Vorzeitige Corona-Lockerungen auf Kosten der Arbeiterklasse

Seit dem gestrigen Montag sind die Schulen fast überall wieder offen, und in Parks, Promenaden und Gartenwirtschaften herrscht dichtes Gedränge. Offener Schulbetrieb und Urlaub sollen laut Bundeskanzlerin Merkel jetzt unabhängig vom Impfen wieder möglich sein.

Aber die Pandemie ist keineswegs vorbei. Den Preis für die riskanten Lockerungen zahlt die Arbeiterklasse. Nach wie vor gibt es in der Produktion, der Pflege und in landwirtschaftlichen oder Verkehrsbetrieben neue Corona-Ausbrüche. Darüber erfährt man wenig aus den bürgerlichen Medien, denn Unternehmer, Politiker und Gewerkschafter mauern systematisch. Nur sporadisch dringen Berichte an die Öffentlichkeit.

Einen größeren Ausbruch hat es Mitte Mai an einem Standort der Deutschen Bahn in Fulda gegeben. Wie BuzzFeed News Deutschland berichtete, wurden mehr als 60 der rund 600 Beschäftigten positiv getestet. Wie viele erkrankte Arbeiter einen schweren Verlauf hatten oder sogar ins Krankenhaus mussten, gab weder die Deutsche Bahn noch die Verkehrsgewerkschaft EVG bekannt.

Buzzfeed News schreibt, dass auch die Pressestelle des Landkreises Fulda auf ihre Anfrage nur höchst allgemein geantwortet habe: Demnach habe es im Landkreis zuletzt „in vier unterschiedlichen Unternehmen höhere Fallzahlen gegeben“. Seither habe sich „in drei der vier Unternehmen“ die Lage wieder beruhigt. Das vierte war offenbar die Deutsche Bahn.

Auch Pflegekräfte in Krankenhäusern und Seniorenheimen sind weiterhin betroffen. Im hessischen Alzey haben sich letzte Woche zwei Pflegekräfte und sieben Patienten eines DRK-Krankenhauses infiziert, als ein Mitarbeiter, der bereits einmal gegen Corona geimpft war, unwissentlich das Corona-Virus einschleppte.

Spargelernte

Einen besonders großen Ausbruch verzeichnet schon seit Mitte April ein niedersächsischer Spargelhof. Dabei haben sich bei der Thiermann GmbH in Kirchdorf, einem der größten Spargelhöfe Deutschlands, bis Pfingsten nicht weniger als 144 Arbeiterinnen und Arbeiter mit Covid-19 infiziert. Bereits am 18. April wurden unter den über tausend Erntehelferinnen und -helfer die ersten Corona-Infizierten entdeckt, aber erst zehn Tage später wurden Ende April Reihentestungen durchgeführt. Das Virus hatte also zehn Tage Zeit, sich ungehindert auszubreiten.

Als das zuständige Gesundheitsamt endlich Reihentests durchführte, wurden 47 Arbeiter positiv getestet, und seither sind fast hundert weitere hinzugekommen. Der Betrieb wurde nicht stillgelegt, und die direkten Kontakte der Infizierten wurden nicht ermittelt. Dazu waren die Behörden „aufgrund des diffusen Infektionsgeschehens innerhalb des Betriebs“ nicht in der Lage, so die Sprecherin des Landkreises gegenüber der Deutschen Welle (DW). Stattdessen wurde über den gesamten Hof die berüchtigte Arbeitsquarantäne verhängt. Dabei durften die Beschäftigten den Hof nicht verlassen, der nun von Polizei und Security überwacht wurde. Sie „durften“ aber weiterarbeiten und liefen damit ständig Gefahr, sich ebenfalls anzustecken.

Das Virus konnte sich ungehindert in der gesamten Belegschaft ausbreiten. Auch sind weder das Unternehmen noch das Gesundheitsamt bereit, Auskunft darüber zu geben, wie viele der infizierten Arbeiter und Arbeiterinnen des Spargelhofs Thiermann schwer erkrankt sind und ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Die Arbeiter, mit denen DW sprechen konnte, berichteten von bis zu fünf Personen, die im Krankenhaus lägen. Davon habe mindestens eine Person einen schweren Covid-19-Verlauf.

Wie Arbeiterinnen berichteten, teilen sie sich zu zweit und zu dritt ein Zimmer, müssen aber an unterschiedlichen Stellen des Hofs arbeiten. „Es wird nicht darauf geachtete, wer zusammen wohnt.“ Meist sei es bei der Arbeit, zum Beispiel in der Sortieranlage, gar nicht möglich, auf Abstand zu achten, Die Erntehelfer werden in Gruppen von 50 zur Arbeit geführt und dort jeweils zu zwölf Personen aufgeteilt.

Eine Gruppe von etwa hundert Arbeiterinnen versuchte offenbar, sich dagegen zu wehren, und beschloss in der Nacht nach den Testungen zu streiken. Aus Angst vor dem Virus gingen sie zwei Tage lang nicht zur Arbeit. Wie eine Arbeiterin der DW sagte, hätten sie auch eine bessere Bezahlung gefordert, aber bisher nicht erhalten.

Bezahlt wird ein Brutto-Mindestlohn von 9,50 Euro (netto: 6,80 Euro) pro Stunde, der an ein Bonussystem gekoppelt ist. Pro Tag werden zudem 9,80 Euro für Unterkunft und Mittagessen vom Lohn abgezogen. Damit sich das Arbeiten für die Beschäftigten lohnt, wird an sieben Tage die Woche gearbeitet, bis zu elf Stunden am Tag. Auch diese mörderischen Arbeitszeiten und die harte Arbeit trugen dazu bei, dass sich Covid-19 so rasch und weit verbreiten konnte.

Wie schon im letzten Jahr hat die Pandemie mit diesem Fall die brutalen Arbeits- und Ausbeutungsbedingungen der Saisonarbeiter, die die Lebensmittelindustrie am Laufen halten, grell beleuchtet. Das haben die Berichte polnischer Arbeiterinnen gegenüber DW einmal mehr bezeugt. So habe man am Tage der Durchtestung Frauen mit positivem Testergebnis bis 23 Uhr nachts draußen warten lassen, ehe man sie in ein neues Quartier gebracht habe. Andere hätten geweint, weil sie nachhause, nach Polen fahren wollten, aber nicht durften. Die Polizei habe die Arbeitsquarantäne strikt durchgesetzt.

Die jüngsten Ausbrüche zeigen erneut, dass die Unternehmer und Politiker Profite höher stellen als das Leben der Arbeiter. Behörden und Medien spielen mit und vertuschen die Fälle. Und die DGB-Gewerkschaften sorgen dafür, dass die Belegschaften nicht etwa durch Informationen alarmiert werden. Das gilt besonders für die IG Metall in der Auto- und Zulieferindustrie, wie auch für die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi an den Flughäfen und in Logistikzentren wie Amazon.

Die Pandemie ist ein internationales Phänomen; sie ist solange nicht besiegt, solange sie nicht in allen Ländern unter Kontrolle ist. Solange besteht die Gefahr, dass sich neue Virus-Mutanten ausbreiten, die die Fallzahlen wieder in die Höhe treiben und die Intensivstationen erneut füllen.

In Finnland breitet sich gerade die „indische“ Virusmutante B.1.617 in mehreren Krankenhäusern aus, und dies auch bei Personen, die schon einmal geimpft worden sind. Auch in Kanada hat es hunderte Fälle sogenannter „Breakthrough-Infections“ gegeben, d.h. Infektionen von Personen, die bereits einmal geimpft waren. Und aus Vietnam, das bisher gut durch die Pandemie kam, wird zurzeit über einen neuen Erreger berichtet, der Merkmale der britischen und indischen Virenstämme auf gefährliche Weise kombiniert.

In Deutschland gehen die Inzidenzzahlen zwar momentan zurück. Derzeit wird eine durchschnittliche 7-Tage-Inzidenz von 35 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gemeldet. Verschwiegen wird dabei, dass die Inzidenz bei Kindern deutlich höher liegt. Bei den 10-14-Jährigen beträgt die letzte bekannte Inzidenzzahl vom 25. Mai nicht weniger als 101. Erst 41,5 Prozent der Bevölkerung haben die erste Impfung erhalten, und weniger als 16 Prozent sind vollständig geimpft.

Dies in einer Situation, in er sich die „indische“ Variante B.1.617 gerade in Europa ausbreitet. Gegen dieses Virus ist, wie sich in Großbritannien zeigte, der Impfschutz erst nach der zweiten Impfdosis wirksam, die den allermeisten Menschen hierzulande noch fehlt. Für Kinder gibt es bisher noch überhaupt keine Impfung.

Die Regierungspolitiker nutzen die rückläufigen Corona-Zahlen, um ein falsches Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) behauptete Anfang der Woche, dass „ein sicherer Schulbetrieb“ wieder möglich sei, „unabhängig von der Frage, ob ein Kind geimpft ist oder nicht“. Gleiches gelte für den Urlaub, der „sowohl im europäischen Ausland, als auch in Deutschland“ wieder möglich sein müsse. Dies begründete Merkel absurderweise damit, dass das Testen „vollkommen ausreichend“ sei – in einer Situation, in der sich die Berichte über systematischen Betrug beim Massentesten häufen.

Es ist klar, dass die Erklärungen der etablierten Politiker kein Vertrauen verdienen. Sie haben sich seit Beginn der Pandemie als verlässliche Diener der Profitwirtschaft erwiesen.

Die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei treten dafür ein, dass sich Arbeiter in unabhängigen Aktionskomitees zusammenschließen, um die Kontrolle über die Pandemie selbst in die Hand zu nehmen. Der erste Schritt muss darin bestehen, sämtliche Information über das Ausmaß der Corona-Fälle in den Betrieben und Arbeiterwohngebieten bekannt zu machen. Um die Kämpfe international zu koordinieren, ruft das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) zur Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees auf.

Ein wichtiges Ziel ist die Wiedereinstellung des Londoner Busfahrers David O’Sullivan: Er wurde vom Busunternehmen Metroline entlassen, weil er seine Kollegen vor der Corona-Gefahr auf dem Betriebshof gewarnt hatte. In London sind bereits 60 Busfahrer an Covid-19 gestorben. David O’Sullivans Wiedereinstellung ist ein Testfall für die internationale Solidarität, und jeder klassenbewusste Arbeiter muss sie entschieden unterstützen!

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