Corona-Pandemie: Glenn Greenwald fordert Politik, die „Leben kosten wird“

Der in Brasilien lebende Journalist Glenn Greenwald veröffentlichte am Mittwoch einen Artikel, in dem er behauptete, die Öffentlichkeit würde in der Corona-Pandemie nicht genug auf die „Kosten“ der Rettung von Menschenleben achten. In dem Artikel forderte er Maßnahmen, von denen er selbst zugibt, dass sie „Leben kosten werden“.

Der Artikel mit dem Titel „Die bizarre Weigerung, in Corona-Debatten Kosten-Nutzen-Analysen anzustellen“ erscheint vor dem Hintergrund eines Anstiegs der Covid-19-Fälle in den USA und Europa. Auf der ganzen Welt haben Regierungen deutlich gemacht, dass sie keine Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit ergreifen und dass die Schulen und Unternehmen geöffnet bleiben werden. Greenwalds Artikel liefert eine politische Rationalisierung für diesen Kurs.

Greenwald schreibt:

In nahezu allen Bereichen der öffentlichen Politik entscheiden sich Amerikaner für Maßnahmen, von denen sie wissen, dass sie Leben kosten werden, manchmal sehr viele. Das tun sie nicht, weil sie Psychopathen sind, sondern weil sie rational sind: Sie erkennen, dass die Vorzüge der von ihnen unterstützten Maßnahmen die Tode wert sind, die sie unweigerlich zur Folge haben werden. Diese rationale Kosten-Nutzen-Analyse ist die Grundlage öffentlicher Debatten über Maßnahmen, auch wenn sie nicht so eindeutig oder grob formuliert wird. Nur wenn es um Covid geht, wird sie bizarrerweise für tabu erklärt.

Die Herangehensweise, die Greenwald fordert, wurde tatsächlich für „tabu“ erklärt – von Ärzten und Wissenschaftlern, die den Schutz von Menschenleben als die Grundlage ihrer moralischen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft ansehen.

Im Februar erschien im BMJ (ehemals British Medical Journal) ein Leitartikel, der Forderungen nach einer „Balance“ zwischen dem Schutz von Menschenleben und wirtschaftlichen Interessen eindringlich verurteilte.

Ist das keine vorsätzliche und rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben, wenn Politiker und Experten ihre Bereitschaft erklären, Zehntausende von vorzeitigen Todesfällen zuzulassen, um die Bevölkerung zu immunisieren oder die Wirtschaft zu stärken?

Die Wissenschaftler und Ärzte, die den Leitartikel verfasst haben, bezeichneten solche Berechnungen über den Wert von Menschenleben zu Recht als „sozialen Mord“. Greenwald hingegen verweist genau auf dieses zentrale Element des Kurses der Regierungen, verurteilt es jedoch nicht, sondern fordert seine rücksichtslosere und aggressivere Umsetzung.

Welche „Kosten“ müssen laut Greenwald gegen den massiven Verlust von Menschenleben durch die Pandemie abgewogen werden? Er schreibt:

Gemäß dieser Mentalität müssen wir Schulen geschlossen halten, damit sich Kinder nicht mit Covid infizieren – ohne Rücksicht auf die schrecklichen Folgen, die es für alle Kinder hat, wenn man eineinhalb bis zwei Jahre lang die Schulen schließt.

Zweifellos hat die Schließung von Schulen Folgen für die Bildung und Sozialisierung von Kindern. Doch durch die Bereitstellung der notwendigen Mittel können diese Folgen so gering wie möglich gehalten werden, indem allen Kindern der Zugang zu qualitativ hochwertigem Distanzunterricht ermöglicht wird, ihren Eltern die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um zu Hause zu bleiben, während die nicht systemrelevante Produktion stillgelegt wird. Die Auswirkungen einer lebensbedrohlichen Erkrankung von Kindern, ihren Freunden, Eltern, Lehrern und der gesamten Bevölkerung machen die Schließung von Schulen zu einer gesellschaftlichen und politischen Notwendigkeit.

Bei seiner Warnung vor den „schrecklichen Kosten“ der Schulschließung zitiert Greenwald keine derjenigen, gegen deren Position er argumentiert. Deshalb kann er seinem imaginären Gesprächspartner auch ungehindert Worte in den Mund legen. Tatsächlich haben Wissenschaftler deutlich gemacht, dass sich die Pandemie mit aggressiven und systematisch umgesetzten Maßnahmen, nicht erst in „zwei Jahren“ beenden ließe, sondern in zwei Monaten.

Dr. Malgorzata Gasperowicz präsentierte in einem Beitrag zu der WSWS-Onlineveranstaltung „HYPERLINK 'https://www.wsws.org/en/special/pages/global-strategy-stop-pandemic-save-lives.html' Für eine globale Strategie zur Beendigung der Pandemie und zur Rettung von Menschenleben“ ein Modell, laut dem Covid-19 durch eine Kombination aus Massenimpfungen, der Schließung öffentlicher Schulen und nicht-systemrelevanter Unternehmen und allgemeinen Tests, Kontaktverfolgungen und der Isolation von Infizierten in nur zwei Monaten ausgerottet werden könnte.

Greenwald stützt seine Forderung, Menschenleben aus „wirtschaftlichen“ Gründen zu opfern, mit dem Argument, das rechte Medienvertreter immer wieder vorbringen: Wenn wir wirklich Menschenleben retten wollten, sollten wir Autos verbieten oder ihre Nutzung stark einschränken.

Selbst mit Sicherheitsgurten und Airbags gehen eine tragische Zahl an Lebensjahren verloren, wenn man bedenkt, wie viele junge Menschen durch Autounfälle sterben oder dauerhaft schwerbehindert werden. Auf Jahrzehnte angelegte Studien haben demonstriert, dass selbst geringe Begrenzungen des Tempos viele Menschenleben retten, während radikale Begrenzungen – die von fast niemandem unterstützt werden – die meisten, wenn nicht alle Todesopfer durch Autounfälle verhindern würden.

Greenwald argumentiert, dass sehr wenige Menschen ein Verbot von Autos oder radikale Begrenzungen des Tempos fordern, obwohl viele Menschen durch Autounfälle sterben. Wie er andeutet, sollten die Menschen dann auch keine aggressiven Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit fordern, um die Pandemie zu beenden, obwohl sie ebenfalls viele Todesopfer fordert.

Erstens sterben – wenn es um die bloßen Zahlen gehen soll – durch die Pandemie deutlich mehr Menschen. In den USA sterben täglich mehr als 100 Menschen durch Autounfälle, während letzte Woche mehr als 1.000 Menschen pro Tag an Covid-19 gestorben sind, am Donnerstag sogar 1.290.

Doch es ist nicht nur eine Frage der Größenordnung. Jeder, der an Covid-19 erkrankt, wird zu einer lebenden Petrischale, in der das Virus eine weitere Möglichkeit erhält, sich zu einer noch tödlicheren Variante zu entwickeln. Es haben sich bereits vier bedrohliche neue Stämme entwickelt, darunter auch die aktuelle Delta-Variante, und Wissenschaftler warnen vor der Entstehung noch gefährlicherer Varianten, wenn sich das Virus weiter ausbreitet. Mit anderen Worten: Abgesehen von der Zahl der Todesopfer und den Gesundheitsschädigungen wachsen auch die „Kosten“ durch die Nicht-Eindämmung der Pandemie ständig wie ein Schneeball.

Greenwald selbst wies 2020 auf Twitter auf den Unterschied hin. Er schrieb: „Anders als bei Verkehrsunfällen oder Herzinfarkten, bei denen die Zahl der Todesfälle stabil ist, wächst die Zahl der Todesopfer fast jeden Tag, manchmal sogar exponentiell, und noch ist kein Ende in Sicht.“ Das ist richtig. Die Verhinderung von Covid-19-Erkrankungen schützt nicht nur die Infizierten, sondern verhindert auch die Verbreitung der Krankheit, die Infektion von weiteren Menschen und Mutationen.

Was Greenwalds Beispiel angeht, so sind sicherlich Maßnahmen erforderlich, um die Zahl der Verkehrstoten zu verringern – und wurden bereits ergriffen.

Ralph Nader veröffentlichte 1965 das Buch Unsafe at Any Speed, in dem er die Bestrebungen von US-Autokonzernen wie General Motors dokumentierte, wichtige Sicherheitsmaßnahmen wie die Einführung von Sicherheitsgurten zu verhindern. Die Veröffentlichung des Buchs führte zur Verabschiedung des National Traffic and Motor Vehicle Safety Act und zahlreichen Sicherheitsfunktionen in Autos, darunter Sicherheitsglas, Warnleuchten und gepolsterte Lenkräder.

Eine einzige dieser Maßnahmen, die Pflicht zum Einbau und zur Benutzung von Sicherheitsgurten, hat zwischen 1975 und 2017 Schätzungen zufolge 374.196 Menschenleben gerettet, und die Zahl der Verkehrstoten pro Meile sank dadurch auf weniger als ein Fünftel. Zudem wurden Gesetze verabschiedet, die hohe Geld- und sogar Haftstrafen für Fahren unter Alkoholeinfluss vorsehen, was ein häufiger Grund für Verkehrsunfälle ist. Andere Gesetze verbieten es, während der Autofahrt zu telefonieren.

Die Konzerne benutzen solche „Kosten-Nutzen-Analysen“, wie sie Greenwald vorschweben, seit Jahrzehnten, um wichtige Sicherheitsregelungen zu verhindern. Die Gruppe Public Citizen, die von Nader gegründet wurde, schrieb im Jahr 2013: „Abgeordnete, die diese Regeln aus ideologischen (oder finanziellen) Gründen ablehnen, benutzen seit Langem Kosten-Nutzen-Analysen, um durchgreifende Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit zu verhindern.“

Anfang des Monats erklärte Public Citizen als Antwort auf die rechten Argumente gegen Gesundheitsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie: „Die größte Schwäche von Kosten-Nutzen-Analysen ist, dass sie unbezahlbare Werte nicht berücksichtigen: Menschenleben, Gesundheit, Natur, Freiheit, Gerechtigkeit, Fairness, Gleichheit oder Seelenfrieden... Vom Standpunkt der Kosten-Nutzen-Analyse aus existieren die Dinge nicht, deren Wert man nicht in Dollar angeben kann.“

Eine „Kosten-Nutzen-Analyse“ ist vielleicht bei bestimmten unternehmerischen Entscheidungen angebracht ­– beispielsweise wie man beim Bau eines Gebäudes die Ressourcen am besten verteilt oder wie sich der Bau einer Fabrik an unterschiedlichen Orten auf Transport- und Ressourcenkosten auswirkt.

Sie ist jedoch völlig unangemessen, um die Reaktion auf die Pandemie zu bestimmen, weil man Menschenleben keinen numerischen Wert zuordnen kann. Die Forderung nach einer „Kosten-Nutzen-Analyse“ bei öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen beinhaltet eine ganze Reihe von Annahmen: Dass man nichts tun könne, um die Folgen dieser Maßnahmen abzumildern; dass die bestehende Struktur der Klassengesellschaft unangetastet bleiben wird; und letztlich, dass man ein Preisschild an ein Menschenleben heften kann.

Das Gerede der herrschenden Klassen über die „Kosten“ vorübergehender Schulschließungen für die Kinder ist jedoch nur ein Vorwand. In Wirklichkeit geht es ihr mit ihrer Propagierung einer „Kosten-Nutzen-Analyse“ um die Profite der Konzerne und den Reichtum der herrschenden Klasse.

Bemerkenswert an Greenwalds Artikel ist, dass zwei britische Regierungsvertreter nur zwei Tage nach seiner Veröffentlichung gegenüber i-News erklärten, die Regierung von Premierminister Boris Johnson werde „eine Kosten-Nutzen-Analyse über die Rettung von Menschenleben und die Auswirkungen der Todesfälle auf die britische Wirtschaft prüfen“.

Die Zeitung schrieb:

Wie zwei Berater der Regierung gegenüber i erklärten, hat eine Kosten-Nutzen-Analyse die vertretbare Zahl von Todesfällen durch Covid-19 auf 1.000 pro Woche festgelegt. Erst wenn dieser Wert überschritten ist, sollen wieder Maßnahmen eingeführt werden. ... Die Kosten-Nutzen-Analyse der Regierung soll nicht nur die vertretbaren Kosten für die Rettung eines Covid-Patienten auf 30.000 Pfund festgelegt haben, sondern auch wie viel jedes Menschenleben die britische Wirtschaft kostet.

Einer der beiden Regierungsvertreter nannte sogar „Tempolimits“ als Beispiel für Maßnahmen, deren Nutzen gegen die Kosten ihrer Umsetzung aufgewogen werden müssten.

Dieses Timing wirft die Frage auf, ob Greenwald als Sprachrohr dient, um die Politik der britischen Regierung zu legitimieren. Wenn nicht, dann zeigt es nur, wie direkt sich seine politische Orientierung mit derjenigen der rücksichtslosesten Teile des politischen Establishments deckt. Die Umsetzung einer „Kosten-Nutzen-Rechnung“ liegt völlig auf einer Linie mit der früheren Äußerung von Premierminister Boris Johnson: „Keine verdammten Lockdowns mehr – sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen.“

Die Art von Argument, die Greenwald vertritt, wirft beunruhigende historische Parallelen auf. Er behauptet: „Rationale Kosten-Nutzen-Analysen... sind die Grundlage für öffentliche Politikdebatten.“ Das sind sie nicht. Die Anwendung einer solchen Analyse auf Medizin und öffentliche Gesundheit ist belastet mit dem Vermächtnis der Eugenik-Bewegung und der Ermordung von Zehntausenden chronisch Kranken durch die Nazis, die sie als „unwertes Leben“ bezeichneten.

Die Professoren Allen Buchman, Dan Brock, Norman Daniels und Daniel Wikler gehen in ihrem Lehrbuch der Bioethik From Chance to Choice: Genetics and Justice auf das Vermächtnis der „Kosten-Nutzen-Analyse“ in der amerikanischen Eugenik-Bewegung ein.

Sie erwähnen den „Eugenik-Katechismus der American Eugenics Society“ von 1926, in dem es heißt: „Der Bundesstaat New York hat bis 1916 schätzungsweise zwei Millionen Dollar für die Nachkommen einer einzigen Familie ausgegeben.“ Damit war die Familie Jukes gemeint, die als genetisch minderwertig betrachtet wurde. Daraus ergab sich für die Eugenics Society die Frage: „Wie viel hätte es gekostet, das ursprüngliche Ehepaar Jukes zu sterilisieren? ... Weniger als 150 Dollar.“

Weiter heißt es im Lehrbuch der Bioethik: „Ähnliche Beispiele finden sich in den Arithmetik-Büchern deutscher Schulkinder aus den 1930ern, die sich mit den Kosten des Lebens von Behinderten in Pflegeeinrichtungen befassten. Wenig später wurden Zehntausende von ihnen ermordet.“

Ein Propagandaplakat der Nazis zeigt einen Arbeiter, der zwei Menschen mit Behinderung auf den Schultern trägt. Der Text dazu lautet: „Hier trägst du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 Reichsmark.“

Ein Propagandaplakat der Nazis für Eugenik mit der Aussage, der einfache Arbeiter trage die Last für die Versorgung von Erbkranken.

Unter den Nazis wurden zehntausende Behinderte im Rahmen eines Geheimprogramms ermordet, dessen Grauen und korrumpierender Einfluss u.a. in der zweiten Staffel der Fernsehserie Charité geschildert wurde.

Einer der Charaktere erfährt von der Beteiligung seiner Kollegen an der Ermordung von behinderten Kindern und fragt, wie sich der Hippokratische Eid mit dem Eid auf den Führer vereinbaren lässt. Der Hippokratische Eid verpflichtet Ärzte und Pflegekräfte, sich „jedes willkürlichen Unrechtes und jeder anderen Schädigung zu enthalten“.

Wo führen Greenwalds Argumente hin? Warum sollte man nur in der Corona-Pandemie lebensrettende Maßnahmen ablehnen? Warum sollte man nicht auch bei medizinischer Versorgung und allgemein bei Sozialleistungen „Kosten-Nutzen-Analysen“ anstellen? Warum müssen Arbeiter auch nach dem Renteneintritt medizinische Pflege erhalten? Würde es der Gesellschaft nicht „nützen“, wenn man sie eines „natürlichen“ Todes sterben ließe?

Warum sollte man so viel Geld für die Erforschung von Krebs und Herzkrankheiten ausgeben? Das sind schließlich Krankheiten, an denen überwiegend ältere Menschen leiden. Warum muss man bei über 65-jährigen lebensverlängernde Operationen durchführen? Und was ist mit Kindern mit Entwicklungsstörungen? Wenn der inhärente Wert von Menschenleben ignoriert wird, „kostet“ die Pflege von Behinderten die Gesellschaft mehr, als sie ihr „nutzt“.

Inmitten der immer schärferen von der Pandemie ausgelösten Krise hat sich die Gesellschaft zutiefst polarisiert. Greenwald spricht für einen Teil des begüterten Kleinbürgertums, das sich auf die Seite der Finanzoligarchie gestellt hat, dessen mörderische Politik unterstützt und sich zum Anwalt der extremen Rechten aufschwingt.

Doch die Gesellschaft hat noch einen anderen, mächtigeren Pol. Überall auf der Welt nimmt die Arbeiterklasse den Kampf zur Verteidigung ihrer eigenen sozialen Interessen auf, und die Ausrottung von Covid-19 ist eines der wichtigsten davon. Breite Teile der Mediziner, Wissenschaftler und Forscher werden von dieser erneuerten Bewegung der Arbeiterklasse zutiefst beeinflusst und gestärkt werden.

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