Werner Siepmann (1931-2021): Kriegsgegner, Antifaschist und Trotzkist

Am Freitag vergangener Woche, dem 13. August, verstarb unser Genosse Werner Siepmann im Alter von 90 Jahren. Trotz seines hohen Alters kam sein Tod für die Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei unerwartet, denn er erfreute sich bis zuletzt eines wachen Geistes. Noch vor vier Monaten hatten wir – coronabedingt online – in großem Kreis seinen 90. Geburtstag gefeiert. Sein Tod ist für uns ein persönlicher und auch politischer Verlust.

Werner Siepmann machte wie viele Millionen seiner Altersgruppe schreckliche Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg. Seine ersten 14 Lebensjahre prägten sein gesamtes Leben. Er zog daraus die Schlussfolgerung: Nie wieder!

Was Werner zu einem der besten seiner Generation machte, war, dass er seine Erfahrungen bewusst aufarbeitete. Er fand sich niemals mit den Verbrechen der Nationalsozialisten ab und suchte nach den Ursachen von Faschismus und Krieg. Antworten fand er endlich im Alter von gut 50 Jahren, als er die trotzkistische Bewegung traf.

Werner Siepmann spricht 2014 über seine Kriegserinnerungen und die Gefahren des Militarismus

Werner kam am 21. April 1931 in Duisburg zur Welt. Kindheit und Jugendzeit verbrachte er mit seinen Eltern und den beiden Brüdern in Duisburg-Ruhrort. Sein Vater Heinrich war dort Postbeamter.

Ruhrort war damals aufgrund des Hafens an der Mündung der Ruhr in den Rhein ein lebhafter Stadtteil. In Werners erste Erinnerungen haben sich jedoch die Verbrechen der Nazis eingebrannt.

Siebenjährig, im Jahr 1938, erlebte er mit seinem Vater die Reichspogromnacht, in der Geschäfte jüdischer Nachbarn und die Synagoge zerstört wurden.

Als der Krieg begann, war Werner acht Jahre alt. 1940 musste seine Familie in Vorbereitung auf den herannahenden Frankreichfeldzug einen 18-jährigen Soldaten aus Magdeburg aufnehmen, dessen Kompanie in Ruhrort Station machte. Werner schloss schnell Freundschaft mit dem jungen Mann, der in sein Kinderzimmer eingezogen war. Umso mehr schmerzte ihn die Nachricht, dass der junge Soldat, kurz nachdem er von der Bevölkerung feierlich in Richtung Frankreich verabschiedet worden war, gefallen war.

Nur wenig später wurde Werner erstmals evakuiert. Nach etwa einem halben Jahr Kinderlandverschickung in Pommern kehrte er zurück ins bombenzerstörte Duisburg. Einer seiner Mitschüler war bei einem der Luftangriffe getötet worden. Von seinen Eltern erfuhr er, dass sein Cousin mit 18 Jahren gefallen war. Werner berichtete häufig von den Bombennächten, die er meist in großer Angst mit der Familie in Luftschutzbunkern verbrachte.

1943, kurz nach dem bis dahin schwersten Luftangriff am 13. Mai, wurde seine Schule nach Tschechien (ins Protektorat Böhmen und Mähren) verlegt.

Bei seiner Abreise – Werner war gerade zwölf Jahre alt geworden – sah er seinen Vater das letzte Mal. Kurz darauf starb er. Werner hörte davon in der Kinderlandverschickung, die ihn zunächst in die Stadt Proßnitz (tschechisch: Prostějov), anschließend in den Kurort Podiebrad (Poděbrady) verschlug. In dem unmittelbar an der Elbe gelegenen Ort befanden sich etwa 2000 Kinder, vor allem aus dem Ruhrgebiet und aus Berlin.

In den Lagern der Kinderlandverschickung erlebte Werner die Grausamkeiten der Nazis am eigenen Leib und beobachtete deren Terrorisierung der einheimischen Bevölkerung.

Fast zwei Jahre später, an Adolf Hitlers 56. Geburtstag am 20. April 1945, flohen die Nazis und mit ihnen die Kinder vor der vorrückenden Roten Armee. Die Erinnerung an die Ereignisse am Prager Hauptbahnhof an diesem Tag gehört zu den einschneidendsten in Werners Leben. Er berichtete häufig davon.

Kurz bevor sich der Zug in Bewegung setzte, holten Mitglieder der Waffen-SS alle Schüler ab 14 Jahren zur Verteidigung von Prag heraus. Werner hatte Glück. Er wurde zwar noch an diesem Tag in die Hitlerjugend aufgenommen, hatte jedoch erst einen Tag später, am 21. April, Geburtstag. Er war noch ein Tag lang 13 Jahre alt und durfte im Zug bleiben. Viele seiner Mitschüler wurden als Kanonenfutter an die schon längst verlorene Front geschickt. Die meisten hat Werner nie wiedergesehen, nur 17 überlebten.

Die Nachkriegszeit war wie bei vielen seiner Generation von der Sorge um die eigene Existenz bestimmt. Familien waren auseinandergerissen, Wohnungen zum Großteil zerstört. Der Hunger bestimmte das Leben der Arbeiter. Auch Werner lebte mit seiner Mutter und seinen Brüdern „von der Hand in den Mund“.

Im Jahr der Gründung der Bundesrepublik 1949 verließ Werner die Schule. Er arbeitete bei Mannesmann Demag (Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaft) als Dreher in Akkordarbeit. Bei der Verabschiedung von seinen Demag-Kollegen einige Jahre später provozierte ihn ein Altnazi mit der Lüge, Konzentrationslager habe es nie gegeben. Werner verpasste ihm eine „saftige Ohrfeige“, wie er berichtete.

In den 50er und frühen 60er Jahren arbeitete er in verschiedenen Kleinbetrieben und kurz auch bei Thyssen. In diesen Jahren lernte er auch erstmals ausländische Arbeiter aus Griechenland, Spanien, Italien, Jugoslawien und der Türkei kennen und schätzen.

Es war in dieser Zeit, in der sich Werner zunehmend politisch engagierte. Der Nachkriegsaufschwung zeigte international deutliche Krisenerscheinungen. 1966 erschütterte eine Rezession die Weltwirtschaft. In Deutschland kündigte sich 1963 eine neue Phase des Klassenkampfs mit einem Metallerstreik in Baden-Württemberg an. Die Streikenden forderten nicht nur höhere Löhne, sondern verabschiedeten auch Resolutionen gegen die geplanten Notstandsgesetze. Im Ruhrgebiet mobilisierten die Bergarbeiter gleichzeitig gegen das Zechensterben.

1966 wurde die SPD zum ersten Mal seit Ende der 1920er Jahre in die Regierung geholt. Unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), einem früheren NSDAP-Mitglied, übernahm Willy Brandt das Amt des Außenministers und Vizekanzlers in einer Großen Koalition. Die wichtigste Aufgabe der SPD bestand darin, die Notstandsgesetze gegen den Widerstand der Arbeiter und Studenten durchzusetzen.

In dieser Zeit gab Werner, inzwischen verheirateter Vater, seinem Leben eine neue Richtung. Mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter (ein drittes Kind, ein weiterer Sohn, sollte folgen) zog er ins westfälische Rheda-Wiedenbrück und übernahm dort die Aufgaben des Jugendleiters, Hausmeisters und Küsters in einer evangelischen Kirchengemeinde. In Bielefeld schulte er – inzwischen Ende 30 – zum Erzieher um.

In Rheda-Wiedenbrück war er u. a. in der Beratung von Kriegsdienstverweigerern tätig. Ende der 70er Jahre zurück in Duisburg arbeitete er weiter in der Jugendsozialarbeit bis zu seinem Renteneintritt.

1983 lernte er in Duisburg den Bund Sozialistischer Arbeiter, die Vorgängerorganisation der SGP und deutsche Sektion der Vierten Internationale kennen und wurde Mitglied. Gestützt auf die Schriften von Leo Trotzki zum Aufstieg des Nationalsozialismus und zu den gesellschaftlich-ökonomischen Grundlagen von Faschismus und Krieg konnte er seine Erfahrungen nun politisch und historisch einordnen.

Auch die internationale Perspektive und der gelebte Internationalismus der trotzkistischen Bewegung zog ihn an, sie entsprachen seinen Erfahrungen aus seiner Zeit als Dreher und Metallarbeiter. 1984 nahm er an einer Veranstaltung zum britischen Bergarbeiterstreik in London teil.

Bei der Spaltung innerhalb des Internationalen Komitees 1985/86 stand er fest auf der Seite des IKVI und seiner internationalen Perspektive. Unermüdlich trat er bis ins hohe Alter dafür ein – beim Zeitungsverkauf vor Werkstoren und in Arbeitervierteln, beim Unterschriftensammeln für Wahlteilnahmen und bei zahlreichen politischen Kampagnen.

Im Zentrum seiner politischen Arbeit stand stets, seine Erfahrungen an die junge Generation weiterzugeben und ihr die politische Schlussfolgerung zu erleichtern, nicht Symptome, sondern die Ursache von Faschismus und Krieg zu bekämpfen, den Kapitalismus.

Diese Themen spiegelten sich auch in seinen Artikeln für die World Socialist Web Site wieder. Bereits 1999 schrieb er über UNICEF-Studien zur Lage der Kinder. 2004 berichtete er über den Pflegenotstand in Altenheimen und 2008 über den Versuch der Deutschen Bahn, die mobile Ausstellung „Zug der Erinnerung“ zu verhindern. Die Ausstellung erinnerte an die Deportation von rund einer Million Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit und beleuchtete die Rolle der damaligen Reichsbahn.

Besonders lesenswert ist sein Mahnruf an alle jungen Menschen“, in dem er angesichts einer Werbekampagne der Bundeswehr an Schulen und Universitäten vor vier Jahren seine Erfahrungen weitergibt.

Noch bis zuletzt berichtete Werner vor Schulklassen über seine Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg. Er las dazu aus seinen Erinnerungen, die er in der Erinnerungswerkstatt des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen eingebracht hatte und die im Juventa-Verlag in einer Dokumentation mit dem Titel „Gemeinsam an der Familiengeschichte arbeiten“ erschienen sind.

Bei alle seiner Ernsthaftigkeit und der Betonung der Gefahren durch Faschismus und Krieg war Werner ein offener, herzlicher Mensch und – nicht untypisch für das Ruhrgebiet – geradeheraus. Er trug sein Herz auf der Zunge. Musik war eine seiner großen Leidenschaften. Er tanzte gerne und sang sein Leben lang im Chor, zuletzt auch gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen in einem Mehr-Generationen-Chor. Mit seinen Söhnen besuchte er Rockkonzerte, liebte aber auch klassische Musik – u.a. Beethoven, Händel und Puccini.

Werner reiste gerne. In den 70er Jahren trampte er nach Barcelona, mit seinem jüngeren Sohn flog er in die USA und fuhr vor einigen Jahren nach Paris, und schließlich besuchte er mit seinem älteren Sohn noch einmal das tschechische Poděbrady, den Ort, wo einige seiner prägendsten Lebensmomente stattfanden.

Wir trauern mit seiner Familie, seinen Kindern und Enkelkindern und werden Werner Siepmanns Gedenken wahren, indem wir – auch mithilfe seiner Erfahrungen – die Jugend politisch bewaffnen, damit es endgültig heißt: Nie wieder!

Die WSWS wird in den kommenden Tagen ein Video über Werner Siepmanns Leben publizieren.

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