Vierter Wahlsieg der Scottish National Party könnte zum Zerfall Großbritanniens führen

Die Scottish National Party (SNP) von Nicola Sturgeon hat die diesjährige Parlamentswahl in Schottland mit großer Mehrheit gewonnen. Die Partei erzielte 47,7 Prozent der Stimmen in den einzelnen Wahlkreisen, die Konservativen 21,9 Prozent und Labour 21,6 Prozent. In den Regionallisten erhielten die SNP 40,3 Prozent, die Konservativen 23,5 Prozent und Labour 17,9 Prozent. Die Grünen vereinten in den Wahlkreisen nur 1,3 Prozent auf sich, jedoch 8,1 Prozent auf den Regionallisten.

Unter dem Verhältniswahlsystem bedeuten diese Zahlen, dass die SNP 64 von 129 Sitzen erhält, die Konservativen 31, Labour 22, die Grünen acht und die Liberaldemokraten vier. Damit wird die SNP, mit formeller oder informeller Unterstützung durch die Grünen, über eine Mehrheit für die Unabhängigkeit verfügen.

First Minister und SNP-Chefin Nicola Sturgeon vor dem Bute House in Edinburgh nach dem Sieg der SNP bei der schottischen Parlamentswahl (Quelle: Nicola Sturgeon)

Sturgeon erklärte sofort, sie werde einen Antrag auf ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands einbringen. Auf die Frage des BBC-Reporters Andrew Marr, ob dieses Referendum bereits im nächsten Frühjahr stattfinden könnte, erklärte sie, es werde „innerhalb der ersten Hälfte der parlamentarischen Legislaturperiode“ stattfinden, die in Schottland vier Jahre beträgt.

Sturgeon versuchte, Argumente über die Rechtmäßigkeit eines künftigen Referendums zu entkräften, das vor dem britischen Obersten Gerichtshof enden würde. Sie erklärte Marr: „Falls es jemals dazu kommen sollte, dass diese Frage vor Gericht geklärt werden muss, dann argumentiert die britische Regierung, dass es keinen demokratischen Weg zur Unabhängigkeit Schottlands gibt. Und die britische Regierung weiß das.“

Als Reaktion drauf lud der konservative britische Premierminister Boris Johnson, der mehrfach die Genehmigung für ein weiteres Referendum abgelehnt hatte, Sturgeon, den walisischen First Minister Mark Drakeford (Labour) und den noch zu bestimmenden Nachfolger von Arlene Foster als Parteichef der Democratic Unionist Party und First Minister von Nordirland zu einem Treffen mit dem Motto „Team UK“ ein. Dort soll „ein Ausweg aus der akuten Phase der Pandemie“ gefunden und über „unsere gemeinsamen Herausforderungen“ sowie die Frage diskutiert werden, „wie wir in den kommenden Monaten und Jahren daran arbeiten können, sie zu meistern“. Zahlreiche Kommentatoren deuteten jedoch an, dass Johnson seine pauschale Ablehnung eines zweiten Referendums angesichts der Pro-Unabhängigkeits-Regierung in Schottland nicht aufrecht erhalten kann.

Der Sieg der SNP bedeutet keineswegs, dass die Mehrheit der Wähler die Unabhängigkeit unterstützt. In wiederholten Umfragen liegt die Zustimmung bei etwa 50 Prozent oder knapp darunter, was dem Wahlergebnis der SNP entspricht. Im Jahr 2014 lehnten 55 Prozent der Teilnehmer die Unabhängigkeit ab, 45 Prozent stimmten dafür. Wenn man die „Unentschlossenen“ mitrechnet, befürwortet selbst heute nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung die Loslösung von Großbritannien.

Das Ergebnis deutet dennoch auf eine scharfe Polarisierung in der Verfassungsfrage hin.

Trotz der katastrophalen globalen Pandemie, tiefgreifender sozialer Spannungen, einem globalen Ausbruch von Militarismus und außergewöhnlicher Instabilität der Finanzmärkte war die Wahl von der Frage dominiert, ob das winzige Schottland „unabhängig“ sein sollte. Deshalb profitierten sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Unabhängigkeit von taktischer Stimmabgabe.

George Galloways britisch-nationalistisches Projekt „Alliance for Unity“, das zu taktischer Stimmabgabe zu Lasten der SNP aufgerufen und rivalisierende Parteien aufgefordert hatte, notfalls nicht anzutreten, schnitt sehr schlecht ab. Doch die Taktik, den bestplatzierten pro-britischen Kandidaten zu wählen – unabhängig davon, ob er der Labour Party oder den Tories angehört – kostete die SNP einige Sitze.

Der ehemalige First Minister Alex Salmond rief dazu auf, in den Wahlkreisen für die SNP zu stimmen, auf den Regionallisten jedoch für seine vor Kurzem gegründete Alba Party. Dies bezeichnete er als Möglichkeit, eine „Supermehrheit“ für die Sezession zu erhalten. Gleichzeitig wollte er sich seine Rolle als politischer Strippenzieher in der SNP und um sie herum sichern.

Salmonds neue Partei inszenierte sich als schärfster Befürworter der Unabhängigkeit. Albas erste Wahlwerbespots erinnerten an den lächerlichen Film Braveheart mit Mel Gibson, und ihr eigentliches Programm unterschied sich kaum von der SNP, abgesehen von der Forderung, die Verhandlungen über die Unabhängigkeit sofort nach der Machtübernahme der „Supermehrheit“ aufzunehmen.

Mit diesem Versuch, sich als aggressivste nationalistische Aktionsgruppe für die SNP zu inszenieren, gewann Alba keinen einzigen Sitz. Stattdessen profitierten die Grünen, die eng mit der SNP zusammenarbeiten, von der taktischen Stimmabgabe.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Rückhalt für die SNP noch immer zu einem Großteil auf ihrer Selbstdarstellung als linke Alternative zu den Tories und der Labour Party beruht. Obwohl sie seit 2007 an der Macht sind und seit fast eineinhalb Jahrzehnten verantwortlich für die Austeritäts-Maßnahmen, profitiert die SNP noch immer vom Rechtsruck von Johnsons Tory-Regierung in Westminster und ihrem Schatten, der Labour Party unter Sir Keir Starmer.

Der neue Labour-Chef in Schottland, Anas Sarwar, konnte den fortgesetzten Zusammenbruch der Partei nicht aufhalten. Somit konnte Sturgeon die Unabhängigkeit als Weg zu einer gerechteren und egalitäreren Gesellschaft darstellen.

Sturgeon war die Hauptverantwortliche für die Reaktion der schottischen Regierung auf Covid-19. Obwohl ihr Kurs nahezu identisch mit dem von Johnson war und obwohl sie selbst die vollständige Öffnung der Wirtschaft vorbereitet, profitierte sie von der Wut über den offenen Kurs der Tories auf „Herdenimmunität“.

Die SNP kann zudem darauf bauen, dass die öffentlichen Ausgaben in Schottland im Vergleich zum Rest Großbritanniens etwas höher sind. Das Parteiprogramm schlug u.a. einen nationalen Sozialdienst, geringfügig erhöhte Gesundheitsausgaben und eine etwas größere Lohnerhöhung für Beschäftigte im Gesundheitswesen vor.

Wenn die SNP jedoch an der Macht ist, wird sie diese Versprechen schnell aufgeben und weitere Austeritäts-Maßnahmen fordern. Auf lokaler Ebene werden bereits verheerende Kürzungen durchgesetzt. Der SNP-Stadtrat von Glasgow plant die Schließung von städtischen Büchereien, Sporteinrichtungen und Gemeindezentren in den ärmsten Gebieten der Stadt. Die übliche Reaktion der SNP besteht darin, Kritik an ihrer Politik mit der Behauptung zurückzuweisen, die Lösung für alle sozialen Fragen seien mehr Befugnisse für das schottische Parlament in Holyrood, Edinburgh.

Die SNP erhält entscheidende Unterstützung durch pseudolinke Gruppen, die zeitgleich mit dem Rechtsruck der Labour Party auch dem arbeiterfeindlichen, Nato- und EU-freundlichen schottischen Unabhängigkeitsprojekt der SNP einen falschen „linken“ Anstrich verpasst haben.

Im diesjährigen Wahlkampf unterstützten die pseudolinken Gruppen wie die Scottish Socialist Party (SSP) die SNP, Alba und die Grünen und riefen zu ihrer Wahl auf. Der ehemalige SSP-Führer Tommy Sheridan verzichtete sogar auf die Überreste seines eigenen Prestigeprojekts Solidarity und schloss sich Salmonds Alba an.

Die Socialist Party Scotland (SPS) trat mit eigenen Pro-Unabhängigkeits-Kandidaten in der Scottish Trade Union and Socialist Coalition (STUSC) an und forderte ein „Zweites Unabhängigkeitsreferendum und ein unabhängiges sozialistisches Schottland.“ Allerdings riet die SPS Alba in einem Kommentar, „zukünftig eine breitere Wählerbasis aufzubauen, indem sie sich auf eine wachsende Schicht der Unabhängigkeitsbewegung stützt, die der SNP-Führung kritisch gegenübersteht“.

Der Socialist Worker zitierte das langjährige Mitglied Keir McKechnie mit den Worten: „Wir müssen Westminster zwingen, nachzugeben und größtmöglichen Druck auf die SNP und die Grünen ausüben, um das Datum für das Unabhängigkeitsreferendum jetzt und nicht später festzulegen.“

Die diversen Parteien, Denkfabriken, Kampagnen und Aktionsgruppen des schottischen pseudolinken Spektrums repräsentieren eine raffgierige kleinbürgerliche Schicht, die Positionen im Apparat eines künftigen kapitalistischen schottischen Staats, in den Gewerkschaften und diversen kulturellen Institutionen und NGOs anstrebt, die sich an einem künftigen Staatsapparat orientieren. Derzeit sind sie damit beschäftigt, von Westminster mehr Geld für Schottland zu fordern.

Arbeiter und Jugendliche in Schottland, die eine Perspektive gegen alle Formen von Nationalismus, sozialer Ungleichheit und einen wirklichen Weg suchen, die Arbeiterklasse im Kampf für Sozialismus in Großbritannien, Europa und der Welt zu vereinen statt zu spalten, sollten noch heute Kontakt mit der Socialist Equality Party aufnehmen.

Loading