Kanada: Massengrab mit 215 Kinderleichen auf Gelände eines „Indianer“-Internats entdeckt

In Kamloops (British Columbia) wurden die Leichen von 215 indigenen Kindern in einem Massengrab auf dem Gelände der seit langem geschlossenen Kamloops Indian Residential School gefunden. Die grausige Entdeckung ist ein weiterer Beweis für die Brutalität und Unmenschlichkeit des staatlich geförderten kanadischen Internatssystems, das bis in die 1970er Jahre Bestand hatte. Es zielte darauf ab, die indigene Kultur auszurotten und die indigenen Kinder in gefügige Arbeitskräfte für den kanadischen Kapitalismus zu verwandeln.

Kamloops Residential School Memorial in Vancouver, 30. Mai 2021 (Wikimedia Commons)

Lokale indigene Gruppen und Überlebende des Umerziehungsinternats haben seit Jahrzehnten für eine Durchsuchung des Schulgeländes in Kamloops gekämpft. Letzten Donnerstag veröffentlichte Rosanne Casimir einen vorläufigen Bericht; sie gehört selbst dem Volk der Tk'emlúps te Secwépemc im südzentralen British Columbia an und ist Leiterin der in Kamloops lebenden indigenen Gruppe.

Bis heute wurden 215 Leichen, darunter einige von erst dreijährigen Kindern, durch Bodenradar aufgefunden. Diese Todesfälle wurden nie dokumentiert. Casimir sagte, dass weitere Leichen entdeckt werden könnten, da noch weitere Teile des Geländes abgesucht werden müssten. Ähnliche grausige Entdeckungen, wenn auch nie in diesem Ausmaß, waren im Laufe der Jahre schon an anderen ehemaligen Internatsstandorten gemacht worden. Sprecher der Ureinwohner bezeichnen das Massengrab in Kamloops als „Spitze des Eisbergs“.

Mitglieder der Community haben Blumen und andere Erinnerungsstücke an dem Schulgelände in Kamloops niedergelegt. In Vancouver haben Künstler 215 Paar winziger Schuhe auf den Stufen der Kunstgalerie der Stadt aufgereiht, um an die Kinder und die an ihnen begangenen Verbrechen zu erinnern. Ihre Aktion hat weitere Initiativen inspiriert, und im ganzen Land sind ähnliche Gedenkstätten mit Kinderschuhen entstanden. Diese größtenteils spontanen Aktionen zeigen das große Entsetzen in der Bevölkerung, unabhängig vom jeweiligen ethnischen Hintergrund. Allgegenwärtig ist die Abscheu über die Misshandlungen und den Missbrauch, den die indigene Bevölkerung durch den kanadischen kapitalistischen Staat erlitten hat.

Die Kamloops Indian Residential School war die größte Internatsschule eines Schulsystems, das 1890 unter Führung der römisch-katholischen Kirche gegründet und von ihr bis 1969 geleitet wurde. Danach übernahm die Bundesregierung das Heim als Tagesschule, bis es 1978 geschlossen wurde. Seit einigen Jahren geben Überlebende der Schule immer neue detaillierte Augenzeugenberichte über die Unterernährung, die Krankheiten und den systematischen körperlichen, sexuellen und psychologischen Missbrauch, dem sie und andere, ihren Eltern weggenommene Kinder ausgesetzt waren.

Mehr als 100 Jahre lang gab es in Kanada ein System von Internatsschulen für indigene Kinder. Diesen Schulen lagen finanzielle und administrative Vereinbarungen zwischen der kanadischen Regierung und der römisch-katholischen, anglikanischen, methodistischen, presbyterianischen oder Vereinigten Kirche zugrunde. Insgesamt durchliefen über 150.000 Kinder der First Nations, Inuit und Métis mehr als 130 Internate in praktisch allen Teilen des Landes. Schätzungsweise 70.000 bis 80.000 ehemalige Schüler der Residential Schools sind heute noch am Leben.

Das Internatssystem wurde 1876 unter dem berüchtigten Indian Act, kurz nach der Konföderation, eingerichtet. Die Konföderation war der Deal, den Eisenbahnmagnaten, Bankiers, korrupte Politiker und britische Kolonialbeamte aushandelten, um die wichtigsten Kolonien Britisch-Nordamerikas zu einem autonomen Bundesstaat zu vereinigen. Diese Schulen, die vom Ministerium für indianische Angelegenheiten finanziert und von den Kirchen betrieben wurden, waren eine wesentliche Bedingung dafür, eins der Hauptziele der Konföderation zu erreichen, nämlich in den heutigen vier westlichen Provinzen kapitalistische Eigentumsverhältnisse zu etablieren.

In den folgenden Jahrzehnten enteignete die kanadische herrschende Elite das Land der Ureinwohner Westkanadas, wobei sie sich einer Kombination aus Unterdrückung, Aushungern und Massentötungen bedienten. Die Ureinwohner wurden in „Reservate“ getrieben, und ihre Kinder wurden weggebracht und in Internatsschulen unter den sogenannten „zivilisierenden“ Einfluss der Kirchen und anderer staatlicher Vertreter gebracht. Die letzte dieser Schulen wurde erst 1996 geschlossen.

Die Schulen waren nach dem Modell von Jugenderziehungsanstalten und Gefängnissen aufgebaut. Die Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, manchmal mit Waffengewalt der Royal Canadian Mounted Police, und von ihren Familien isoliert. Einmal in den Schulen angekommen, wurden sie einer kontrollierten und brutal disziplinierten Umgebung unterworfen, die religiöse Belehrung mit der Vermittlung von Grundfertigkeiten kombinierte. Sie wurden einer demütigenden und entmenschlichenden Behandlung unterzogen, um den Einfluss der indigenen Kultur auszurotten und Gehorsam anzutrainieren.

Die Kinder wurden regelmäßig geschlagen, wenn sie ihre Muttersprache sprachen, und als „dumme Indianer“ beschimpft. Die Regierung hatte das System so konzipiert, dass es sich selbst tragen sollte, d.h. es sollte sie kein Geld kosten. Ein Großteil des „Schultags“ bestand deshalb aus harter Arbeit, einschließlich Feldarbeit. Lebensmittel und Schulbücher waren knapp und rationiert. Die Kinder wurden kaum oder gar nicht medizinisch versorgt. Die kasernenartigen Unterkünfte und das minderwertige Essen trugen dazu bei, dass sich in den Schulen bis in die 1950er Jahre die Tuberkulose stark ausbreitete.

Zeugenaussagen von Überlebenden der Schulheime zeigen das ganze Ausmaß des Grauens, das die Kirchenvertreter mit Unterstützung des kanadischen Staats den indigenen Kindern antaten. Hier ist ein solcher Bericht:

„Ich besuchte die Internatsschule in Muscowequan von 1944 bis 1949 und hatte ein hartes Leben. Ich wurde in jeder Hinsicht misshandelt. Es gab da ein junges Mädchen, das von einem Priester schwanger wurde. Und was taten sie? Als sie das Baby bekam, nahmen sie ihr das Baby weg und wickelten es in ein schönes rosa Kleidchen. Sie brachten es nach unten, wo ich mit der Nonne das Abendessen kochte. Und sie trugen das Baby in den Heizungskeller und warfen das kleine Baby in den Ofen und verbrannten es bei lebendigem Leib. Man konnte nur noch so einen kleinen Schrei wie 'Uuh!' hören, und das war's. Man konnte das kochende Fleisch riechen.“

2015 fasste ein Bericht der WSWS die Ergebnisse der Wahrheits- und Versöhnungskommission zusammen, die die kanadische Regierung auf Druck der Überlebenden der Schule und ihrer Unterstützer eingerichtet hatte:

Zwischen „5.000 und 7.000 Kinder starben in der Obhut dieser Residential Schools an Krankheiten, Unterernährung, Feuersbrünsten, Selbstmord und körperlicher Misshandlung. Viele wurden sogar begraben, ohne dass ihr Name aufgezeichnet wurde. Die Eltern wurden selbstverständlich nicht benachrichtigt (...) Gesunde Kinder wurden bewusst in Schlafsälen mit tuberkulösen Kindern untergebracht. Kranke und sterbende Kinder wurden gezwungen, am Unterricht teilzunehmen und in der Kirche aufzustehen. Unterernährung war an der Tagesordnung. Zeugenaussagen von Überlebenden der Schulheime berichteten, wie hungrige Kinder aus Hunger die Futtereimer des Viehs plünderten.“

Das Schulheimsystem war nur ein Teil einer breit angelegten Politik zur Unterdrückung und Enteignung der Ureinwohner. Eine offene Politik des Aushungerns wurde angewandt, um die First Nations von ihrem angestammten Land in den Prärien zu vertreiben. Vertragsrechte wurden von der kanadischen Regierung einseitig außer Kraft gesetzt. Es wurden „Passgesetze“ erlassen, die es den Indigenen untersagten, das Reservat ohne Zustimmung des „Indianerbeauftragten“ der Regierung zu verlassen.

Südafrikanische Regierungsbehörden, die dabei waren, ihr eigenes System der Apartheid auszuarbeiten, waren von dem kanadischen Umgang mit den Ureinwohnern so beeindruckt, dass sie Teile davon in ihr eigenes rassistisches System einbauten. Erst 1960 wurde den „Status-Indianern“ das Wahlrecht und andere grundlegende Bürgerrechte zugestanden.

Als Reaktion auf die Entdeckung des Massengrabes hat Premierminister Justin Trudeau nun angeordnet, die Flaggen auf Halbmast zu hissen. Die Ministerin für indigene Angelegenheiten, Carolyn Bennett, bezeichnete das Internatssystem als Teil einer „beschämenden Kolonialpolitik“.

Allerdings soll sich niemand über das Vergießen von Krokodilstränen durch führende Vertreter des kanadischen Imperialismus täuschen lassen. Ihre Versuche, die grausige Entdeckung in der Kamloops Indian Residential School als „Erbe des Kolonialismus“ darzustellen, sind eine Farce. In Wirklichkeit sind Verweise auf „Kolonialismus“ oder „Siedlerkolonialismus“ ein Teil des Versuchs, die gesamte Bevölkerung oder die sogenannte „weiße Gesellschaft“ für Verbrechen, einschließlich Völkermord, verantwortlich zu machen, die der kanadische Kapitalismus begangen hat. Damit wird das Profitsystem von seiner Verantwortung für die Gräueltaten, die den Indigenen zugefügt wurden, freigesprochen.

Parallel dazu wird die reaktionäre Agenda der "Indigenen-Versöhnung" propagiert. Sie hat die Unterstützung von Trudeau, seiner liberalen Regierung, der NPD und der sie unterstützenden Gewerkschaften und eines Großteils der Konzernmedien. Die "Indigenen-Versöhnung" zielt mit ihrer falschen Rhetorik von „Gerechtigkeit“ und „Respekt“ darauf ab, die Indigenen mit der anhaltenden kapitalistischen Unterdrückung in Kanada zu „versöhnen“. Eine schmale Schicht von privilegierten indigenen Fachleuten und Geschäftsleuten, viele davon mit der Assembly of First Nations oder anderen staatlich unterstützten Gruppen verbunden, soll verstärkten Zugang zu Machtpositionen in den Institutionen des kapitalistischen Staats oder in den Vorständen der großen Energie-, Bergbau- und anderen Rohstoffunternehmen erhalten.

Die Verbrechen, die gegen die Völker der First Nations, Métis und Inuit begangen wurden, geschahen nicht zufällig oder beiläufig bei der Konsolidierung des kanadischen Nationalstaates und der kanadischen „Demokratie“. Im Gegenteil, sie entspringen dem Wesen des kanadischen Kapitalismus, aus dem Zusammenstoß zwischen kapitalistischem Privateigentum und den gemeinschaftlichen sozialen Beziehungen der indigenen Gesellschaft.

Das Erbe der gewaltsamen Enteignung der Ureinwohner durch den kanadischen Staat wirkt bis heute nach, sowohl in isolierten indigenen Gemeinden im Norden als auch in vielen der ärmsten Viertel kanadischer Großstädte wie Winnipeg und Vancouver. Die Lebenserwartung der Indigenen liegt um 15 Jahre unter der Lebenserwartung anderen Kanadier. Mehr als die Hälfte aller indigenen Kinder lebt in Armut. Die HIV- und AIDS-Raten sind in einigen westlichen Reservaten höher als in den am meisten gefährdeten Ländern Afrikas. Im hohen Norden grassieren in einigen Gemeinden Krankheiten wie Tuberkulose. Überbevölkerung in baufälligen Häusern ist endemisch. Fast die Hälfte aller Wohnhäuser in den Reservaten bedürfen dringend größerer Reparaturen.

Die Bildungschancen sind miserabel: Weniger als 50 Prozent der Schüler in den Reservaten schließen die High School ab. Jahrzehntelang erhielten die staatlich finanzierten Schulen in den Reservaten der Ureinwohner pro Kopf 30 Prozent weniger Mittel als andere kanadische Schulen; und trotz des Versprechens der Trudeau-Regierung, die Mittel auf den nationalen Durchschnitt anzuheben, klafft weiterhin eine erhebliche Finanzierungslücke. Zahlreiche indigene Gemeinden haben keinen Zugang zu Trinkwasser, und in vielen der 631 Reservate muss das Wasser nach wie vor abgekocht werden. Die Inhaftierungsrate für Indigene ist neunmal höher als der nationale Durchschnitt. Es ist wahrscheinlicher, dass ein junger Indigener ins Gefängnis geht, als dass er einen Highschool-Abschluss macht. Obwohl sie weniger als 5 Prozent der kanadischen Bevölkerung ausmachen, sind 25 Prozent der Gefangenen in Bundesgefängnissen Nachfahren der Ureinwohner.

Die Armut ist nicht nur auf die Bewohner der Reservate beschränkt. Indigene in städtischen Zentren, die etwa die Hälfte der schnell wachsenden Bevölkerung von 1,7 Millionen Indigenen ausmachen, haben die landesweit höchsten Arbeitslosenquoten, die nur noch von den Quoten in den Indigenenreservaten übertroffen werden. Landesweit sind etwa 50 Prozent der First Nations und Inuit arbeitslos.

Diese katastrophalen sozialen Bedingungen haben in den letzten Jahren zu wachsenden Protesten geführt, von der "Idle No More"-Bewegung bis zu den Wet'suwet'en-Protesten und Eisenbahnblockaden Anfang 2020. Der kanadische kapitalistische Staat reagiert darauf mit seiner gewohnten Rücksichtslosigkeit und Brutalität. So wird bewaffnete Polizei gegen Demonstranten eingesetzt, und die Gemeinden der First Nations werden überwacht.

Auch während der Wet'suwet'en-Proteste wurde in Kreisen des Establishments ausgiebig über den Einsatz des Militärs zur Niederschlagung der Protestbewegung diskutiert - ein Schritt, der sich letztlich als unnötig erwies. Die Bereitschaft der kanadischen herrschenden Elite, brutale Repression gegen die indigene Bevölkerung einzusetzen, steht im Einklang mit ihrem wachsenden Angriff auf die demokratischen Rechte aller arbeitenden Menschen, einschließlich der systematischen Kriminalisierung sozialer Opposition aus der Arbeiterklasse durch Anti-Streik-Gesetze und Polizeigewalt.

Die schreckliche Notlage von Kanadas First Nations, Métis und Inuits unterstreicht die dringende Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, ein sozialistisches Programm zur Abschaffung des Systems des kapitalistischen Privateigentums voranzutreiben, das seit 150 Jahren die Wurzel der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in Kanada ist. Die Arbeiterklasse lehnt alle Versuche ab, die arbeitenden Menschen entlang nationaler oder ethnischer Linien gegeneinander auszuspielen. Sie kämpft für die Sicherung der sozialen und demokratischen Rechte aller Unterdrückten, von denen die indigene Bevölkerung Kanadas der vulnerabelste Teil ist.

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