Perspektive

Der Mord an Daunte Wright und die Klassenfragen im Kampf gegen Polizeigewalt

Seit dem Polizeimord in Minneapolis am vergangenen Sonntag nehmen in den USA die Proteste gegen Polizeigewalt erneut zu. Am Nachmittag des 11. April war der 20-Jährige Daunte Wright bei einer Verkehrskontrolle in Brooklyn Center, einem Vorort von Minneapolis im Bundesstaat Minnesota, von Polizisten erschossen worden. Die Proteste begannen kurz nach dem Mord und breiteten sich am Montag im ganzen Land aus – von New York bis Portland (Oregon).

Der junge Vater Wright war unbewaffnet, als er von der Polizistin Kimberly Potter erschossen wurde. Potter, die seit 26 Jahren im Dienst ist und die Polizeigewerkschaft von Brooklyn Center leitet, tötete ihn mit nur einem Schuss in die Brust. Die Mutter des Opfers, Katie Wright, erzählte gegenüber der Presse, dass die Polizei die Leiche ihres Sohnes einfach am Ort liegen ließ. „Niemand gibt uns Erklärungen. Niemand redet mit uns... Ich sagte, bitte bringen Sie meinen Sohn weg.“

Demonstranten stehen einer Polizeieinheit gegenüber bei einem Protest nach der Erschießung von Daunte Wright durch die Polizei, 12. April 2021, Brooklyn Center (AP Photo/John Minchillo)

Der Mord ereignete sich vor dem Hintergrund der wachsenden Wut über Polizeigewalt. Ein jüngst veröffentlichtes Video zeigt, wie Polizisten in Virginia im Dezember letzten Jahres einen schwarzen Offizier während einer Verkehrskontrolle angriffen. Ende März wurde ein 13-jähriger Junge in Chicago von der Polizei getötet.

Gleichzeitig findet auch der Prozess gegen den ehemaligen Polizeibeamten Derek Chauvin in Minneapolis statt, der wegen dem Mord an George Floyd vor fast einem Jahr, am 25. Mai 2020, angeklagt ist. Der Mord an Floyd, der von Passanten auf Video festgehalten und online gepostet wurde, löste multiethnische Massenproteste in den USA und weltweit aus. Die Demonstranten forderten ein Ende von Rassismus und Polizeigewalt.

Die Lage in Minneapolis blieb seit den Protesten des letzten Jahres angespannt. Die herrschende Klasse ist äußerst beunruhigt angesichts möglicher Proteste in Reaktion auf den Chauvin-Prozess. In Vorbereitung auf den Prozess wurde das Regierungszentrum in der Innenstadt mit Zäunen, Betonbarrieren und Stacheldraht gesichert. Die Nationalgarde bewacht Kontrollpunkte und steht bereit, um schnell auf Proteste reagieren zu können.

Demonstranten, die sich am Sonntag in der Nähe des Ortes von Wrights Erschießung und vor der Polizeistation versammelten, wurden von der Bereitschaftspolizei mit Tränengas, Pfefferkugeln und Gummigeschossen attackiert. Die Polizei bekam umgehend Verstärkung von Soldaten der Nationalgarde. Bei Protesten am Montagabend wurden 40 Menschen verhaftet, viele für den Verstoß gegen eine Ausgangssperre ab 19 Uhr, die in der gesamten Region gilt.

Die Polizei von Brooklyn Center gab schnell die Erklärung ab, dass Potters Schuss in Wrights Brust ein „versehentlicher Abzug“ der Waffe war, die sie mit ihrem Taser verwechselt hatte. Auf dem Video der Body-Cam ist zu hören, wie sie schreit: „Ich werde dich tasern!“, bevor sie schießt. Danach rief sie: „Heilige Scheiße! Ich habe ihn erschossen.“ Potter wurde vom Dienst freigestellt und kündigte am Dienstag bei der Polizei.

Potter hatte langjährige Erfahrung und war zum Zeitpunkt der Tat auch Ausbilderin bei der Polizei. Daher ist es unwahrscheinlich, dass sie ihre Waffe mit einem Taser verwechseln würde. Ein ähnliches Argument der Verwechslung mit dem Taser wurde 2009 von der Polizei vorgebracht, um die Ermordung von Oscar Grant in Oakland, Kalifornien, zu rechtfertigen.

Wrights Tod ist der sechste Polizeimord in Brooklyn Center seit 2012. Die Stadt musste bereits 490.000 Dollar auszahlen, um sieben Fälle von polizeilichem Fehlverhalten zwischen 2007 und 2017 zu schlichten. Der Bundesstaat Minnesota zählt 207 Polizeimorde in den letzten zwanzig Jahren, im Schnitt fast ein Toter pro Monat. In den gesamten Vereinigten Staaten läuft die Spirale der Polizeigewalt auch im Jahr 2021 mit Tempo weiter, mit fast drei Toten am Tag.

Diese endlose Welle der Polizeigewalt setzt sich Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr fort – egal, ob Demokraten oder Republikaner an der Macht sind. Polizeigewalt ist ein Merkmal des kapitalistischen Systems, einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, in der die Arbeiterklasse für die Profite einer kleinen Minderheit an der Spitze ausgebeutet wird.

Die tägliche Brutalität in Arbeitervierteln und gegen Jugendliche ist keine Rassenfrage, sondern eine Klassenfrage. Die Proteste, die nach dem Mord an Wright ausgebrochen sind, müssen zu einer Bewegung mit einer klaren Klassengrundlage entwickelt werden. Der Widerstand nimmt bereits zu, etwa bei den Streiks für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen von Bergarbeitern bei Warrior Met Coal in Alabama, Stahlarbeitern bei ATI in Pennsylvania und unter Studenten an der Columbia University und der New York University.

Dieser Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung muss mit dem Widerstand gegen Polizeigewalt verbunden werden. Arbeiter dürfen nicht abseitsstehen und zulassen, dass die Polizei ungestraft tötet. Die militarisierten Polizisten, die Menschen schikanieren und töten, werden sich gegen die gesamte Arbeiterklasse wenden.

Minnesota hat eine mächtige Tradition des Klassenkampfs, in der bittere Erfahrungen mit der Polizei gemacht wurden – von den Streiks der Bergarbeiter in den Eisenminen Anfang des 20. Jahrhunderts über den Minneapolis-Generalstreik von 1934, als Arbeiter unter der Führung sozialistischer Gewerkschafter erfolgreich die Polizei und die Schläger der Konzerne abwehrten, bis hin zum erbitterten Kampf der Arbeiter beim Nahrungsmittelkonzern Hormel von 1985 bis 1986. Die Polizei und die Nationalgarde stellen sich immer auf die Seite der Konzernbosse und schlagen die Streiks nieder, indem sie Streikbrecher schützen und zugleich Arbeiter verprügeln und umbringen.

Trotz der Forderungen der Demokratischen Partei und von Black Lives Matter nach mehr ethnischer Vielfalt, ziviler Kontrolle und dem Einsatz von Bodycams hat sich die Polizei als resistent gegenüber Reformen erwiesen. Die populäre Forderung „Defunding the police“, also der Polizei weniger Geldmittel zur Verfügung zu stellen, haben die Demokraten zurückgewiesen. Präsident Joe Biden sprach sich vielmehr für eine Aufstockung des Polizeietats aus und gab in den ersten Monaten seiner Amtszeit 33 Millionen Dollar für militärische Ausrüstung der Polizei aus.

Während Vizepräsidentin Kamala Harris, ehemalige Attorney General und „Top-Cop“ von Kalifornien, am Montag twitterte, dass „unsere Nation Gerechtigkeit und Heilung“ braucht, geht die Epidemie der Polizeigewalt weiter wie unter Präsident Donald Trump. Die Rhetorik mag sich geändert haben, aber die Polizeigewalt bleibt dieselbe.

Die Proteste nach dem Mord an Wright sind Ausdruck echter Empörung über die Polizeigewalt und die tägliche Misshandlung der Bevölkerung. Die sozialen Spannungen explodieren nach einem Jahr der Pandemie, die mehr als 577.000 Amerikaner getötet und das Leben von Millionen Menschen zerstört hat. Die amerikanische Gesellschaft ist noch ungleicher geworden: Die Reichsten vermehrten ihre Vermögen um 4,1 Billionen Dollar, während Millionen ihren Job verloren haben und gezwungen sind, von Almosen zu leben oder zur Arbeit in die Betriebe, Lagerhäuser und Schulen zurückzukehren, wo sich das Virus ausbreitet.

Es ist dieses historische Maß an sozialer Ungleichheit, das die Polizei verteidigen muss. Die Demokraten unterstützen einerseits die Polizei und gehen wie in Minnesota gegen Proteste vor. Andererseits propagieren sie das Narrativ, Polizeigewalt sei grundsätzlich eine Frage der Hautfarbe. Auf diesem Weg versuchen sie, die Arbeiter – die Hauptopfer der Gewalt – zu spalten.

Aus der jüngsten Welle der Proteste gegen Polizeigewalt sollte der Schluss gezogen werden, dass sie nicht isoliert bleiben oder in die Sackgasse der Identitätspolitik der Mittelklasse geführt werden dürfen. Breite Schichten der Arbeiterklasse müssen die Demonstrationen gegen Wrights Ermordung unterstützen. Die Proteste müssen von einem Verständnis der damit verbundenen Klassenfragen getragen sein. Die Polizei ist eine Institution, die dazu dient, die Interessen der Kapitalistenklasse zu schützen und den Staat gegen die Arbeiterklasse zu verteidigen.

Es ist notwendig, die Lehren des Klassenkampfs zu ziehen. Proteste sind nicht genug. Der Widerstand gegen Polizeigewalt muss mit den größeren Problemen verknüpft werden, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist – von der sozialen Ungleichheit bis zur Corona-Pandemie. Im Interesse der Reichen wird das Leben der Arbeiter und ihrer Familien zerstört. Wer die Polizeigewalt stoppen will, muss den Kampf für den Sturz des kapitalistischen Systems und den Aufbau des Sozialismus in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt aufnehmen.

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