Europäische Staaten heben trotz neuer Covid-Welle Maßnahmen zur physischen Distanzierung auf

Die Delta-Variante des Coronavirus löst in Europa eine neue Welle der Corona-Pandemie aus. Im Verlauf der letzten Woche stieg die Zahl der Neuinfektionen europaweit um 43 Prozent auf 548.000. Gleichzeitig beenden die Regierungen die Maßnahmen zur physischen Distanzierung. Mehr als 80 Prozent der Fälle konzentrierten sich auf Großbritannien (190.294), Russland (168.035) und Spanien (89.036), wo die Zahl der Infektionen um 148 Prozent anstieg.

Ein Corona-Patient an einer ECMO-Maschine, die die Lungenfunktionen übernimmt, im Bichat-Krankenhaus in Paris am 22. April 2021 (AP Photo/Lewis Joly)

Dass sich die Infektionen in einigen Ländern mit geringeren Fallzahlen noch schneller ausbreiten, verdeutlicht die Gefahr eines katastrophalen Anstiegs der Corona-Fälle trotz der Impfkampagnen. In Luxemburg stieg die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen um das Vierfache auf 961, in den Niederlanden und Griechenland um das Dreifache (auf 11.480 bzw. 8.504) und in Dänemark um das Doppelte (3.208). In Frankreich und Portugal stieg sie um 50 Prozent auf 19.364 bzw. 16.469.

Am 1. Juli hatte der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Region Europa, Hans Kluge, erklärt: „Letzte Woche ist die Zahl der Neuinfektionen um zehn Prozent gestiegen, begünstigt durch die zunehmende Vermischung, Reisen, Versammlungen und die Aufhebung von sozialen Einschränkungen.“ Er warnte außerdem, Delta werde bis August die dominierende Variante werden. Gleichzeitig haben 63 Prozent der europäischen Bevölkerung noch nicht einmal ihre erste Impfdosis erhalten. Die Hälfte der Senioren und 40 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen sind noch nicht geimpft. Er warnte, dies sei die Grundlage für eine neue Welle in der WHO-Region Europa.

Kluges Prognosen und Warnungen bewahrheiten sich bereits. In Europa sind bereits mehr als 1,1 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben, doch mit unverhohlener Verachtung gegenüber Menschenleben treiben die Regierungen eine Öffnungspolitik voran, die zu einer neuen Welle mit Millionen Infizierten führen wird.

Da die Maßnahmen zur physischen Distanzierung die Profite der Unternehmen beeinträchtigen, hoffen die Herrschenden, durch deren Abschaffung die Umverteilung des gesellschaftlichen Vermögens an die Spitze der Gesellschaft zu forcieren. Bereits im letzten Jahr ist das Vermögen der europäischen Milliardäre trotz der Pandemie um eine Billion Euro angestiegen.

Großbritannien steht an der Spitze des europaweiten Trends. Nachdem Frankreich am 1. Juli die Abstandsregeln für Unternehmen abgeschafft hat, will der britische Premierminister Boris Johnson am 19. Juli sowohl diese Regeln als auch die Maskenpflicht aufheben. Der Professor der Epidemiologie Neil Ferguson warnte, in Großbritannien könnte es bis Ende des Sommers 150.000 bis 200.000 Infizierte pro Tag geben. Dennoch forderte Johnson, dass die Wirtschaft und die Profite der Unternehmen Vorrang vor dem Schutz von Menschenleben haben sollten.

Er erklärte: „Die Zahl der Hospitalisierungen wird steigen, und wir müssen uns leider auch auf mehr Todesfälle durch Covid einstellen... Wir müssen die Risiken der Krankheit und die Fortsetzung der juristischen Einschränkungen mit den Folgen für das Leben und die Lebensgrundlage der Menschen ausbalancieren.“

Die Behörde Public Health England veröffentlichte im Juni eine Studie, die einen Eindruck von der drohenden Katastrophe vermittelt. Demnach sind in Großbritannien bisher 117 Menschen an der Delta-Variante gestorben, von denen 50 zweimal geimpft waren. Die Impfungen haben die Sterblichkeitsrate auf 0,13 Prozent gesenkt. Doch selbst wenn diese niedrige Sterblichkeitsrate trotz der deutlich höheren Ausbreitung des Virus auf diesem Niveau bleiben würde, gäbe es in Großbritannien laut Fergusons Prognosen bis Ende des Sommers 200 bis 250 Tote pro Tag.

Auf dem europäischen Kontinent, wo die Impfquoten deutlich niedriger sind, könnten die Todesraten noch höher steigen.

In Russland lehnten Regierungsvertreter am Donnerstag Forderungen nach weiteren Distanzierungsmaßnahmen ab, obwohl täglich mehr als 700 Menschen an Covid-19 sterben. Russland, das größte Land Europas mit einer Bevölkerung von 146 Millionen, liegt mit 140.775 Corona-Toten europaweit an erster Stelle, dicht gefolgt von Großbritannien (128.336) und Italien (127.731). Dennoch erklärte die russische oberste Amtsärztin Anna Popowa ganz klar: „Es gibt im Moment keine Bedrohung und kein Risiko, die uns zu einem Lockdown oder härteren Einschränkungen zwingen würden. Dazu gibt es heute keinen Grund.“

In Spanien ist die Inzidenz auf über 200 pro 100.000 Einwohner gestiegen, bei unter 30-Jährigen auf über 600. Der R-Wert, d.h. die Zahl an Menschen, die eine infizierte Person ansteckt, liegt mit 3,3 auf dem höchsten Wert seit Beginn der Pandemie. Superspreader-Ereignisse wie Schulfeiern und Nachtclubs haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Die Region Katalonien, wo die Inzidenz bei 380 liegt, kündigte am Dienstag die Schließung der Diskotheken für 15 Tage ab dem Wochenende an.

Ein Artikel in El Pais, laut dem Anfang Juli mindestens 600 Menschen unter 30 Jahren in Intensivstationen lagen und landesweit 80 an Covid-19 gestorben sind, verdeutlicht die Gefahr für jüngere Menschen.

Diese Tatsache zeigt, wie viele Menschenleben die falschen Zusicherungen der Vertreter der spanischen Regierung, einer Koalition aus PSOE und Podemos, kosten. So erklärte Fernando Simón, der Leiter des Zentrums für die Koordination von Gesundheitswarnungen und Notfällen (CCAES): „Wir wissen, dass vieles passieren kann, solange wir nicht mindestens 70 Prozent Immunität haben. Aber wir wissen auch, dass es nicht wie in der Vergangenheit sein wird. ... Es kann auf keinen Fall so kommen wie im Winter, und das gilt auch für Großbritannien.“

Simón fügte hinzu, er sei zuversichtlich, was die Abschaffung der Maskenpflicht angeht: „Ich glaube, das wird überhaupt kein Risiko darstellen.“

Während in den Niederlanden die Zahl der Corona-Infektionen explodiert, erklärte Gesundheitsminister Ferd Grapperhaus nur, die Regierung werde „in den kommenden Tagen beobachten, ob eine Verschärfung der Regeln gerechtfertigt ist“. Das niederländische Gesundheitsinstitut RIVM erklärte, ein Fünftel der Neuinfektionen könne auf ein Café, eine Bar oder einen Club zurückverfolgt werden, und in mehr als 60 Prozent aller Fälle seien die Infizierten unter 30 Jahren.

In Enschede entwickelte sich am 28. Juni eine „Covid-freie“ Party zu einem Superspreader-Ereignis. 180 der 800 Teilnehmer wurden im Anschluss positiv getestet. Und das, obwohl die Gäste eine „Corona-Eintrittskarte“ vorlegen mussten, die belegt, dass sie geimpft waren oder negativ auf das Virus getestet worden waren. Nach dem Einlass mussten sie keine Masken mehr tragen. Berichten zufolge hatten mehrere Gäste ihre Eintrittskarte gefälscht, indem sie ein und denselben QR-Code benutzten, der ihnen bestätigte, dass sie an der Party teilnehmen konnten.

In Frankreich erklärte Regierungssprecher Gabriel Attal am Mittwoch bei einem Treffen des nationalen Sicherheitsrats mit Präsident Emmanuel Macron, die Altersgruppe zwischen 20 und 29 sei am stärksten von Covid-19 betroffen. Es breite sich in elf der zwölf französischen Regionen stark aus, am meisten in Paris und Marseille. Innerhalb der Stadtgrenze von Paris liegt die Inzidenz wieder über der offiziellen „Alarmgrenze“ von 50 Infektionen auf 100.000 Einwohner.

Dennoch kündigte Attal keine neuen Maßnahmen an, sondern forderte die Bürger lediglich auf, sich impfen zu lassen. Nur 34 Prozent der französischen Bevölkerung sind vollständig geimpft, in Großbritannien sind es 51 Prozent.

Macron will zudem Gebühren für Corona-Tests erheben, und zwar ab sofort für ausländische Besucher in Frankreich, ab Herbst auch für Staatsbürger und dauerhafte Einwohner. Regierungsvertreter behaupten zwar, diese Maßnahme solle Tests aus „Bequemlichkeit“ abschaffen und die Menschen zum Impfen bewegen, anderen Berichten zufolge war die Regierung jedoch besorgt, dass die Gesamtkosten der Tests in diesem Jahr auf mehrere Milliarden Euro steigen könnten. Deshalb gibt die Regierung eine der wichtigsten Methoden zur Aufdeckung und Rückverfolgung von Infektionen auf.

Diese Ankündigungen zeigen, dass sich die Arbeiter nicht darauf verlassen können, dass die Regierungen die Pandemie aufhalten. Der Aufbau von unabhängigen Sicherheitskomitees an Arbeitsplätzen und Schulen zur Überwachung und Durchsetzung relevanter Sicherheitsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus ist der Weg vorwärts für Arbeiter und Jugendliche. Die entscheidende Aufgabe ist die Mobilisierung der unabhängigen Stärke der Arbeiterklasse in ganz Europa und der Welt, um eine rationale, wissenschaftlich geleitete Gesundheitspolitik durchzusetzen und zu verhindern, dass die drohende Welle in Europa und der Welt weitere Millionen Menschenleben fordert.

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