Unabhängiges WHO-Gremium verurteilt Reaktion der internationalen Regierungen auf Covid-19

„Covid-19 ist das Tschernobyl des 21. Jahrhunderts – nicht weil der Ausbruch einer Krankheit mit einem Atomunfall vergleichbar ist, sondern weil er genauso eindeutig das Ausmaß der Gefahr für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen gezeigt hat. Sie hat eine so schwere und umfangreiche Krise geschaffen, dass Präsidenten, Premierminister und die Vorsitzenden internationaler und regionaler Gremien jetzt dringend ihre Verantwortung wahrnehmen und die Vorgehensweise ändern müssen, mit der sich die Welt auf Bedrohungen der globalen Gesundheit vorbereitet und darauf reagiert. Wenn nicht jetzt, wann dann?“
(Helen Clark und Ellen Johnson Sirleaf, Co-Vorsitzende des Unabhängigen Gremiums der Weltgesundheitsorganisation für die Vorbereitung auf Pandemien)

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Am 12. Mai 2021 veröffentlichte das unabhängige Gremium für die Vorbereitung und Reaktion auf Pandemien seine Ergebnisse im Internet. Ihr Bericht trägt den Titel „Covid-19: Make it the last pandemic“ (Macht Covid-19 zur letzten Pandemie).

Der Bestatter Triston McAuliff in einer Kühlkammer voller Leichen. Aufgenommen am 28. Januar 2021 in Springfield (Missouri). (Quelle: AP Photo/Charlie Riedel)

Das Gremium wurde vom Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, im Mai 2020 ins Leben gerufen, als die Corona-Pandemie fast in allen Ländern der Welt wütete. Ziel dieser Initiative war es, eine umfassende Bewertung der internationalen gesundheitspolitischen Reaktion auf die Pandemie anzufertigen.

Wie das Magazin The Lancet am Mittwoch in einem Kommentar schrieb, hat das Gremium während der letzten acht Monate „den Zustand der Bereitschaft auf Pandemien vor Covid-19 zu reagieren, die Umstände der Identifikation von Sars-CoV-2 und der von dem Virus verursachten Krankheit sowie die globalen, regionalen und nationalen Organisationen bewertet, vor allem diejenigen in den ersten Monaten der Pandemie. Das Gremium hat außerdem die weitreichenden Auswirkungen der Pandemie auf Gesundheit und Gesundheitssysteme und die sozialen und wirtschaftlichen Krisen analysiert, die sie ausgelöst hat.“

Diese umfassende Übersicht werden die gemeinsamen Vorsitzenden bei der 74. Weltgesundheitsversammlung Ende Mai vorstellen. Ellen Johnson Sirleaf ist die ehemalige Präsidentin von Liberia und Gründerin des Presidential Center for Women and Development, und Helen Clark ist die ehemalige Premierministerin von Neuseeland.

Der Bericht ist eine Anklage an die gesamte kapitalistische Ordnung und ihre fehlgeleitete, verantwortungslose Reaktion auf eine gefährliche Atemwegserkrankung, die offiziell mehr als 3,25 Millionen Todesopfer gefordert, mehr als 100 Millionen Menschen in extreme Armut gestürzt und zu wirtschaftlichen Verlusten von etwa zehn Billionen Dollar geführt hat.

Weltweit sterben täglich weiterhin 10.000 Menschen oder mehr an Covid-19, und die Pandemie breitet sich auch in den ärmeren Ländern aus, deren Gesundheitssystem und medizinische Infrastruktur unzureichend ist. Das Leben und die Lebensgrundlage von hunderten Millionen Menschen, die für Monate oder Jahre keinen Zugang zu lebensrettenden Impfstoffen haben, sind bedroht.

Sirleaf weist darauf hin, dass „eine Unzahl von Untätigkeiten, Lücken und Verzögerungen bei der Vorbereitung und Reaktion“ die derzeitige Katastrophe möglich gemacht haben. Weiter heißt es: „Die Regale und Lagerräume der UN und der nationalen Hauptstädte sind voll mit Berichten und Studien über frühere Gesundheitskrisen. Hätten diese Warnungen Gehör gefunden, hätten wir die heutige Katastrophe verhindern können. Das muss sich ändern.“

Das Gremium kam zu dem Schluss, dass die Corona-Pandemie vermeidbar gewesen wäre. Wissenschaftler hatten seit Jahren vor einer steigenden Rate von neuen zoonotischen Krankheiten wie Sars, Coronavirus, Ebola und Zika gewarnt. Es sind Nebenprodukte der zunehmenden Globalisierung. Doch Hand in Hand mit diesen Warnungen gehen starke Unterfinanzierung und kriminelle Nachlässigkeit.

Clark und Sirleaf erklären, dass viel zu viele Länder das Ausrufen des internationalen Gesundheitsnotstands vom 30. Januar 2020 ignorierten, mit dem die WHO auf das Auftauchen von Sars-CoV-2 in China aufmerksam machte. Statt umfassende Gesundheitssicherheitsmaßnahmen zur Eindämmung oder Bekämpfung des Coronavirus einzuleiten, hätten diese Länder „abgewartet und zugesehen“.

Das unabhängige Gremium weist ausdrücklich darauf hin, dass die Warnung bei den meisten Mitgliedsstaaten nicht einmal eine nennenswerte Reaktion ausgelöst habe, und bezeichnete den Februar 2020 als „verlorenen Monat“. Es fügte hinzu, angesichts der Ausbreitung des Coronavirus auf weitere Länder außerhalb Chinas hätten es „weder nationale noch internationale Systeme geschafft, die ersten und dringlichen Forderungen nach Mitteln zu erfüllen. Charakteristisch für Länder mit verzögerter Reaktion waren auch mangelnde Koordination, inkonsistente oder nicht existente Strategien und die Abwertung der Wissenschaft als leitendem Element bei der Entscheidungsfindung.“ Internationale Führung fehlte fast vollständig, ein nahe an Lähmung grenzender Zustand habe sich ausgebreitet.

Sie fügen hinzu: „Das Gremium kommt zu dem Schluss, dass das System in seiner jetzigen Form nicht verhindern kann, dass ein weiteres neuartiges und hochgradig infektiöses Pathogen –das jederzeit auftauchen könnte – eine Pandemie auslöst.“

Zwar hatte das WHO-Personal versucht, durch Ratschläge, Anleitung und die Lieferung von Diagnosetests und Schutzausrüstung seinen Beitrag zu leisten, aber die WHO war für die Mission, die von ihr gefordert wurde, unterbesetzt und unterfinanziert: „Die internationale Finanzierung war zu wenig und kam zu spät“. Diese fehlende Vorbereitung und Unfähigkeit zur Reaktion hat die Ungleichheit „zwischen- und innerhalb von Staaten verstärkt, was besonders für bereits marginalisierte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen schwere Folgen hatte.“

Die Autorinnen erklären, kurz zusammengefasst: „Die Kombination aus schlechten strategischen Entscheidungen, fehlender Bereitschaft zur Bekämpfung von Ungleichheit und ein unkoordiniertes Reaktionssystem haben es möglich gemacht, dass die Pandemie eine katastrophale menschliche und sozioökonomische Krise ausgelöst hat.“ Laut dem Internationalen Währungsfonds hat diese fehlende Vorbereitung die Welt in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt. Die globale Wirtschaft ist um 3,5 Prozent zurückgegangen. Laut einer Prognose wird sich der Wert der finanziellen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft bis 2025 auf zweiundzwanzig Billionen Dollar belaufen.

Das Gremium erwähnt auch die unglaubliche Herausforderung an die Pflegekräfte, die an vorderster Front gegen die Pandemie kämpfen und unermüdlich damit beschäftigt sind, das Leben von Millionen Menschen zu schützen, die Unterstützung und Hilfe suchen. Dass mindestens 17.000 Pflegekräfte im ersten Jahr der Pandemie an Covid-19 gestorben sind, verdeutlicht, wie wenig die Regierungen getan haben, um sie zu schützen und zu unterstützen. Es verdeutlicht auch die völlige Gleichgültigkeit der kapitalistischen herrschenden Elite gegenüber dem Schicksal der Arbeiterklasse.

Clark und Sirleaf beenden ihren Bericht mit dem Aufruf zur Gründung eines Global Health Threats Council, (eines Weltrats für globale Gesundheits-Bedrohungen), der von Staats- und Regierungschefs geleitet werden soll: „Die Überwachungs- und Alarmsysteme für Krankheiten müssen ebenfalls überarbeitet werden. Die WHO sollte die notwendigen Befugnisse haben, beunruhigende Ausbrüche schnell und mit garantierten Zugangsrechten zu untersuchen, um Informationen veröffentlichen zu können, ohne auf die Erlaubnis ihrer Mitgliedsstaaten zu warten. Bedenken wegen der Souveränität sollten Warnungen an die Welt vor der Gefahr eines neuen Pathogens mit Pandemiepotenzial nicht verzögern.“

Weiter erklären sie, die Gebühren für Mitgliedsstaaten sollten zwei Drittel des Etats für das Grundprogramm ausmachen, um die finanzielle Unabhängigkeit der WHO zu gewährleisten. Sie erklärten ausdrücklich: „Wir schlagen auch die Schaffung eines designierten internationalen Pandemiefinanzierungsmechanismus vor. Sie muss fünf bis zehn Milliarden Dollar pro Jahr für Vorbereitung, und insgesamt 50 bis 100 Milliarden Dollar verteilen können.“

Zudem fordern sie die großen Impfstoff produzierenden Länder und Hersteller auf, sich auf die Aussetzung des geistigen Eigentums an diesen Medikamenten zu einigen: „Wenn nicht innerhalb von drei Monaten Maßnahmen erfolgen, sollte sofort eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte bei Handelsaspekten über geistiges Eigentum in Kraft treten.“ Sie forderten außerdem schnellstmögliche Unterstützung für das COVAX-Programm, das „90 Länder mit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen (...) mindestens eine Milliarde Dosen bis spätestens am 1. September liefern und diese Menge auf zwei Milliarden bis Mitte nächsten Jahres erhöhen muss“.

Der Bericht bietet eine umfassende Übersicht über das wiederholte Versagen der Regierungen durch die völlige Missachtung ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen innerhalb ihrer Grenzen wie auch der Weltbevölkerung. Allerdings wird die Ursache dieses Versagens nicht identifiziert: Es ist der Kapitalismus, der die Welt in konkurrierende Nationalstaaten unter der Kontrolle einer vermögenden Elite aufteilt. Diese Elite besitzt und kontrolliert die Produktionsmittel als Privateigentum zu ihrem eigenen Profit.

Die New York Times gibt offen zu: „Ob die Empfehlungen zu bleibenden Veränderungen führen, ist eine ungeklärte Frage. Clarks Gruppe (...) wies ausdrücklich darauf hin, dass es seit der H1N1-Pandemie 2009 elf Kommissionen und Gremien auf höchster Ebene gegeben hat, die mehr als sechzehn Berichte produziert haben. Die große Mehrheit ihrer Empfehlungen wurde nie umgesetzt.“ Der Präsident des Robert Koch-Instituts in Berlin Dr. Lothar Wieler, erklärte offen, es gebe keinen Mechanismus für diese Umsetzung.

Die existenzielle Bedrohung, die von der Pandemie ausgeht, ergibt sich nicht aus der Natur der Atemwegserkrankung Sars-CoV-2. In der Geschichte der Menschheit gab es bereits viele derartige Bedrohungen. Angesichts der Fortschritte in Wissenschaft und Technologie hätte die Menschheit heute beispiellose Möglichkeiten, diese Bedrohungen einzudämmen. Die Gefahr durch das Virus ergibt sich vielmehr aus der Anarchie, die den Kapitalismus beherrscht.

Die Pandemie ist eine Gesundheitskrise, für die dringend eine politische Lösung gefunden werden muss. Eine wirklich globale Reaktion ist nur möglich, wenn die Welt im Sozialismus unter der Kontrolle der internationalen Arbeiterklasse vereint ist. Dazu muss die Gesellschaft so umgestaltet werden, dass statt der Profitinteressen der großen Banken und Konzerne die Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllt werden.

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