Perspektive

Covid-19 in Indien – eine globale Katastrophe

Indien wird von einem Tsunami aus Covid-19-Infektionen und Todesfällen überrollt. Die Welle droht alles in den Schatten zu stellen, was die globale Pandemie bisher angerichtet hat. Und das, obwohl nach offiziellen Angaben bereits jetzt 145 Millionen Menschen infiziert wurden und fast 3,1 Millionen gestorben sind.

Am Donnerstag meldete Indien 314.644 Neuinfektionen an einem einzigen Tag – ein weltweiter Rekord. Damit stieg die Gesamtzahl der Neuinfektionen im Land seit Montag auf weit über 1,1 Millionen. Hinzu kommen 2.104 Todesfälle im gleichen Zeitraum, auch dies der bisherige Höchstwert in Indien.

Impfung mit COVAXIN in einem Hallenstadion in Gauhati, 22. April 2021 (AP Photo/Anupam Nath)

Die wirklichen Infektions- und Todeszahlen sind zweifelsohne weitaus höher. Journalisten und Gesundheitsexperten haben Statistiken über Todesfälle und Einäscherungen zusammengetragen. Sie lassen auf eine große Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Zahl der Todesopfer und den Angaben von Regierungsvertretern schließen. Eine Studie der Financial Times über sieben der 718 Distrikte Indiens gelangte zu dem Schluss, dass die tatsächliche Zahl der Todesfälle etwa das Zehnfache der amtlichen Angaben betragen dürfte.

Die Berichte, die aus allen Teilen des Landes eintreffen, sind grauenhaft. Die Krematorien und Friedhöfe werden der Leichen nicht mehr Herr. In Bhopal – auf Rang 16 unter den größten Städten Indiens – sind die Krematorien so stark ausgelastet wie seit der Union-Carbide-Katastrophe von 1984 nicht mehr. Aus dem Werk des Pestizidherstellers drangen damals giftige Gase nach außen, an denen innerhalb weniger Stunden mehr als 2.200 Menschen starben. Im westlichen Bundesstaat Gujarat sind die Krematorien rund um die Uhr in Betrieb, sodass ihre Metallpfeiler zu schmelzen beginnen.

Indiens marodes Gesundheitssystem kollabiert, da den chronisch unterbesetzten Krankenhäusern die Betten, der Sauerstoff und die Medikamente gegen Covid-19 wie Remdesivir ausgehen. Nachrichtensender zeigen Aufnahmen aus Delhi und Mumbai, der Hauptstadt bzw. dem Finanzzentrum Indiens, auf denen zu sehen ist, wie Covid-19-Opfer und ihre Angehörigen in Massen vor Krankenhäusern lautstark um Hilfe flehen, nur um abgewiesen zu werden.

Doch dieses Leiden und Sterben der Massen lässt Indiens Regierung und die herrschende Elite völlig kalt.

Als die Infektionen in den letzten zwei Monaten immer schneller anstiegen, weigerten sich die Regierung Indiens und diejenigen seiner Bundesstaaten eisern, einen Lockdown anzuordnen. Die Profite der Unternehmen waren ihnen wichtiger als die Gesundheit und das Leben der arbeitenden Bevölkerung.

In einer Ansprache an die Nation verkündete Premierminister Narendra Modi am Dienstagabend, dass Indien „gerettet“ werden müsse – nicht vor der Pandemie, sondern vor einem Lockdown, mit dem die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden könnte! „In der heutigen Situation müssen wir das Land vor einem Lockdown bewahren“, erklärte er. Anschließend forderte er die Landesregierungen auf, es ihm gleichzutun.

So schlimm und erschütternd die derzeitige Situation bereits ist, alles deutet darauf hin, dass die Infektionen und Todesfälle noch wochen- oder gar monatelang weiter exponentiell ansteigen werden.

In den zwei Wochen seit dem 8. April stieg die Zahl der akuten Erkrankungen in Indien um mehr als 250 Prozent, von 910.000 auf fast 2,3 Millionen. Dieser Anstieg wird durch neue, infektiösere und tödlichere Varianten beschleunigt. Dazu gehört auch eine erstmals in Indien identifizierte „Doppelmutante“. Dieser Stamm kombiniert Mutationen in zwei verschiedenen „bedenklichen Varianten“.

Nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung ist vor dem Infektionsrisiko geschützt. Nur 8,4 Prozent der Inder haben eine erste Impfdosis erhalten, und nur 1,4 Prozent sind vollständig geimpft.

Darüber hinaus leben Hunderte Millionen im Elend und sind unterernährt. Sie haben keinen Zugang zu sauberem Wasser und teilen sich ein einziges Zimmer mit der ganzen Familie. Abstandhalten ist unter diesen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit. Viele Menschen sind gesundheitlich ohnehin geschwächt. Wenn, wie sich in den letzten Tagen auf tragische Weise gezeigt hat, die Krankenhäuser in den größten Städten überfordert sind, so ist die Lage im ländlichen Indien noch viel schlimmer. Dort gibt es in weiten Teilen so gut wie keine öffentlichen Gesundheitseinrichtungen.

Die Katastrophe in Indien, das muss betont werden, ist eine globale Katastrophe im Angesicht eines Virus, das keine nationalen Grenzen und Pässe kennt. Die Entscheidung der Regierungen der Welt, angeführt von den Vereinigten Staaten und den anderen imperialistischen Mächten, auf jeden Versuch zur systematischen Eindämmung der Pandemie zu verzichten, hat Bedingungen geschaffen, unter denen das Coronavirus mutieren und ansteckendere, potenziell impfstoffresistente Stämme entwickeln konnte. Solange es keine koordinierten globalen, wissenschaftlich fundierten Anstrengungen zur Ausrottung von Covid-19 gibt, die auf dem Schutz von Menschenleben und nicht auf kapitalistischem Profitstreben basieren, wird dieser Prozess weitergehen. Die Funken des aktuellen pandemischen Flächenbrands in Indien werden Brände auf der ganzen Welt verursachen. In der Tat wurden bereits Infektionen mit der indischen Doppelmutante in Nordamerika, Europa und dem Nahen Osten gemeldet.

Darüber hinaus hat Indien, ein wichtiger Lieferant von Generika und Impfstoffen für Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen, in einer reaktionären, panischen Reaktion auf die selbst verursachte Katastrophe den Export von Covid-19-Impfstoffen gestoppt.

Was der Mobilisierung der weltweiten Ressourcen zur Bekämpfung der Pandemie im Wege steht, sind die Profitgier und geopolitischen Interessen der rivalisierenden national basierten Kapitalistencliquen.

Das zeigt sich in Indien sehr deutlich. Nicht nur Modi und seine rechtsextreme, hinduistische BJP sind verantwortlich für das Massensterben, von dem das Land mit der zweitgrößten Bevölkerungszahl der Welt nun heimgesucht wird. Die Schuld liegt bei der herrschenden Klasse und dem politischen Establishment insgesamt.

Seit Jahrzehnten wendet der indische Staat, ob unter Regierungen der BJP oder der Kongresspartei, nur lächerliche 1,5 Prozent des BIP für die Gesundheitsversorgung auf. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation darauf hinwies, dass Indien wie viele andere Länder aufgrund der Massenarmut und des maroden Gesundheitssystems durch die Pandemie stark gefährdet ist, ergriff die Modi-Regierung in den ersten zweieinhalb Monaten des Jahres 2020 keine konsequenten Maßnahmen. Dann, am 25. März, verhängte sie ohne Vorplanung und mit weniger als vier Stunden Vorlauf einen völlig undurchdachten landesweiten Lockdown, der in jeder Hinsicht scheiterte, weil alle Voraussetzungen für seinen Erfolg fehlten: Es gab keine Massentests, keine Nachverfolgung von Kontakten, keine größeren Investitionen in das Gesundheitssystem und keine soziale Unterstützung für die Hunderten Millionen, denen der Lockdown über Nacht ihre Existenzgrundlage nahm.

In der Folge betrieb Indien eine Politik der „Herdenimmunität“. An der Spitze stand die Modi-Regierung, während die Regierungen der Bundesstaaten Schützenhilfe leisteten. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie von der BJP oder den angeblichen Oppositionsparteien geführt wurden. Ab Ende April begann die Regierung dann mit der „Öffnung“ der Wirtschaft, und in den folgenden sechs Monaten wurde eine Schutzmaßnahme nach der anderen über Bord geworfen, während die Infektions- und Todeszahlen in die Höhe schnellten.

Der gesundheitspolitische Berater der Modi-Regierung, der Epidemiologe Jayaprakash Muliyi, brachte die Denkweise der herrschenden Elite ungeniert zum Ausdruck: Ein Massensterben in dem Umfang, wie man es bisher nur aus den Weltkriegen des letzten Jahrhunderts kannte, sei angesichts der immensen Größe der Bevölkerung des Landes akzeptabel. „Bei einer substanziellen Aufhebung des Lockdowns kann es in Indien zu mindestens zwei Millionen Toten kommen“, erklärte Muliyi. „Die Sterblichkeit ist niedrig, lasst die Jungen rausgehen und arbeiten.“

Als Indiens „zweite Welle“ Ende Februar und im März anschwoll, sprach sich das politische Establishment unisono gegen Lockdown-Maßnahmen aus. In Anlehnung an Modi erklärten sie Indiens vermeintlich „weltmeisterliche“ Impfkampagne zur Antwort auf die Pandemie. Dabei handelten sie auf Geheiß des Großkapitals, dessen Medien, wie die Times of India, einen Lockdown in einem Leitartikel nach dem anderen als „unerschwinglich“ anprangerten.

In Erfüllung dieser Söldnerdienste verwiesen sie zynisch auf die Millionen, deren Lebensgrundlage durch die Pandemie zerstört wurde. In einer kürzlich veröffentlichten Studie von Pew Research wurde festgestellt, dass sich die Zahl der Inder, die weniger als 150 Rupien pro Tag (2 US-Dollar) verdienen, während der ersten Welle der Pandemie mehr als verdoppelt hat. Es sind jetzt 135 Millionen, und bei weiteren 32 Millionen sank das Einkommen auf unter 10 US-Dollar pro Tag.

Für die politischen und ideologischen Vertreter der herrschenden Klasse ist es natürlich undenkbar, dass auch nur ein Bruchteil des Vermögens der indischen Milliardäre – das sich laut Forbes im Jahr 2020 fast verdoppelt hat und mittlerweile 596 Milliarden Dollar beträgt – verwendet werden könnte, um die Bevölkerung während einer Pandemiebekämpfung zu unterstützen.

Die „offene“ Wirtschaft und die Herdenimmunitäts-Politik der Modi-Regierung sind die Speerspitze eines verstärkten Angriffs auf die Arbeiterklasse und die ländlichen Massen. Im Namen der Wiederbelebung der Wirtschaft hat Modi eine Reihe von Maßnahmen eingeführt, mit denen Investoren angelockt werden sollen. Dazu gehören der Ausverkauf von Unternehmen des öffentlichen Sektors, eine Reform der Landwirtschaftsgesetze zugunsten der großen Agrarkonzerne und Änderungen des Arbeitsrechts. Prekäre Arbeitsverhältnisse werden sich demnach weiter ausbreiten. Große Arbeitgeber erhalten das Recht, Arbeiter nach Belieben zu entlassen, und Streiks werden weitgehend verboten.

Gleichzeitig hat die BJP-Regierung Indien weiter in den Kriegskurs des US-Imperialismus gegen China eingebunden. Sie beteiligt sich an der von den USA geleiteten Quad-Gruppe und knüpft ein Netz bilateraler und trilateraler strategischer Beziehungen zu Japan und Australien, Washingtons wichtigsten Verbündeten im asiatisch-pazifischen Raum. Damit soll die herrschende Klasse Indiens zum einen gegenüber der Arbeiterklasse gestärkt und zum anderen befähigt werden, ihre eigenen Großmachtambitionen zu verfolgen.

Diese Art von Klassenkrieg und der Versuch der Modi-Regierung, die Arbeiterklasse nach Religionen zu spalten, stoßen auf Massenwiderstand. Im ganzen Land sind Streiks und Proteste gegen Arbeitshetze, Armutslöhne und das Fehlen persönlicher Schutzausrüstung ausgebrochen. Dutzende Millionen schlossen sich am 26. November 2020 einem eintägigen landesweiten Streik an, um sich gegen die Reformen im Interesse der Investoren zu wehren. Außerdem forderten sie Nothilfe für alle, die aufgrund der Pandemie Einkommensverluste erlitten. Seit fünf Monaten campieren außerdem Hunderttausende von Bauern in den Außenbezirken von Delhi, um die Rücknahme von Modis Agrargesetzen zu fordern.

Aber wie überall wird jeder Versuch der Arbeiter, ihre Klasseninteressen durchzusetzen, sofort von den Organisationen blockiert, die behaupten, in ihrem Namen zu sprechen: den prokapitalistischen Gewerkschaften und den etablierten linken Parteien. Vor dem Hintergrund der größten Krise des Weltkapitalismus seit der Großen Depression der 1930er Jahre haben die beiden stalinistischen Parteien – die Kommunistische Partei Indiens (Marxist) und die Kommunistische Partei Indiens – ihre politische Allianz mit der Kongresspartei zementiert. Die Kongresspartei, die traditionelle Regierungspartei der indischen Bourgeoisie, hat Modi im vergangenen Jahr hauptsächlich eine „weiche Haltung gegenüber China“ vorgeworfen.

Die Pandemie hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass sich das kapitalistische Profitsystem und die egoistischen Klasseninteressen der Bourgeoisie in keiner Weise mit den grundlegenden Bedürfnissen der Gesellschaft als Ganzer vereinbaren lassen. Gleichzeitig hat sie alle Übel verschärft, die den Kapitalismus seit Jahrzehnten kennzeichnen – die immer größere soziale Ungleichheit, die Verschärfung von Konflikten und Großmachtrivalitäten zwischen den Imperialisten, der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie und die Kultivierung rechtsextremer, faschistischer Kräfte durch die herrschende Klasse.

Die Pandemie ist eine globale Krise, die nur durch das koordinierte unabhängige Handeln der internationalen Arbeiterklasse unter Kontrolle gebracht werden kann. Das Ziel muss sein, Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit durchzusetzen und für die soziale Unterstützung zu sorgen, die notwendig ist, um das Leben und den Lebensunterhalt der Arbeiter weltweit zu bewahren.

Auch die Verteidigung sozialer und demokratischer Rechte und der Widerstand gegen imperialistischen Krieg und Reaktion sind ein globaler Kampf, der den Aufbau neuer Kampforganisationen der Massen notwendig macht. Gegen die transnationalen Konzerne, die rivalisierenden kapitalistischen Regierungen und die Handels- und Militärbündnisse, mit denen sie ihre globalen Raubzüge betreiben, muss die Arbeiterklasse einen gemeinsamen und koordinierten Kampf auf der Grundlage eines sozialistischen, internationalistischen Programms führen.

Um eine solche globale Bewegung aufzubauen, die von den großen befreienden Ideen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki beseelt ist, veranstalten die World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale am Samstag, dem 1. Mai, eine Online-Maikundgebung unter dem Motto „Ein Jahr Coronavirus: Von der globalen Pandemie zum globalen Klassenkampf“. Wir rufen alle Arbeiter, Jugendlichen und Anhänger des Sozialismus in Indien und auf der ganzen Welt dazu auf, an dieser Veranstaltung teilzunehmen.

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