Die Arbeiterklasse und der Kampf gegen die Politik der „Herdenimmunität“ in Europa

Die folgende Rede hielt Alex Lantier auf der Online-Kundgebung, die am 1. Mai von der World Socialist Web Site und dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale abgehalten wurde. Lantier ist der nationale Sekretär der Parti de l'égalité socialiste (Sozialistische Gleichheitspartei) in Frankreich.

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde, ich überbringe brüderliche Grüße der Parti de l'égalité socialiste in Frankreich zu dieser internationalen Maikundgebung.

Der Aufruf des IKVI zum Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees ist von historischer Bedeutung. Die Ereignisse seit unserer letzten Maikundgebung haben eindringlich gezeigt, dass die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ein international koordiniertes Eingreifen der Arbeiterklasse erfordert.

Rede von Alex Lantier bei der Internationalen Maikundgebung 2021

Im vergangenen Monat überstieg die Zahl der Covid-19-Todesfälle in Europa eine Million und in Frankreich 100.000, nachdem neue Coronavirus-Varianten eine neue Infektionswelle ausgelöst hatten. Unter Arbeitern wächst die Wut, während die Krankenhäuser in ganz Europa überlastet sind und das medizinische Personal wissenschaftlich angeleitete Lockdown-Maßnahmen fordert. Eine Politik, die Ansteckungen verhindert, wird von der Finanzaristokratie jedoch fanatisch abgelehnt.

In Madrid, Rom, Paris und anderen Hauptstädten Europas haben die Regierungen geschworen, die Corona-Schutzmaßnahmen im Laufe des Monats zu beenden, obwohl sich nach wie vor täglich Zehntausende infizieren. Italienische Wissenschaftler haben errechnet, dass selbst unter Berücksichtigung der Auswirkungen der ersten Impfungen bis Juli täglich zwischen 600 und 1.200 Menschen in Italien sterben würden, wenn die Distanzmaßnahmen beendet werden. Das würde europaweit täglich mehrere tausend Tote bedeuten, und Hunderttausende jeden Monat.

Trotzdem treiben die europäischen Regierungen ihre Politik mit Verachtung für das menschliche Leben voran. Zeitungsberichten zufolge hat der britische Premierminister Boris Johnson zu seinen Ministern gesagt: „Sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen.“ Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte, dass „keinerlei Gesundheits- und Pandemieindikatoren“ seine Entscheidung ändern könnten, die Schulen wieder vollständig zu öffnen.

Französische Minister haben bestätigt, dass Restaurants und Kultureinrichtungen in diesem Monat nach langer Zeit wieder öffnen werden, obwohl ihre Öffnung zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Anstieg der Todeszahlen nur beschleunigen würde.

Die kapitalistischen Regierungen verfolgen eine Politik des sozialen Mords im Interesse der Finanzaristokratie. Deren Reichtum stieg im letzten Jahr sprunghaft an, da die europäischen Institutionen den Banken und Großkonzernen Billionen Euro an Rettungsgeldern überreichten. Eine Million Menschen starben, während die Schüler in den Klassenzimmern blieben, damit Arbeiter am Arbeitsplatz bleiben konnten, um Gewinne für die Banken herauszuholen. Europas Milliardäre konnten dadurch ihren gemeinsamen Reichtum um mehr als eine Billion Euro vermehren.

Die Verantwortung für das Massensterben liegt aber nicht nur bei den politischen Verbrechern in den höchsten Ämtern. Die Politik der „Herdenimmunität“ wurde nicht allein von einer Handvoll Staatsoberhäupter umgesetzt.

Sie erhielten Unterstützung von der Gewerkschaftsbürokratie und pseudolinken politischen Parteien, die wohlhabende Schichten der Mittelklasse repräsentierten. Dies wird in Frankreich sehr deutlich, wo fünf Gewerkschaftsverbände, darunter die stalinistische CGT, eine gemeinsame Erklärung abgegeben haben, in der sie die europäischen Rettungsmaßnahmen befürworten. Eine breite Schicht pseudolinker Parteien, die mit den Gewerkschaften verbündet sind – wie die Neue Antikapitalistische Partei – haben Lockdown-Maßnahmen als ein Werkzeug der Diktatur kritisiert.

Sie arbeiteten daran, die Arbeiter an das politische Desaster zu binden, das die kapitalistischen Regierungen Europas produzierten. Sie verurteilten Lockdowns, während sie ein paar leere und ohnmächtige Vorschläge für höhere Bildungsausgaben machten.

Als Lehrer im letzten Herbst unter Berufung auf ihr Recht, sich gefährlichen Arbeitsbedingungen zu entziehen, in den Streik traten, isolierten die Gewerkschaftsverbände ihre Kämpfe, sodass die Bereitschaftspolizei zum Angriff übergehen konnte.

Die Katastrophe, die daraus entstanden ist, ist nun für jeden ersichtlich. Seit letztem Herbst sind in Europa über 800.000 Menschen an COVID-19 gestorben, davon 70.000 in Frankreich. Im Gegensatz dazu haben die wenigen Länder, die strikte Shutdowns und Kontaktverfolgungsmaßnahmen einsetzten, das Virus unter Kontrolle gebracht: Taiwan etwa verzeichnete 11 Todesfälle, Vietnam 35, und China konnte die Zahl der Covid-19-Todesfälle auf weniger als 5.000 begrenzen.

Diese erschütternde Erfahrung enthält wichtige politische Lehren. Der korporatistische Rahmen der „Sozialpartnerschaft“ in Frankreich – in dem die Arbeiter angeblich von den Gewerkschaftsbürokratien in Gesprächen mit dem Management und dem kapitalistischen Staat „vertreten“ werden – wurde als mörderischer Betrug entlarvt.

Arbeiter können sich nicht auf die leeren Hüllen der alten nationalen Gewerkschaftsbürokratien Europas verlassen, denen Arbeiter bereits vor Jahrzehnten den Rücken gekehrt haben und die nun vom Staat und dem Großkapital finanziert werden.

In der internationalen Arbeiterklasse entwickelt sich ein mächtiger Widerstand gegen die Politik der „Herdenimmunität“ und die obszöne soziale Ungleichheit, die die Finanzaristokratie ihnen aufzuzwingen sucht.

Der Aufruf des IKVI zum Aufbau der IWA-RFC ist die große Alternative zu den leeren Hüllen der alten nationalen Gewerkschaftsbürokratien. Er eröffnet einen Weg vorwärts für unzählige Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt, die alle Hebel in Bewegung setzen wollen, um Leben zu retten und der reaktionären Politik der belagerten herrschenden Klasse entgegenzutreten.

Gegen eine globale Pandemie kann nur eine weltweit organisierte Bewegung der Arbeiterklasse unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien und ihren politischen Verbündeten eingreifen, um eine wissenschaftliche Politik durchsetzen und die Millionen Leben zu retten, die auf dem Spiel stehen.

Das Entstehen einer solchen internationalen Arbeiterbewegung in Organisationen, die von den nationalen Bürokratien unabhängig sind, wird die Frage des Sozialismus aufwerfen – d.h. die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse, die große Mehrheit der Bevölkerung, auf der ganzen Welt.

Seit Trumps Putschversuch vom 6. Januar auf das Kapitol in Washington wird immer deutlicher, dass die Eindämmung der Pandemie einen entschlossenen Kampf gegen die Gefahr einer Militärdiktatur erfordert. Diese Gefahr wächst in ganz Europa. In Deutschland erstellen Zellen von Neonazi-Offizieren unter dem politischen Deckmantel der Bundesregierung und der militärischen Führung Todeslisten und horten Waffen.

Spaniens neofaschistische Vox-Partei unterstützt seit Monaten Putschdrohungen von Armeeoffizieren, die durch die europaweite Streikwelle im vergangenen März in Rage versetzt wurden. Diese Streiks hatten im Frühjahr 2020 in Europa zur Verhängung von Lockdown-Maßnahmen geführt.

In Frankreich veröffentlichten vor einer Woche 23 ehemalige französische Generäle in einer neofaschistischen Zeitschrift eine Erklärung, dass die Armee bald gezwungen sein könnte, in einen Bürgerkrieg einzugreifen und Tausende auf französischem Boden zu töten. Präsident Emmanuel Macron, der auf die Sicherheitskräfte zurückgegriffen hat, um die Proteste von „Gelbwesten“, Studenten und streikenden Bahnarbeitern anzugreifen, hat zu dieser Drohung geschwiegen.

Das Jahr 2021 markiert den 150. Jahrestag der Pariser Kommune – das erste Mal in der Geschichte, dass die Arbeiterklasse ihren eigenen Staat aufbaute und die Macht übernahm, wenn auch nur in der französischen Hauptstadt. In diesem Monat vor einhundertfünfzig Jahren entsandte die Französische Republik unter dem liberalen Historiker Adolphe Thiers ihre Armee nach Paris. In einer blutigen Woche des Gemetzels tötete sie zwischen dem 21. und 28. Mai 20.000 Pariser Arbeiter und zerschlug die Kommune.

Mit dem Eintritt der Arbeiterklasse in den Kampf gegen die Politik der „Herdenimmunität“ und die politischen Nachfahren von Thiers, ist die entscheidende Frage die unabhängige Organisierung der Arbeiterklasse und der Aufbau des IKVI als ihre revolutionäre Avantgarde.

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