Berlin: Dreitägiger Warnstreik bei Charité und Vivantes

Die Gewerkschaft Verdi hat die Pflegekräfte der landeseigenen Klinikkonzerne Charité und Vivantes vom heutigen Montag bis Mittwoch zu einem dreitägigen Warnstreik aufgerufen. Sie reagiert damit auf die enorme Empörung und Kampfbereitschaft der Pflegerinnen und Pfleger, die in der Corona-Pandemie Übermenschliches geleistet haben und nun feststellen müssen, dass unerträglicher Arbeitsstress und niedrige Bezahlung zur Norm werden sollen.

Konkret verhandelt Verdi über einen sogenannten Entlastungstarifvertrag, der Pflegekräften für hohe Belastungen, wie sie zum Beispiel durch die Unterbesetzung von Schichten entstehen, einen verbindlichen Ausgleich in Form von Zulagen oder Freizeit gewährt. Parallel dazu verlangt Verdi, dass die Gehälter der Beschäftigten der Tochterfirmen von Vivantes an den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes (TVÖD) angeglichen werden. Aktuell erhalten die rund 2500 Beschäftigten der Tochterfirmen mehrere hundert Euro weniger als direkt beim Konzern Angestellte, die dieselbe Arbeit verrichten.

Streikende Pflegekräfte an der Berliner Charité 2015

Verdi hatte dem Management von Vivantes und der Charité eine Frist von 100 Tagen gesetzt, um ein „verhandlungsfähiges Angebot“ vorzulegen. Nachdem dies nicht geschehen ist, hat die Gewerkschaft nun zum Warnstreik aufgerufen. Dies sei „die letzte Warnung“ vor einer Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf, die Verdi am 30. August beginnen will, wenn bis dahin keine Bewegung in die Verhandlungen kommt.

Die Resonanz auf den Aufruf zum Warnstreik ist sehr groß. In allen acht Vivantes-Kliniken und an den drei Campus der Charité wollen Beschäftigte die Arbeit niederlegen. Ab Dienstag früh werden voraussichtlich komplette Stationen geschlossen. Laut dem Berliner Tagesspiegel hat die Charité aus diesem Grund schon 2000 Termine vorläufig abgesagt; die Behandlungen sollen nach dem Streik ab Mittwoch nachgeholt werden. Betroffen sind nahezu alle Stationen, von Chirurgie über Dermatologie, Geriatrie und Gastroenterologie. Auf Intensivstationen werden in dieser Zeit weniger Betten belegt.

Große Unterstützung in der Bevölkerung

In der Bevölkerung stößt der Streik auf große Unterstützung. Auf der Website des Senders rbb24, der regelmäßig über den Tarifkonflikt und die Arbeitsbedingungen an den Kliniken berichtet, häufen sich Unterstützungsbotschaften. „Viel Erfolg bei dem Streik – bleibt standhaft!“, „Haltet durch!“ und „Ich wünschen den Beschäftigten der Branche viel Glück bei ihrem Arbeitskampf! Es reicht, Profite auf dem Rücken der Beschäftigten und Patienten zu erwirtschaften“, lauten einige Kommentare.

Viele thematisieren den Applaus für die Pfleger im vergangenen Jahr und ihre heutige Missachtung: „So behandelt man Helden? Verstanden; die wahren ‚Helden‘ wollen alle in den Bundestag. Kein Wunder bei dem Salär.“ – „Vor einem Jahr wurden Pflegende, Krankenschwestern etc. für ihre ständige Einsatzbereitschaft, oft bis zur Erschöpfung, beklatscht. In der Pandemie wurde das ganze Dilemma unserer Gesellschaft offensichtlich. … Wer Millionen für unsinnige Auslandseinsätze in den Sand setzt, sollte anfangen, den Job besser zu machen!“

Andere Kommentare gehen auf die Bereicherung an der Spitze der Gesellschaft ein: „Den Pharma-Konzernen werden Milliarden in den Rachen geworfen und für die Pflegekräfte ist kein Geld da.“ Und: „Die Ökonomisierung auch im Gesundheitswesen geht weiter. Die extrem ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung geht weiter. Es wird Zeit dass das endlich beendet wird.“

Das Management der beiden Klinikkonzerne reagiert auf die Anliegen der Streikenden mit rücksichtsloser Arroganz. Vivantes wies die Forderung nach einem Entlastungstarifvertrag mit der Begründung zurück, aufgrund des bundesweiten Fachkräftemangels würde eine Entlastung der Pflegerinnen und Pfleger den Konzern zwingen, die Versorgungskapazitäten einzuschränken und 360 bis 750 Betten abzubauen. Als Konsequenz müsse der Konzern dann auch Ärzten und anderem nichtpflegendem Personal kündigen: „Im Ergebnis würde daraus ein Abbau von 870 bis 1300 Stellen und ein zusätzliches Defizit in Höhe von 25 bis 45 Millionen Euro resultieren.“

Die Erpressung verschlägt einem die Sprache. Anstatt den Pflegeberuf durch bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung attraktiver zu gestalten, macht Vivantes das Pflegepersonal für den Abbau von Betten und Arbeitsplätzen verantwortlich, weil es sich nicht bis aufs Blut ausbeuten lässt.

Tatsächlich sind die miserablen Arbeitsbedingungen und das jahrzehntelange Kaputtsparen des Gesundheitswesens für den Mangel an qualifiziertem Personal verantwortlich. Schon vor Corona fehlten in Deutschland etwa 120.000 Pflegekräfte. Während der Pandemie hat sich der Abgang verstärkt.

Umfragen zufolge überlegt etwa ein Drittel der Pflegekräfte im intensivmedizinischen Bereich den Beruf aufzugeben oder zumindest die Arbeitsstunden zu reduzieren. Als Grund nennen 72 Prozent der Befragten Überlastung. 96 Prozent fühlen sich von den politischen Entscheidungsträgern im Stich gelassen.

Den Streik bei den Tochterfirmen von Vivantes, die u.a. in der Essens- und Wäscheversorgung tätig sind, hat das Berliner Arbeitsgericht am Freitag auf Antrag des Konzerns verboten. Das Gericht begründete diesen Angriff auf das Streikrecht damit, dass es keine Notdienstvereinbarung zwischen Verdi und dem Konzern gebe. Ohne eine solche Vereinbarung könne ein Streik zu einer Gefahr für Leib und Leben von Patienten führen.

Tatsächlich hatte Verdi eine umfangreiche Notversorgung angeboten, die der Konzern aber mit der Begründung, die Ausarbeitung des Notdiensts liege in seiner Verantwortung, in tagelangen Verhandlungen ablehnte. Sollte das Urteil in der Revision Bestand haben, schafft es einen Präzedenzfall. Streiks könnten dann von Konzernen nach Belieben unwirksam gemacht werden. „Diese Auffassung des Gerichts schockiert uns“, sagte Verdi-Sprecher Tim Graumann. „Denn das hieße ja, dass Arbeitgeber Notdienste diktieren können.“

Verdis Doppelspiel

Verdi spielt in dieser Auseinandersetzung ein übles Doppelspiel. Obwohl der Arbeitskampf breite Unterstützung in der Belegschaft und der Bevölkerung genießt, fleht und bettelt die Gewerkschaft unterwürfig um einen faulen Kompromiss.

Am Freitag veröffentliche die zuständige Tarifkommission unter der Überschrift „Verhandeln, verhandeln, verhandeln!“ einen „Appell an die Klinikleitungen und die Landespolitik“. Er beginnt mit den Worten: „Hiermit erklären die Tarifkommissionen der Vivantes Töchter, der Vivantes Mutter und der Charité: Es ist nicht unsere Absicht zu streiken!“ In diesem Stil geht es weiter. „Wir sind verhandlungsbereit. Jederzeit“, beteuern die Verdi-Funktionäre gleich mehrmals.

Sie schrecken vor keiner Selbstdemütigung zurück, um zu beweisen, dass sie eine Eskalation des Konflikts um jeden Preis vermeiden wollen. Denn sie fürchten einen Flächenbrand. Zeitgleich zum Klinikstreik stehen in Berlin im Rahmen des GDL-Streiks auch die S-Bahnen still und die Siemensarbeiter organisieren eine Großdemonstration gegen die schrittweise Stilllegung des Gasturbinenwerks, des größten Industriebetriebs in der Stadt.

Verdi steckt mit dem Berliner Senat – einer Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen – unter einer Decke. Die meisten Verdi-Funktionäre sind Mitglied einer dieser drei Parteien und wechseln oft von gewerkschaftlichen in politische Ämter und zurück.

Nun versuchen sie die eigenen Mitglieder für dumm zu verkaufen, indem sie sich darüber empören, dass das Management der Kliniken angeblich im Widerspruch zum Willen des Senats agiere.

Nicht nur Abgeordnete der drei Senatsparteien, sondern auch der FDP und der CDU hätten Verdi in Hintergrundgesprächen versichert, dass sie die Forderung nach Mindestpersonalbesetzungen unterstützten, heißt es im Appell der Tarifkommission. „Deswegen verstehen wir als Gesundheitsbeschäftigte nicht, wie es sein kann, dass zwar alle Parteien im von den Bürger:innen gewählten Parlament eine gemeinsame Haltung vertreten, die Klinikleitungen der landeseigenen Unternehmen sich aber nicht dieser Grundhaltung entsprechend verhalten.“

In Wirklichkeit ist der Grund dafür leicht zu verstehen. Die beiden Klinikkonzerne – die sich zu hundert Prozent in Landesbesitz befinden, aber nach privatwirtschaftlichen Profitgrundsätzen geführt werden – wurden vom Senat geschaffen, um die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten systematisch zu senken und die Gesundheit zu einer Quelle von Profit zu machen.

Der 2001 gegründete Vivantes-Konzern versorgt inzwischen rund ein Drittel der Berliner Krankenhauspatienten, beschäftigt knapp 18.000 Mitarbeiter, darunter 13.000 Vollkräfte, und erzielt einen Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Euro. Seine Spitzenmanager kassieren über eine halbe Million Euro im Jahr, damit sie die Personalkosten niedrig und den Konzern profitabel halten.

Dies geschah mit der uneingeschränkten Unterstützung von Verdi, die aufs engste mit dem Senat zusammengearbeitet hat und dies auch weiter tut.

So haben die Beschäftigten der Charité 2016 ihre Erfahrungen mit dem von Verdi ausgehandelten historischen“ Tarifvertrag gemacht, mit dem das Personal schlichtweg betrogen wurde. Selbst Gewerkschaftsvertreter mussten immer wieder eingestehen, dass Personalvorgaben kaum eingehalten werden.

Auch der Kampf des Reinigungs- und Küchenpersonals für angemessene Löhne wird seit Jahren durch Verdi sabotiert. Verdi wird die Beschäftigten der Tochtergesellschaften von Vivantes ebenso verraten, wie sie dies bei der Servicegesellschaft von Charité CFM (Charité-Facility-Management) getan hat.

Bei CFM, die vor 15 Jahren ausgegliedert wurde, um Niedriglöhne einzuführen, gab es unzählige Streiks und Proteste. Sie wurden von Verdi alle ohne Verbesserungen für die Beschäftigten ausverkauft. Nachdem die Proteste zunahmen, initiierten Verdi und der Berliner Senat 2019 den Rückkauf der CFM und vereinbarten im letzten Jahr einen Tarifvertrag für die CFM-Mitarbeiter, der keine oder nur minimale Verbesserungen enthält.

Auch jetzt finden hinter den Kulissen wieder Gespräche zwischen Senat, Verdi und dem Klinikmanagement statt, wie der Streik in harmlose Kanäle gelenkt und abgewürgt werden kann. Nach Informationen des Tagesspiegels gab es bereits Gespräche zwischen Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) und Verdi-Funktionären. Bezeichnenderweise ist Kollatz auch Aufsichtsratschef von Vivantes.

Auf der ganzen Welt machen Arbeiter dieselben Erfahrungen mit der schändlichen Rolle der Gewerkschaften. Im amerikanischen Worcester (Massachusetts) streiken seit sechs Monaten 700 Pflegekräfte des Klinikbetreibers Tenet. Obwohl ihr Streik große Unterstützung erfährt, isoliert die Gewerkschaft den Streik, um ihn unter Kontrolle zu halten.

Im kanadischen Quebec hat die Gewerkschaft gegen den Willen der Beschäftigten einen Deal mit der regionalen Regierung ausgehandelt, der weiteren Angriffen auf Löhne und Arbeitsbedingungen den Weg ebnet. Die Liste ließe sich fortführen. Überall sind Arbeiter mit denselben Angriffen und Problemen konfrontiert. Ein erfolgreicher Kampf dagegen kann nur gegen die Gewerkschaften und Parteien geführt werden, die die Katastrophe im Gesundheitswesen zu verantworten haben.

Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) tritt für die Gründung unabhängiger Aktionskomitees ein, die den Kampf gegen das Klinikmanagement organisieren und die erforderliche Unterstützung dafür mobilisieren. Die Vierte Internationale, der die SGP als deutsche Sektion angehört, hat zum 1. Mai die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees ins Leben gerufen, um die Kämpfe in verschiedenen Fabriken, Branchen und Ländern zu koordinieren.

Die Privatisierungen und alle Kürzungen im Gesundheitsbereich müssen rückgängig gemacht werden. Die Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen müssen in öffentliches Eigentum umgewandelt und von den Belegschaften demokratisch kontrolliert werden. Nur so können angemessene Löhne und humane Arbeitsbedingungen garantiert werden. Dafür tritt die SGP bei der Bundestagswahl und der Berliner Senatswahl an.

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