Nochmals zur Frage des Antisemitismus

Während des Gaza-Kriegs befanden sich deutsche Politiker und Medien 24 Stunden am Tag im Propagandamodus. Sie verteidigten das mörderische Bombardement Gazas mit dem Mantra, Israel habe „das Recht, sich selbst zu verteidigen“. Gleichzeitig denunzierten sie jeden Protest gegen die Kriegspolitik Israels als antisemitisch, selbst wenn sich die Organisatoren explizit gegen Antisemitismus aussprachen.

Die WSWS hat bereits in einem früheren Kommentar klargestellt, dass Kritik am brutalen Vorgehen Israels nichts mit Antisemitismus zu tun hat. Ganz im Gegenteil stammt die Behauptung, der Bombenterror des zionistischen Regimes gegen eine größtenteils wehrlose Bevölkerung geschehe im Namen des Judentums, aus dem klassischen Arsenal des Antisemitismus.

„Antisemit ist nicht, wer gegen die Verbrechen der Regierung von Benjamin Netanjahu protestiert, der mit rechtsextremen Parteien paktiert, mit einem Bein im Gefängnis steht und sich nur durch ständige Provokationen an der Macht halten kann“, schrieben wir. „Antisemit ist, wer ‚die Juden‘ pauschal mit der Politik der israelischen Regierung gleichsetzt.“

Weiter wiesen wir darauf hin, dass der Vorwurf des Anti-Semitismus von den gleichen Kräften erhoben wird, „die selbst tief in rechten, antidemokratischen und militaristischen Verschwörungen stecken und von denen die wirkliche faschistische und antisemitische Gefahr ausgeht“.

Wie weit fortgeschritten diese gefährliche Entwicklung ist, unterstreichen zwei Interviews mit dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck und dem amtierenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU). Beide spielten in den letzten Jahren eine führende Rolle bei der Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Außen- und Großmachtpolitik. Nun plädieren sie ganz offen für mehr Toleranz und Verständnis gegenüber der extremen Rechten und verteidigen damit Kräfte, die tatsächlich antisemitisch sind.

Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bringt Schäuble den reaktionären Charakter der gesamten offiziellen Antisemitismus-Kampagne auf den Punkt. Er hetzt gegen Migranten, die angeblich „die Vernichtung Israels fordern“, schwadroniert im Stile der extremen Rechten über das „Problem eines importierten Antisemitismus aus muslimisch geprägten Ländern“ und denunziert den „Antisemitismus der extremen Linken“. Gleichzeitig nimmt er die AfD vor dem Vorwurf des Antisemitismus in Schutz und preist die Faschisten sogar als Bündnispartner im Kampf dagegen.

Bereits in den letzten Jahren haben die etablierten Parteien die AfD in die parlamentarische Arbeit integriert und ihre menschenverachtende Politik übernommen. Nun lobt sie Schäuble mit den Worten: „Auch die AfD im Bundestag ist peinlich bemüht, nicht in die antisemitische Ecke gerückt zu werden. Sie hat der Berufung eines Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung und einer Antisemitismusresolution genauso zugestimmt wie alle Parteien, und zwar einstimmig.“

Tatsächlich haben die sogenannten „Antisemitismusresolutionen“, die der Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet hat, nichts mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun. Ganz im Gegenteil: Wie die aktuelle Kampagne zielen sie auf die Unterstützung der israelischen und imperialistischen Kriegspolitik im Nahen Osten und die Kriminalisierung jeder Opposition dagegen.

Schäubles Versuch, die AfD als Vorkämpferin gegen Antisemitismus zu stilisieren, ist eine gezielte Provokation. Die Partei ist voll von Rassisten und Antisemiten, und ihre führenden Mitglieder, darunter der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland und der Thüringer Landes- und Fraktionsvorsitzende Björn Höcke, verharmlosen den Holocaust, verherrlichen die Nazi-Wehrmacht und agitieren gegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Alexander Gauland (rechts) und Björn Höcke bei der AfD-Wahlparty in Erfurt nach den Landtagswahlen in Thüringen am 27. Oktober 2019 (AP Photo/Jens Meyer)

Es ist eine Tatsache, dass fast alle antisemitischen Übergriffe und Gewalttaten in Deutschland, darunter der Terroranschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019, auf das Konto von Rechtsextremen gehen.

Auch in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden der Bundesregierung 428 Straftaten und sechs Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund gemeldet, die größtenteils von Rechtsextremen begangen wurden. So entfielen 387 der Straftaten und fünf der Gewalttaten auf den Phänomenbereich „politisch rechts motivierte Kriminalität“. Dagegen wurden nur eine Gewalttat sowie eine sonstige Straftat der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität – ausländische Ideologie“ zugeordnet und zwei Straftaten dem Bereich „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“.

Schäuble kennt diese Fakten. Gegenüber der FAZ muss er zugeben, dass die Täter „meist nicht Migranten, sondern Rechtsextreme“ sind. Und trotzdem preist er genau diese Kräfte. Im Interview entschuldigt er sogar Gaulands Aussage, Hitler und die Nazis seien nur „ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ gewesen. Gauland habe „sich nun so oft für diese Wort entschuldigt, dass ich sagen muss: Das ist kein Ausdruck von Antisemitismus, sondern von einem völlig falschen Geschichtsbild“.

Ein Geschichtsbild, dass Schäuble und die herrschende Klasse bewusst propagieren. Auf die Nachfrage der FAZ – die Gauland selbst regelmäßig ihre Seiten für seine Nazi-Hetze zur Verfügung stellt –, ob die „Distanzierungen“ der AfD „nicht nur Taktik seien“, antwortet Schäuble zynisch: „Als Bundestagspräsident nehme ich ernst, was jemand sagt. Im Übrigen ist mir lieber, wenn die AfD an der Holocaust-Gedenkstunde am 27. Januar teilnimmt, als wenn sie es nicht tut.“

Schäuble verschweigt, dass die AfD offizielle Holocaust-Gedenken wiederholt boykottiert oder genutzt hat, um die Opfer des faschistischen Terrors zu verhöhnen und die Verbrechen der Nazis zu relativieren. 2019 etwa rechtfertigte der Chef-Ideologe der AfD, Marc Jongen, den minutiös geplanten Vernichtungskrieg der Nazis, der 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete und direkt in den Holocaust führte, als Reaktion auf stalinistische Gewalttaten.

Bezeichnenderweise berief sich Jongen dabei auf den rechtsradikalen Humboldt-Professor Jörg Baberowski, der eng mit der Regierung zusammenarbeitet und von allen Bundestagsparteien vehement gegen Kritik verteidigt wird. Baberowski rechtfertigt nationalsozialistische Verbrechen und Hitler. 2014 outete er sich im Spiegel als Anhänger des mittlerweile verstorbenen Nazi-Apologeten und Antisemiten Ernst Nolte. Er erklärte: „Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.“

Wie sehr die rechte Offensive von höchsten Vertretern des kapitalistischen Staats ausgeht, zeigt ein weiteres Interview mit Joachim Gauck im Tagesspiegel. Darin wettert der frühere Bundespräsident und Pastor gegen eine angebliche „Intoleranz der Guten“, die „zulässige Fragen oder Meinungen schon als gefährlich für das Gemeinwesen oder vorschnell als rechtsradikal“ einstufen. Es sei doch gerade „das Zeichen der offenen Gesellschaft, dass sie Unterschiede aushält und nicht verbietet, wenn Leute Ansichten vortragen, die einem nicht besonders oder auch gar nicht gefallen“.

Gauck macht ebenfalls keinen Hehl daraus, um welche „Ansichten“ es ihm geht. Als der Tagesspiegel daran erinnert, dass Gauck „diese Toleranz“ schon „einmal für AfD-Wähler eingefordert“ habe, und ihn fragt, ob „das jetzt auch für ‚Querdenker‘ und ‚Impfgegner‘ gelten“ solle, antwortet Gauck: „Absolut.“ Man solle ihn „aber bitte nicht falsch verstehen. Toleranz heißt nicht akzeptieren.“ Man könne aber „doch nicht alle ausgrenzen, die mit der Corona-Politik unzufrieden sind“.

Auch das ist eindeutig. Die sogenannten „Querdenker“-Demonstrationen werden dominiert von rechtsextremen und faschistischen Kräften, die ihre Gesinnung in Form von Reichskriegsflaggen und antisemitischen Symbolen offen zur Schau tragen. Gauck und die gesamte offizielle Politik haben die Aufmärsche in der Vergangenheit nicht nur „toleriert“, sondern offen unterstützt, da sie dazu dienen, Gegner der kriminellen Corona-Politik der Regierung einzuschüchtern und die Öffnungspolitik voranzutreiben, die allein in Deutschland bereits mehr als 87.000 Menschenleben gekostet hat.

Auch außenpolitisch stützt sich die herrschende Klasse zunehmend auf faschistische und antisemitische Kräfte. Dies wurde vor allem beim rechtsextremen Putsch in der Ukraine 2014 sichtbar, als der damalige deutsche Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Führer der faschistischen Svoboda-Partei Oleh Tjahnybok in der deutschen Botschaft in Kiew empfing. Tjahnybok ist ein notorischer Antisemit, der in Reden „gegen Judenschweine und sonstiges Gesindel“ hetzt. Seine Vorbilder sind Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch, die am Massenmord an tausenden ukrainischen Juden beteiligt waren.

Die offizielle „Antisemitismus-Kampagne“ muss entschieden zurückweisen werden. Antisemiten sind nicht die Millionen in Deutschland und weltweit – darunter viele jüdische Arbeiter und Jugendliche –, die über die mörderische Kriegspolitik Israels und seiner imperialistischen Unterstützer entsetzt sind und dagegen protestieren.

Die Gefahr des Antisemitismus geht von der herrschenden Klasse aus, die wie in den 1930er Jahren rechtsextreme und faschistische Kräfte aufbaut, um das kapitalistische System zu retten und ihre reaktionäre Politik nach innen und außen gegen die wachsende Opposition durchzusetzen. Heute wie damals erfordert der Kampf gegen Krieg, Faschismus und Antisemitismus die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms.

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