Die Corona-Pandemie in Indien: Anatomie eines sozialen Verbrechens

Die offizielle Zahl der täglichen Neuinfektionen und der aktiven Fälle geht in Indien seit fast zwei Wochen zurück. Deshalb prahlt die rechtsextreme Regierung von Narendra Modi bereits mit einem „Abwärtstrend“ in der Pandemie. Einige von der Opposition geführten Bundesstaatsregierungen, einschließlich Delhi, haben inzwischen Pläne zur Lockerung der begrenzten Lockdown-Maßnahmen angekündigt.

Dennoch befindet sich Indien in jeder Hinsicht mitten in einer sozialen Katastrophe. Laut den offiziellen Zahlen hat sich die Gesamtzahl der Infektionen seit dem 1. April mehr als verdoppelt – von 12,1 Millionen auf 26,9 Millionen. Die Zahl der Toten ist im gleichen Zeitraum, bis Dienstagmorgen, um 89 Prozent auf 307.231 angestiegen. Allein in der letzten Woche verzeichnete Indien weitere 1,73 Millionen Covid-19-Fälle und 28.512 Tote – mehr als 4.000 pro Tag.

Familienmitglieder beten bei der Verbrennung eines Corona-Toten vor einem Krematorium in Srinagar, 25. Mai 2021 (AP Photo/Dar Yasin)

Doch selbst diese erschütternden Zahlen werden allgemein als deutlich zu niedrig angesehen – außer von Modi, seinen Anhängern in der Regierung unter BJP (Bharatiya Janata Party) und deren Apologeten. Das gilt umso mehr, da sich die Pandemie jetzt auch in den ländlichen Gebieten Indiens ausbreitet, wo kaum oder gar keine Tests durchgeführt werden und es keine oder bestenfalls marode Gesundheitseinrichtungen gibt.

In großen Teilen Indiens waren die Krematorien und Friedhöfe wegen der vielen Toten wochenlang so ausgelastet, dass in den Nächten durchgearbeitet werden musste. In Modis Heimatstaat Gujarat begannen in einigen Krematorien aufgrund der Hitze die Verbrennungsöfen zu schmelzen. Anfang des Monats wurden im Fluss Ganges Dutzende von Leichen gefunden. Laut Newsclick, das sich auf lokale Berichte beruft, hat man in mehreren Distrikten des bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaats Uttar Pradesh an den Ufern des Ganges etwa 2.000 weitere „zurückgelassene oder hastig begrabene“ Leichen gefunden.

In mehreren Städten und Bundesstaaten wurden Studien durchgeführt, laut denen während der „zweiten Welle“ der Pandemie Ende März und April die Krematorien und Friedhöfe in Indien fünf- bis zehnmal mehr Leichen nach Covid-19-Vorschriften beerdigt oder verbrannt haben als aus den Pandemie-Todeszahlen der Behörden hervorgeht. Auf das ganze Land hochgerechnet würde das bedeuten, dass täglich in ganz Indien Zehntausende an Covid-19 sterben.

Das volle Ausmaß dieser Tragödie ist noch unbekannt, doch die Schätzungen von wissenschaftlichen Experten geben ein ungefähres Bild. Anfang des Monats, als die offizielle Zahl der Toten in Indien bei unter 250.000 lag, veröffentlichte das amerikanische Institute for Health Metrics and Evalution (IHME) eine Studie, die als geschätzte reale Todeszahl für Indien 736.000 angab – fast dreimal so viel. Am Dienstag veröffentlichte die New York Times drei Schätzungen zur Gesamtzahl der Covid-Todesopfer in Indien, die in Zusammenarbeit mit mehr als einem Dutzend Experten aus der ganzen Welt zusammengestellt wurden. Die Zahlen reichten von einer „konservativen“ Schätzung von 600.000 Toten – fast zweimal so viele wie die offizielle Zahl – bis hin zu einem Worst-Case-Szenario, das die wirklichen Zahlen auf mehr als vier Millionen schätzt. Laut der Times war die Pandemie im „wahrscheinlichsten Szenario“ für ganze 1,6 Millionen „geschätzte Todesfälle“ in Indien verantwortlich.

Indiens Regierungen sind verantwortlich für sozialen Mord

Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um eine von Menschen verursachte Katastrophe handelt. Ende März 2020 verhängte die BJP-Regierung einen schlecht vorbereiteten und verhängnisvollen sechswöchigen Lockdown, der die Ausbreitung des Virus nicht aufhalten konnte, weil er ohne die grundlegendsten Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und ohne soziale Unterstützung für die hunderte Millionen durchgeführt wurde, die über Nacht ihre Lebensgrundlage verloren. Seither hat Modi auf Geheiß der indischen Milliardäre und Unternehmen und mit der Unterstützung der Oppositionsparteien konsequent eine Politik der „Herdenimmunität“ verfolgt. Die „Wirtschaft“ offen zu halten und die Profite und den Reichtum der kapitalistischen Elite zu schützen, hat bei diesem Kurs Vorrang vor der Bekämpfung der Pandemie und der Rettung von Menschenleben.

Die Folge war eine Infektions- und Todeswelle, die den ganzen Sommer und Herbst andauerte. Seit Mitte Februar setzte dann eine noch verheerendere zweite Welle ein, die von neuen Varianten angeheizt wurde und den ganzen Sommer oder noch länger andauern könnte.

Am 20. April, als sich Indien mitten im bis dahin weltweit schnellsten Anstieg der Neuinfektionen befand, erklärte Modi in einer Rede an die Nation, seine Regierung sei entschlossen, „Indien vor dem Lockdown zu retten“ – nicht die Bevölkerung vor dem Virus. Das heißt, die Politik des Massensterbens zum Schutz der kapitalistischen Profite wird noch verschärft. Gleichzeitig versicherten Modi und Finanzminister Nirmala Sitharaman dem Großkapital, dass die zweite Welle die Umsetzung einer Reihe von „investorenfreundlichen“ Maßnahmen nicht verzögern wird. Dazu gehören ein massiver Ausverkauf von öffentlichen Unternehmen und Änderungen des Arbeitsrechts, die zu einer Ausweitung von prekären Zeitarbeitsverhältnissen führen und die meisten Arbeitskampfmaßnahmen illegalisieren werden.

Angesichts des Zusammenbruchs der Gesundheitssysteme unter der Last der Covid-Patienten gingen einige Bundesstaatsregierungen schließlich über Modis erklärte Bevorzugung von „Mikro-Eindämmungs“-Maßnahmen hinaus und verhängten Teil-Lockdowns für ihre Bundesstaaten. Allerdings haben sie überall umfangreiche Ausnahmen für das Großkapital eingeräumt, sodass die Beschäftigten in Industrie, Baugewerbe, Logistik und weiteren Branchen weiterhin unter unsicheren Bedingungen arbeiten müssen. Zudem haben die Bundesstaatsregierungen den Dutzenden Millionen Tagelöhnern, Straßenhändlern und Beschäftigten des Dienstleistungsgewerbes, die aufgrund der Lockdowns erneut ihre Lebensgrundlage verloren haben, nur extrem geringe Hilfen gewährt.

Deshalb herrscht neben der Corona-Pandemie noch eine zweite, ebenso verheerende Pandemie: Hunderte Millionen Arbeiter und Beschäftigte in der Landwirtschaft, deren magere Einkommen bereits jetzt erschöpft sind, leiden unter Arbeitslosigkeit und Hunger. Laut einer aktuellen Studie sind im letzten Jahr weitere 230 Millionen Inder unter die Armutsgrenze von 375 Rupien (etwa fünf Dollar) pro Tag gesunken.

Beispielhaft für die wachsende Wut und den Widerstand in der Arbeiterklasse war der Protest der Autoarbeiter im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu gegen die Rückkehr zur Arbeit unter unsicheren Bedingungen, zu der sie die transnationalen Autokonzerne und die Bundesstaatsregierung der oppositionellen DMK zwingen wollten. Hyundai musste am Dienstag eine fünftägige Schließung seines Werks ankündigen, nachdem die Arbeiter dort am Montag eine Sitzblockade organisiert hatten. Im benachbarten Renault-Nissan-Werk drohten die Arbeiter mit einem Streik ab Mittwoch.

Die ländlichen Gebiete Indiens – durch Covid-19 verwüstet

In den ländlichen Gebieten Indiens wütet die Pandemie unter einer nahezu schutzlosen Bevölkerung. Die Zahl der Geimpften ist in ganz Indien katastrophal niedrig. Bis Montag hatten nur 11,1 Prozent der Bevölkerung ihre erste Dosis erhalten, und in den ländlichen Gebieten ist diese Zahl noch deutlich niedriger. Bis zum 14. Mai wurden in den halbländlichen Gebieten nur halb so viele Impfstoffdosen verabreicht wie in den städtischen Gebieten, und in den ländlichen Gebieten nur ein Drittel so viele wie in den Städten.

Fast zwei Drittel der 1,37 Milliarden Einwohner Indiens leben in ländlichen Regionen. Aber es gibt dort nicht einmal die grundlegendste Gesundheitsinfrastruktur zur Behandlung der Erkrankten, weil Indien seit Jahrzehnten nur 1,5 Prozent des BIP oder sogar weniger für sein Gesundheitswesen ausgibt.

Die jährlichen Statistiken über das Gesundheitssystem in den ländlichen Gebieten für den Zeitraum 2019–20, die von der National Health Mission des Gesundheitsministeriums veröffentlicht wurden, weisen auf den katastrophalen Zustand des dreigliedrigen Gesundheitssystems in diesen Regionen hin. Aufgrund von chronischem Personalmangel, Unterfinanzierung und Mangel an Grundausstattung können die Unterzentren, primären Gesundheitszentren (PHC) und kommunalen Gesundheitszentren (CHC) nur unter großen Schwierigkeiten Patienten behandeln.

Wenn man die Bevölkerungszahlen von 2020 zugrunde legt, bräuchte Indien 191.461 Unterzentren, vorhanden sind jedoch nur 155.400. Statt der benötigten 31.337 PHCs gab es nur 24.918 und statt der benötigten 7.820 CHCs nur 5.183.

Der Bericht wies darauf hin, dass mehr als 44.000 Unterzentren und mehr als 1.000 PHCs keine Stromversorgung haben. Fast 23.000 Unterzentren und fast 1.800 PHCs besitzen keine Wasserversorgung und etwa 28 Prozent der PHCs keine Räumlichkeiten für sichere Entbindungen. 65 Prozent der PHCs verfügen über keine voll ausgerüsteten, der Norm entsprechenden Operationssäle, und 30 Prozent der PHCs haben weniger als die Mindestmenge von vier Belegbetten für Patienten.

Der Bericht ging auch auf den akuten Mangel an Pflegepersonal ein. In Bihar hat die Bundesstaatsregierung 4.129 Stellen für Ärzte an PHCs genehmigt, allerdings sind nur 1.745 besetzt.

Den kommunalen Gesundheitszentren fehlen wichtige Spezialisten wie Chirurgen, Kinderärzte, Geburtshelfer und Gynäkologen. Obwohl an den 5.183 CHCs etwa 20.732 Spezialisten gebraucht werden, wurden nur 13.266 Stellen genehmigt, von denen nur 4.957 besetzt sind. In den ärmsten Bundesstaaten sind diese Engpässe besonders ausgeprägt. In Uttar Pradesh werden 2.844 Spezialisten benötigt, vorhanden sind jedoch nur 816. In Rajasthan sind nur 438 von 2.192 Stellen besetzt, in Madhya Pradesh nur 46 von 1.236 und in Gujarat nur 13 von 1.392.

Die schrecklichen Zustände in Gujarat sind insoweit bemerkenswert, als Modi 12 Jahre lang Regierungschef dieses Bundesstaates war, und der Staat oft als Vorbild für den kapitalistischen Aufstieg Indiens dargestellt wurde. Im ländlichen Distrikt Narmada, in dem etwa 600.000 Menschen leben, gab es bis Anfang April nur ein einziges für Covid-19 zuständiges Krankenhaus mit nur 100 Betten. Laut den Centres for Disease Dynamics and Economics gibt es in Gujarat weniger als 100 Krankenhausbetten auf 100.000 Einwohner, landesweit nur 138 – der Mindeststandard der Weltgesundheitsorganisation liegt bei 300 Betten auf 100.000 Einwohner.

Aufgrund der kriminellen Weigerung der Zentralregierung und der Bundesstaatsregierungen, die notwendigen Mittel für das chronisch unterfinanzierte Gesundheitssystem bereitzustellen, liegt die Verantwortung für die Pflege von Covid-Patienten weitgehend in den Händen der Accredited Social Health Activists (ASHA), einer ausschließlich mit Frauen besetzten kommunalen Freiwilligenorganisation, deren Mitglieder nur Grundkenntnisse in der Pflege haben. Trotz ihrer gefährlichen und anspruchsvollen Arbeit verdienen ASHA-Mitarbeiterinnen nur 2000 Rupien (26,40 Dollar) pro Monat. Als Anerkennung für ihre zusätzlichen Aufgaben angesichts von Covid-19 haben sie nur erbärmliche 1.000 Rupien (13,20 Dollar) als Bonus erhalten. Viele Arbeiterinnen erhalten zudem nicht einmal diesen mageren Lohn. Am Montag boykottierten mehr als 42.000 ASHA-Arbeiterinnen im südindischen Bundesstaat Karnatka aus Protest gegen den Mangel an Schutzausrüstung und wegen der seit zwei Monaten ausstehenden Löhne ihre Arbeit. Farhana, eine ASHA-Mitarbeiterin in der Hauptstadt des Bundesstaats Bengaluru, erklärte gegenüber dem Indian Express: „Wir erhalten nicht einmal richtige Gesichtsmasken, von qualitativ hochwertiger Schutzausrüstung ganz zu schweigen. Wir werden oft vernachlässigt, genauso war es auch letztes Jahr.“

Die Corona-Katastrophe in den ländlichen Gebieten Indiens birgt eine große Bedrohung für die arbeitende Bevölkerung weltweit. Die Entscheidung der Modi-Regierung, nichts gegen die Ausbreitung des Virus zu unternehmen, schafft die perfekten Bedingungen für die Entstehung neuer Varianten, die auch resistenter gegen Impfstoffe sein könnten. Gleichzeitig hat Indien, das eigentlich preisgünstige Impfstoffe an viele afrikanische und asiatische Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen liefern sollte, jeden Export von Impfstoffen bis mindestens Ende des Jahres untersagt.

Um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen und weitere Masseninfektionen und Massensterben zu verhindern, müssen sich die indischen Arbeiter und die Landbevölkerung mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern im Rest der Welt vereinen. Nur so können sie der „Profite vor Leben“-Politik aller Regierungen ein Ende bereiten und das Leben und die Lebensgrundlage der arbeitenden Bevölkerung schützen. Wir rufen alle, die an diesem Kampf teilnehmen wollen, zur Teilnahme an der Online-Veranstaltung „Die Corona-Pandemie und die Notwendigkeit einer sozialistischen Strategie“ auf, die die Socialist Equality Party von Sri Lanka am 30. Mai um 18 Uhr indischer Standardzeit veranstaltet.

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