Anhaltende Proteste gegen bulgarischen Premier Borissow

Seit mehr als zwei Monaten demonstrieren in Bulgarien fast jeden Tag Tausende Menschen gegen Premierminister Bojko Borissow. Sie fordern den Rücktritt der rechtskonservativen Regierung, Neuwahlen und grundlegende Reformen im Staatsapparat. Bulgarien gilt als ärmstes und korruptestes Land innerhalb der Europäischen Union.

In der letzten Woche erreichten die Proteste ihren vorläufigen Höhepunkt. Dabei gingen Sicherheitskräfte mit großer Härte gegen Protestierende vor. 120 Personen wurden festgenommen, rund 60 verletzt. Mindestens 38 Personen mussten laut Presseberichten ins Krankenhaus eingeliefert werden, darunter mehrere Journalisten.

Die Demonstrationen in Bulgarien weisen viele Ähnlichkeiten mit den Protesten gegen Präsident Lukaschenko in Weißrussland auf. Aber im Gegensatz zu letzteren finden sie in den deutschen und europäischen Medien kaum Aufmerksamkeit.

Borissow 2018 mit dem damaligen EU-Ratspräsidenten Tusk (Foto Kiril Konstantinov SA_BY_CC 2.0)

Der Grund dafür ist einfach: Borissows Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) ist Mitglied der Europäischen Volkspartei, der auch die CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angehört. Und er verfolgt einen strikt proeuropäischen Kurs, während Präsident Rumen Radew, der die Proteste gegen die Regierung unterstützt, stärker in Richtung Russland neigt.

Borissow, der seine politische Karriere in der stalinistischen Kommunistischen Partei Bulgariens begonnen hatte, ist seit 2009 an der Macht. Zwei Mal trat er nach Massenprotesten zurück, gelangte aber schnell wieder zurück an die Regierung. Seit Frühjahr 2017 regiert er in einer Koalition mit den Vereinigten Patrioten (VP), einem Bündnis rechtsextremer und faschistischer Organisationen.

Borissow gilt als Verkörperung eines Systems, das von Korruption und einer engen Verflechtung von Oligarchen, Politik und Staat geprägt ist. Die Proteste seien „der Ausbruch einer sich lange angehäuften Empörung gegen die Korruption und die Arroganz der Macht, gepaart mit der Angst vor der kommenden schlimmen Wirtschaftskrise“, sagte Hristo Iwanow, der früher selbst Minister unter Borissow war, der Deutschen Welle.

Iwanow hatte die Proteste durch eine spektakuläre Aktion mit ausgelöst. Er drang in die Luxusresidenz von Ahmed Dogan ein, die sich auf öffentlichem Grund befindet und illegal von staatlichen Sicherheitsleuten abgeriegelt wird. Dogan gilt als einer der reichsten und politisch einflussreichsten Männer des Landes. Als Iwanow das Video über die Aktion ins Netz stellte, fand es über eine Million Zuschauer.

Auch die Durchsuchung der Arbeitsräume von zwei Beratern von Staatspräsident Radew fachte die Proteste an. Radew, ein ehemaliger General, wird von der oppositionellen Sozialistischen Partei (BSP) unterstützt. Die Protestierenden fordern auch den Rücktritt von Generalstaatsanwalt Iwan Geschew, der als Gehilfe Borissows gilt.

Borissow hat seine Machtposition systematisch mit Hilfe von Polizei und Militär gefestigt. Weite Teile der Presse und der Justiz befinden sich unter der Kontrolle von Regierung und mit ihr verbündeten Oligarchen. Eine Verfassungsänderung, die Borissow anstrebt, soll die Befugnisse des Präsidenten beschneiden und die staatlichen Organe weiter stärken.

Losan Panow, der Vorsitzende Richter des Obersten Verwaltungsgerichts, der Borissows Gegner unterstützt, sprach im Spiegel von einem „gekaperten Staat“. „In unserem Land gibt es eine oligarchische Verschmelzung der Legislativ- und Exekutivgewalt sowie der Justiz“, sagte er dem deutschen Nachrichtenmagazin. So sei Dejan Peewski, der Besitzer eines Medienimperiums, „nicht formal, aber faktisch Co-Premier. Schlüsselinstitutionen und -behörden stehen unter seinem Einfluss“. Der Europäischen Union warf Panow vor, den Krebs der Korruption in Bulgarien mit ihren Fördergeldern zu nähren.

Die Proteste sind sozial heterogen und haben keine klare Perspektive. Es dominieren Rufe nach einem „Systemwechsel“ und einem Ende der Korruption. Unter den Protestierenden sind vorwiegend junge, gebildete Menschen aus den Großstädten.

„Das Spektrum der Teilnehmer an den allabendlichen Protestmärschen durch die Innenstädte reicht von jungen Klimaaktivisten über Anhänger der ehemaligen KP, bis hin zur traditionell konservativen urbanen Mittelschicht und im westlichen Ausland studierenden jungen Bulgaren, die wegen Corona für längere Zeit in der Heimat sind“, berichtete die bulgarische Rundfunkmoderatorin Vessela Vladkova dem MDR. „Was sie eint, ist die Wut gegen die Vetternwirtschaft, in der die gesamte bulgarische politische Elite verwickelt sei. Was sie antreibt, sind ihre unerfüllten Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen seit dem EU-Beitritt Bulgariens 2007.“

Derzeit protestierten „vor allem junge Menschen, die weniger in einer sozial bedrängten Lage sind, als vielmehr besorgt um die Zukunft des Landes und die Moral der politischen Elite“, so Vladkova. Für die Regierung werde es aber dann eng, „wenn sich Jene anschließen, die in der anrollenden Wirtschaftskrise wegen der Corona-Pandemie im Herbst und im Winter verarmen werden“.

Tatsächlich demonstrieren bereits jetzt zahlreiche Arbeiter und Angestellte gegen die Regierung. Eine Gruppe von Krankenschwestern protestiert seit Wochen vor dem Gesundheitsministerium in Sofia.

Gleichzeitig versuchen Oppositionsparteien die Proteste zu dominieren, die konkurrierende Cliquen der herrschenden Klasse im Land vertreten. So ist der PR-Mann Arman Babikjan, einer der Organisatoren der Proteste, bestens in der bulgarischen Elite vernetzt. Er versucht, über die Proteste die diskreditierten und zersplitterten Oppositionsparteien zu einen und gegen Borissow in Stellung zu bringen.

So erklärte Babikjan, er persönlich würde es begrüßen, wenn „der Bürgerprotest eine Führung benennt“. Dabei ist er auch bereit, mit der extremen Rechten zusammenzuarbeiten. „Wenn es um die Grundlagen der Demokratie geht, gibt es kein links oder rechts“, erklärte er. Wie Richter Losan Panow appelliert auch Babikjan an die Europäische Union, die Protestbewegung zu unterstützen.

Ihre politischen Differenzen mit Borissow sind minim. In den 30 Jahren seit der Restauration des Kapitalismus haben auch in Bulgarien sämtliche Parteien und Cliquen ihre Interessen auf dem Rücken der Arbeiter durchgesetzt. Die EU selbst ist für die katastrophalen Bedingungen im Land verantwortlich. Die Spardiktate der letzten Jahrzehnte haben weite Teile der Bevölkerung ins Elend gestoßen.

Die Corona-Pandemie verschärft die soziale Krise. Bisher wurden in dem 7-Millionen-Einwohner-Land fast 18.000 Infektionen 700 Todesfälle gemeldet. Inzwischen gibt es in Betrieben und Schulen keine Schutzmaßnahmen mehr. Die Regierung hat weitere Maßnahmen kategorisch ausgeschlossen, die in irgendeiner Weise die Interessen der Wirtschaft beschneiden könnten.

Die ohnehin grassierende Armut im Land ist während der Coronakrise weiter gestiegen. Arbeiter in prekärer Beschäftigung haben ihren Job verloren und zahlreiche Arbeiter, die ihren Lohn im Ausland verdienen, konnten die Reise dorthin nicht antreten. Schon vor Corona waren über ein Drittel aller Kinder in Bulgarien von Armut gefährdet.•

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