premier und die Regierung demonstriert. Sie forderten ihren Rücktritt, Neuwahlen und grundlegende Reformen im Staatsapparat. Borissow, der seine Karriere in der stalinistischen KP begonnen hatte, gilt als Verkörperung eines Systems, das von Korruption und einer engen Verflechtung von Oligarchen, Politik und Staat geprägt ist. Obwohl die Proteste von ebenso diskreditierten Figuren organisiert wurden, drückte sich darin eine weit verbreitete Opposition gegen die politischen und sozialen Zustände im Land aus.

Während sich die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung immer weiter verschlechtern, erhöhte die Regierung die Ausgaben für die innere und äußere Aufrüstung und führte rassistische Kampagnen gegen Flüchtlinge und die Minderheit der Roma.

Aus einem Bericht des Verbands der unabhängigen Gewerkschaften geht hervor, dass 65 Prozent der Bevölkerung derzeit nicht oder kaum in der Lage sind, ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Bei monatlichen Kosten für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern von 1300 Euro verdienen 22 Prozent der Haushalte weniger als die 185 Euro pro Haushaltsmitglied im Monat, die als Armutsgrenze gelten. Weitere 43 Prozent der Haushalte haben ein Monatseinkommen, das zwischen dieser Armutsgrenze und den 1300 Euro liegt. Lediglich 35 Prozent erzielen demnach Einkommen über 1300 Euro.

Die Corona-Pandemie hat die Situation im letzten Jahr noch weiter verschärft. Während die Arbeitslosigkeit gestiegen ist, ist der durchschnittliche Stundenlohn 2020 gesunken. Er beträgt mittlerweile nur noch 2,40 Euro. In der Tourismusbranche gingen die Löhne um fast 30 Prozent zurück, während die Zahl der Beschäftigten um 40 Prozent sank. In der Luftverkehrsbranche sind die Löhne um 28 Prozent und die Zahl der Beschäftigten um 19 Prozent gesunken.

Gleichzeitig ist die Politik der Regierung verantwortlich für eine katastrophale Ausbreitung des Coronavirus. In dem Land mit knapp 7 Millionen Einwohnern lag die Zahl der täglichen Neuinfektionen Ende März über 4200 und erreichte damit neue Höchststände. Mittlerweile sind offiziellen Angaben zufolge 13.589 Menschen an Covid-19 verstorben. Die Kliniken des Landes sind vollkommen überlastet. „Wir sind fast an unserer Grenze“, sagte Assen Baltow, Direktor des größten Notfallkrankenhauses Bulgariens, kürzlich in einem Radiointerview. Mit 12.145 Fällen sind die Infektionen unter medizinischem Personal extrem hoch.

Noch am 1. März, als sich die weitere Welle bereits ankündigte, öffnete die Regierung nach einem Lockdown Ende letzten Jahres die Gastronomie und andere Einrichtungen. Obwohl Mediziner und Experten vor den Folgen eines solchen Schritts warnten, lobten Regierungsvertreter dieses „bulgarische Modell“. Die Folge war ein rasanter und dramatischer Anstieg der Fallzahlen, der weiter anhält.

Besonders betroffen ist die Minderheit der Roma. Im letzten Jahr wurden teilweise ganze Siedlungen von der Polizei abgeriegelt, angeblich um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Die Bewohner durften nur in Ausnahmefällen ihre Viertel verlassen. Nicht selten verloren dadurch die wenigen, die einen hatten, ihren Arbeitsplatz, da sie ihn nicht erreichen konnten. Staatliche Unterstützung erhalten Roma nur in seltenen Fällen.

In den Elendsvierteln kann sich die Infektion ideal ausbreiten. Große Familien müssen auf engstem Raum zusammenleben. Während in Bulgarien durchschnittlich eine Person über 23 Quadratmeter Wohnfläche verfügt, sind es unter den Roma nur 11. Die Hälfte der von Roma bewohnten Häuser verfügt noch nicht einmal über einen Anschluss an die Kanalisation. Technische Voraussetzungen, die für das Home-Schooling für Kinder notwendig wären, gibt es nicht.

Bereits jetzt ist klar, dass die Regierungsbildung schwierig sein wird und es möglicherweise weitere Wahlen gibt, sollte es zu keiner Einigung unter den Parteien kommen. Die GERB-Regierung genießt in der EU ungeachtet ihrer Koalition mit faschistischen Kräften und ihrer katastrophalen Corona-Politik die Unterstützung der mächtigsten Staaten, da Borissow einen EU-freundlichen Kurs fährt und keine engen Beziehungen zu Russland pflegt.

Borissow reagierte auf die Niederlage, indem er zur Bildung einer „Experten-Regierung“ aufrief, die von allen Parteien unterstützt wird. „Ich bin froh, dass so viele Parteien ins Parlament gekommen sind, weil ich es leid bin, allein verantwortlich zu sein,“ erklärte er. Borissow ist sich sehr wohl bewusst, dass unter den gegenwärtigen Umständen erneut Massenproteste ausbrechen könnten, die von keiner der völlig diskreditierten Parteien aufgefangen werden können.

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