Berliner Busfahrer erreichen Aufschub des geplanten Vordereinstiegs

Zum vierten Mal musste die BVG-Geschäftsführung wegen des Drucks aus der Belegschaft ihren unverantwortlichen und nur auf Profit orientierten Plan verschieben, inmitten der rollenden Pandemiewelle die Vordertüren zu öffnen und den Ticketverkauf durch die Busfahrer anzukurbeln.

Doch dieser Aufschub ist nur ein taktischer Rückzug. Die Hausgewerkschaft Verdi und der Vorstand benötigen mehr Zeit, um die Öffnungen gegen die Fahrer besser vorzubereiten. Außerdem ändert der Aufschub nichts an der aktuellen Ansteckungsgefahr, der das Fahrpersonal und die Reinigungskräfte der Fahrzeuge ständig ausgesetzt sind und für die sich Verdi nicht im Geringsten interessiert.

Am 26. April hatte die BVG in ihrer Pressemitteilung offiziell bekanntgegeben, den Vordereinstieg und Ticketverkauf ab 3. Mai zu eröffnen. Mit großer Wut begegneten die Berliner Busfahrer dieser Ankündigung und der Behauptung der Vorstandsvorsitzenden Eva Kreienkamp, dass durch „Schutzscheiben“, „bargeldlosen“ Fahrkartenverkauf und viel „Lüften“ die Fahrer „sicher“ seien und dies eine von der BVG in Auftrag gegebene Studie bestätige.

Der Protest der Busfahrer führte zu wütenden Reaktionen und schneidenden Kommentaren in den Social-Media-Kanälen und löste eine Welle von Krankmeldungen aus. Seinen schärfsten Ausdruck fand der wachsende Widerstand in der Gründung des „Aktionskomitees Verkehrsarbeiter für sichere Arbeitsplätze“.

Der Aufruf des Aktionskomitees mit der Überschrift „Verhindert die Öffnung der Bus-Vordertüren – bereitet Streikmaßnahmen vor!“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Kreienkamps Plan wird darin als „gezielte Provokation“ bezeichnet. Außerdem stellt das Aktionskomitee konkrete Forderungen für sofortigen Schutz aller Mitarbeiter und Fahrgäste auf und warnt, dass „die Gewerkschaftsfunktionäre uneingeschränkt auf der Seite der Unternehmensleitung“ stehen und längst den Vordereinstieg und den Ticketverkauf unterstützen.

Die wachsende Bereitschaft der Fahrer sich außerhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle gegen die Pläne des BVG-Vorstands zur Wehr zu setzen, versetzt die Hausgewerkschaft Verdi, die mit stetigem Mitgliederschwund konfrontiert ist, in ernste Sorge.

Händeringend versuchte Verdi mit seinen Personalräten auf den Betriebshöfen und seinem Einfluss im Vorstand und Aufsichtsrat, Kreienkamp und den hinter ihr stehenden Senat aus SPD, Linkspartei und Grünen zum Einlenken zu veranlassen. Aus diesem Grund organisierte Verdi-Fachbereichsleiter Jeremy Arndt (selbst Mitglied im Aufsichtsrat) kurzfristig eine Protestveranstaltung vor der BVG-Zentrale am Donnerstag, unmittelbar vor einer Aufsichtsratssitzung.

Jeremy Arndt, Verdi Gewerkschaftssekretär Berlin-Brandenburg, spricht auf der Kundgebung vor der BVG Zentrale (WSWS Photo)

Vor einigen Dutzend Teilnehmern und an die Adresse seiner Aufsichtsratskollegen gerichtet, betonte Arndt: „Natürlich sind wir nicht generell gegen den Vordereinstieg“. Jedoch hat Verdi ein Problem mit der Art und Weise, wie die Öffnung durchgesetzt werden soll.

Der „Kern“ des aktuellen Konflikts über den Plan der Wiedereröffnung und somit die Forderung der Personalräte sei, so Arndt: „Einerseits die Mitbestimmungsgremien mitzunehmen, die völlig ignoriert wurden in den letzten zwei Wochen!“ Und andererseits müsse „logischerweise die Gefährdungsanalyse auch gemeinsam mit den Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenvertretungen durchgeführt werden.“

Arndt versucht, die Wut der Busfahrer über ihre seit Ausbruch der Pandemie völlig unzureichend geschützten Arbeitsplätze in eine Sackgasse zu lenken und ausschließlich auf die fehlende Mitbestimmung und ein neues Gutachten zu lenken. Wohlgemerkt: Nicht Verdi gibt ein Gutachten in Auftrag, um den fehlenden Gesundheitsschutz und die verstärkte Gefahr durch eine Fronttüröffnung nachzuweisen, um eine Türöffnung und Kassieren zu verhindern bis die Pandemie vorbei ist. Sondern Verdi fordert vom Vorstand ein Gutachten, um eine Fronttüröffnung besser gegen den Widerstand der Belegschaft durchsetzen zu können.

Die seit Wochen hohe Inzidenz in Berlin, aktuell bei 130, die über 340 bisher infizierten BVG-Mitarbeiter oder gar die beiden Kollegen, die die mörderische Durchseuchungspolitik mit ihrem Leben bezahlt haben, fand Arndt in seiner zwölfminütigen Ansprache nicht der Rede wert. Inzwischen deuten Hinweise aus der Belegschaft darauf, dass es sich um fünf tote Mitarbeiter handelt!

Dafür ereiferte sich Arndt, dass Kreienkamp mit ihrem Vorgehen die bisherige gute Teile-und-Herrsche-Politik zwischen Aufsichtsrat und Verdi zerstöre. „Wir dürfen eine Spaltung zwischen“ uns und dem „Vorstand nicht zulassen. Dafür hat die BVG eine viel zu lange Tradition, was Mitbestimmung anbelangt. Wir haben über Jahre hinweg, bei allen Streitigkeiten, Sozialpartnerschaft ausgelebt.“

Wie die aussieht, wissen BVG-Mitarbeiter nur zu gut! Vor über zehn Jahren sorgte Verdi für den Abschluss des Tarifvertrags Nahverkehr (TV-N) von 2005, der auf eine Vereinbarung zwischen der Gewerkschaft und der damaligen rot-roten Koalition zurückging.

Mit dem TV-N wurde ein Niedriglohnsektor neu eingeführt, mit Tariflöhnen für neueingestellte Fahrer weit unter den Reallöhnen der Altbeschäftigten sowie längeren Arbeitszeiten.

Seither haben sich die Arbeitsbedingungen und Löhne weiter verschlechtert. Doch das ist Verdi und dem Senat bei weitem nicht genug. Sie wollen Konkurrenten vom lukrativen Markt des öffentlichen Nahverkehrs fernhalten. So erklärte Arndt auf einer Pressekonferenz vor zwei Jahren: „Wir wollen, dass beide Unternehmen [BVG und Berlin Transport] als Arbeitgeber wieder konkurrenzfähig werden.“

Die Pandemie wird nicht als Bedrohung für die Beschäftigten verstanden, sondern als Hindernis dieses Ziel zu erreichen. Mit einem Zuschuss von 144 Millionen Euro musste der rot-rot-grüne Senat die Pandemie bedingten Verluste der BVG für das vergangene Jahr ausgleichen. Für das Jahr 2021 erwartet die BVG erneut ein Defizit von mehr als 140 Millionen Euro. Das wird dazu führen, wie ein Busfahrer anonym der WSWS sagte, dass Verdi und die BVG „noch mehr von uns fordern“.

Verdi interessiert sich nicht für das Wohlergehen der Mitarbeiter des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) nach wirklichem Schutz vor Ansteckung auf höchstem wissenschaftlichen Niveau, weder in Berlin noch anderswo. Alle eingeführten und extrem beschränkten Maßnahmen, wie die vorübergehend und völlig unzureichenden Plastikfolien zum Schutz vor dem Fahrgastraum und die Abstands- und Maskenpflicht in Kantinen und Pausenräumen, erfolgten ausschließlich aufgrund der zunehmenden Unruhe in der Belegschaft und den steigenden Infektionszahlen.

Im Gegenteil! Aktiv ist der Gesamtpersonalrat (GPR) daran beteiligt, die Ansteckungsgefahr innerhalb der Belegschaft zu vertuschen. Während die BVG, wie die WSWS von einer Quelle erfuhr, monatlich den GPR über die Höhe der Neuinfektionen informiert, werden diese Zahlen vor der Belegschaft verheimlicht.

Tatsächlich sind die über 5 000 Busfahrer und rund 10 000 weiteren BVG-Kollegen nicht nur wegen des Vordereinstiegs und Fahrkartenverkaufs zutiefst besorgt und wütend.

Der Busfahrer Alex B. erklärte zum Aufschub des Vordereinstiegs gegenüber der WSWS: „Verdi will auf Zeit spielen. Sie behaupten ja nur, dass sie für uns Fahrer da wären. Dabei ist das Ganze eine Farce. Jetzt wollen Verdi und der Vorstand zusammen eine Untersuchung ohne uns Busfahrer machen. Wir werden nicht zu Rate gezogen.“ Unter diesen Bedingungen könne aus einem besseren Schutz für das Fahrpersonal nichts werden. „Sie denken nur an sich selbst, an ihre eigenen Interessen bei den Gehältern.“, konstatierte Alex B. „Es läuft alles nur auf Profit hinaus.“

Kollegen und Freunde aus allen Branchen, Familienmitglieder und Bekannte sind zunehmend von Covid-Erkrankungen betroffen, nicht wenige mit schwereren bis schwersten Verläufen. Auch die Kinder in den Schulen und Kitas sind hochgradig gefährdet.

„Wir brauchen einen totalen Lockdown, um die Pandemie einzudämmen.“, forderte Alex B. angesichts der bald 83 000 Tote in Deutschland und über 24 000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden.

Die mörderische Durchseuchungspolitik als „Antwort“ auf das Corona-Virus, die von allen Bundestagsparteien zur Verteidigung der Profitinteressen der herrschende Klasse gegen die Bevölkerung durchgesetzt wird, hat neben den Folgen für Gesundheit und Leben auch die soziale Ungleichheit drastisch verschärft.

„Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer“, sagte Alex B. Mit einem guten Monatslohn von „2 000 Euro“ könne man in Berlin wegen der akuten Wohnungsnot und hohen Mietpreise „nicht mehr vernünftig leben“. „Auch deshalb unterstütze ich die SGP und das Aktionskomitee Verkehrsarbeiter für sichere Arbeitsplätze.“

Die Fahrer in Berlin wehren sich wie ihre Kollegen in Manchester, London, New York, Rom, Sao Paulo oder die 130.000 Busfahrer in Indien, die sich seit drei Wochen gegen die unmenschlichen, von den kapitalistischen Regierungen verursachten Lebensbedingungen im Kampf befinden.

Die Gewerkschaften stehen mit beiden Füßen auf Seiten der herrschenden Klasse. In seinem Aufruf für den heutigen May Day schreibt das Internationale Komitee der Vierten Internationale: „Es hat keinen einzigen Kampf der Gewerkschaften gegen die Politik der herrschenden Klasse gegeben, die überall ‚Herdenimmunität‘ anstrebt und riesige Geldgeschenke an die Reichen verteilt. Damit sich die Arbeiterklasse zur Wehr setzen kann, muss ein Weg geschaffen werden, um ihre Kämpfe in verschiedenen Fabriken, Branchen und Ländern in Opposition zur herrschenden Klasse und den korporatistischen Gewerkschaften zu koordinieren.“

Dieser Einschätzung schließt sich auch Alex an. „Ich unterstützte die May-Day-Veranstaltung für die internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees. Je mehr Busfahrer und andere Arbeiter sich zusammenschließen, um so schwerer wird es für die BVG [und die anderen Arbeitgeber] eine Entscheidung gegen uns zu treffen.“

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