Corona-Pandemie: Gefährliche Öffnungen

Mit den Lockerungen, die seit Montag für Geimpfte und Genesene gelten, hat das Corona-Kabinett um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Schleuse geöffnet. Seither wetteifern die Landesregierungen, wer im eigenen Bundesland die Corona-Maßnahmen am schnellsten wieder abschaffen kann. Tourismusbranche, Gastronomie und Einzelhandel, aber auch Schulen und Kitas sollen rasch wieder öffnen. „Alles geht in die richtige Richtung“, frohlockte Spahn am gestrigen Mittwoch bei der wöchentlichen Corona-Pressekonferenz.

Intensivbett (Foto: Calleamanecer / Wikimedia)

Diese Politik ist der Profitwirtschaft, aber keinerlei wissenschaftlicher Erkenntnis geschuldet. Sie ist hochriskant. Zwar gehen die Inzidenzzahlen in Deutschland seit einiger Zeit zurück. Aber die Corona-Pandemie ist alles andere als besiegt.

Bisher sind knapp zehn Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Fast fünf Monate nach Beginn der Impfkampagne hat gerade mal jeder dritte Einwohner seine erste Impfdosis erhalten. Für Kinder unter 15 Jahren gibt es in Europa noch gar keine Impfstoffe. Und etwa zehn Millionen Menschen, die zu Risikogruppen gehören oder durch ihren Beruf priorisiert sind, haben noch nicht einmal ein Impfangebot erhalten, wie der Leiter der ständigen Impfkommission (StIKo) besorgt hervorhob.

Deshalb warnte die Virologin Melanie Brinkmann (TU Braunschweig): „Wir tanzen am Rande eines Vulkans.“ Seit Monaten drängt sie darauf, das Tempo beim Impfen zu beschleunigen. In der Öffnungspolitik der Regierungen sieht sie „ein großes Risiko“. Auch ihr Kollege Michael Meyer-Hermann (Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung) findet es „zynisch“, wie die Politiker das Stabilisieren der Pandemie auf hohem Niveau schon als Erfolg verkaufen. „Das ist ein großer Misserfolg“, so der Immunologe.

Noch immer sterben täglich mehrere hundert Corona-Patienten. Am gestrigen Mittwoch waren es 283, so viel wie bei einem Flugzeugabsturz, und die Toten werden immer jünger. Dem RKI sind bisher 19 Corona-Todesfälle von Unter-20-Jährigen bekannt. Zwölf der Verstorbenen waren Kinder unter 10 Jahren. Und die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch viel höher.

Laut einer alarmierenden neuen Studie eines Instituts in Washington liegen die Corona-Todeszahlen deutlich höher als bisher öffentlich bekannt. Demnach beträgt die weltweite Zahl der Covid-19-Todesfälle 6,93 Millionen, mehr als doppelt so viel wie offiziell gezählt. Das hat das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) durch systematische Analyse der „Übersterblichkeit“ herausgefunden.

Auch in Deutschland sind laut dieser Studie schon mehr als 120.000 Menschen, also fast fünfzig Prozent mehr als bekannt, an Sars-CoV-2 verstorben. Diese Zahl ist so groß, als würde man die Einwohnerschaft einer mittelgroßen Stadt wie Wolfsburg oder Heilbronn in nur 14 Monaten auslöschen. Dazu hat das Statistische Bundesamt in Wiesbaden auf Nachfrage der Autorin bisher keine Stellungnahme abgegeben. Offiziell sind dem RKI 85.481 Corona-Todesfälle bekannt. Derzeit werden 251.400 aktive Corona-Fälle registriert, von denen 4461 im kritischen Zustand auf einer Intensivstation liegen.

Letzteres betrifft auch immer mehr junge Menschen. „Die Patienten werden jünger, müssen länger im Krankenhaus bleiben und liegen auch länger auf der Intensivstation“, bestätigte die Chefärztin der Intensivmedizin der Ilm-Kreis-Kliniken in Arnstadt und Ilmenau (Thüringen), Dr. med. Heike Schlegel-Höfner, dem MDR. In der Reportage „Situationen auf den Intensivstationen“ erwähnt sie immer schwerere Verläufe und eine konstant hohe Sterberate.

Die heute dominante „britische“ Variante B.117 sei viel aggressiver, und Intensivpatienten müssten fast immer auch beatmet werden. „Die Mutationen verschärfen die Verläufe. Die Lungenschäden werden immer größer. Fast jeder Patient, der auf die Intensivstation kommt, muss auch beatmet werden, und das immer länger.“

Im Ruhrgebiet berichtet die Recklinghäuser Zeitung über die jüngste Covid-Patientin auf der Intensivstation des Prosper-Hospitals, eine 23-Jährige, die bis vor kurzem mit Sauerstoff versorgt werden musste. Die Zeitung zitiert den behandelnden Arzt mit den Worten: „Als junger Mensch ist man vor einem schweren Verlauf von Covid-19 nicht gefeit.“

Zu der aktuellen Öffnungspolitik sagte er, ein komplettes „Zurück zur Normalität“ werde es so schnell nicht geben, denn: „Eine Pandemie kann man nur global bekämpfen. So lange die Menschen in Afrika oder Asien nicht geimpft sind und sich dort weiter Hunderttausende infizieren, wird es weitere Mutationen geben. Und irgendwann wird dann eine neue Katastrophe den Weg nach Europa finden.“

Genau das ist die große Gefahr, die mit den aktuellen raschen Öffnungen verbunden ist.

Die Regierungspolitiker begründen sie damit, dass die Inzidenzzahlen sinken. Die durchschnittliche 7-Tage-Inzidenz bewegt sich derzeit im Bereich von 100 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner. Am gestrigen Mittwoch lag die 7-Tage-Inzidenz für ganz Deutschland bei 107,8.

Aber dies ist bei weitem kein Grund zur Beruhigung. Schaut man genauer hin, erkennt man, was die Medien generell verschweigen: Die Inzidenz unterscheidet sich sehr stark nach Altersgruppen. In der Gruppe der 60-79-Jährigen beträgt sie 67 pro 100.000, in derjenigen der Über-Achtzigjährigen sogar nur 47 pro 100.000. Das heißt, hier wirkt sich die Priorisierung der Senioren beim Impfen positiv aus.

Dagegen weisen die Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen, wie auch ihrer Eltern, beängstigend hohe Inzidenzen auf. Nach den RKI-Zahlen vom 11. Mai beträgt die 7-Tage-Inzidenz in der Altersgruppe der 5- bis 9-Jährigen 148 pro 100.000. In derjenigen der 10- bis 14-Jährigen sind es 167 und in derjenigen der 15- bis 19-Jährigen sogar 178. In den nächsthöheren Altersgruppen, von den 20-Jährigen bis zu den 45-Jährigen, liegt die Inzidenz durchwegs im Bereich von 147 bis 157, also gut dreimal so hoch wie bei den Über-Achtzigjährigen.

„Die Inzidenz ist in allen Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen höher als in der zweiten Welle“, heißt es in Corona-Kita-Studie des RKI. Und wer sich die Excel-Datei des RKI über die unterschiedlichen Altersgruppen anschaut, stellt erschrocken fest, dass seit Anfang des Jahres schon tausende und abertausende Kinder jeden Alters an Corona erkrankten, ohne dass es in den Medien zu einem Aufschrei geführt hätte.

Viele Landkreise und kreisfreie Städte weisen nach wie vor eine sehr hohe Inzidenz auf. Am 12. Mai hatten mehr als die Hälfte der 412 Kreise, nämlich 239, eine 7-Tage-Inzidenz von über 100 pro 100.000 Einwohner. In 8 Kreisen lag sie sogar über 250. Nur 21 lagen unter der Inzidenzgrenze von 50.

Und auch diese gewährt keinerlei Sicherheit, wie seriöse Wissenschaftler wie die oben zitierten Brinkmann und Meyer-Hermann seit Monaten erklären. Erst bei einer 7-Tage-Inzidenz, die deutlich unter 35 liegt, wären die Gesundheitsämter in der Lage, im Falle neuer Infektionen sämtliche Kontakte nachzuverfolgen, um ein neues Aufflammen im Keim zu ersticken.

Was geschieht zum Beispiel, sollte sich die Virus-Mutante B.1.617, die sogenannte „indische“ Variante, auch in Europa ausbreiten? Am 10. Mai hat die WHO diese hochgefährliche Variante auf die Kategorie VOC („variants of concern“) hochgestuft. In Indien wütet sie entsetzlich, und täglich stecken sich mehrere hunderttausend Menschen an.

Der Guardian weist am 12. Mai darauf hin, dass sich die indische Virus-Variante mittlerweile schon im Vereinigten Königreich ausbreitet. In nur zwei Wochen habe sie ihren Anteil an den Covid-Erkrankungen von 1 auf 11 Prozent gesteigert, mit massivem Anstieg in London und Nordwest-England. In Deutschland wurde sie bisher nur sehr vereinzelt, zum Beispiel in Köln, festgestellt. Doch auch die „britische“ Virus-Mutante B.1.717 hatte sich sehr rasch in Europa und auch hierzulande als vorherrschende Variante durchgesetzt.

Neue Ausbrüche bestätigen solche Warnungen, doch sie werden in den Hintergrund gedrängt. Seit den Osterferien gibt es immer neue Ausbrüche an Kitas und Schulen. Ein weiterer Ausbruch wird auch aus einer Flüchtlingsunterkunft in Mainz gemeldet, wo von 63 Einwohnern mindestens 12 an Covid-19 erkrankt sind.

Die Pandemie ist ein weltumfassendes Problem, darauf weist schon der altgriechische Name hin, der pan (umfassend) mit demos (Staatsvolk) verbindet. Sie kann nur global gelöst werden, und dazu sind die bürgerlichen Politiker weder Willens noch in der Lage. Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine medizinische, sondern eine politische Katastrophe; sie hat den Bankrott der Regierungen und des gesamten kapitalistischen Systems offengelegt. Seit über einem Jahr weigern sich Regierungsvertreter aller Couleur mit Rücksicht auf die Profite der schmalen Oberschicht, die notwendigen Entscheidungen zu treffen.

Die Arbeiter müssen die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. Sie müssen sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren, um ihren Schutz und den ihrer Familien selbst in die Hand zu nehmen. Nur ein europaweiter Generalstreik kann einen Lockdown durchsetzen, der die Bedingungen dafür schafft, die Pandemie unter Kontrolle zu kriegen.

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