Trotz Covid-Rekordzahlen in Europa lehnen Regierungen Pandemiebekämpfung ab

Vor zwei Jahren wurde der erste Fall von Covid-19 dokumentiert, nachgewiesen von Wissenschaftlern am 17. November 2019. Während China nach weniger als 5.000 Todesfällen in der Lage war, die Verbreitung durch Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Kontaktverfolgung unter Kontrolle zu bringen, befindet sich Europa zwei Jahre später inmitten einer weiteren Corona-Welle. In Europa wurden gestern mehr als 357.000 Neuinfektionen und 4.292 Todesfälle gemeldet.

Selbst wenn sich die Pandemie stabilisieren und nicht weiter beschleunigen sollte, würden bei diesen Zahlen im Verlauf des Winters mehr als 400.000 Menschen sterben. Tatsächlich rechnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa bis zum 1. Februar sogar mit 500.000 Toten, sofern am derzeitigen Kurs nichts geändert wird. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité rechnet alleine für Deutschland mit weiteren 100.000 Toten.

Ein überfüllter Isolationsraum mit Covid-Patienten im Notfallkrankenhaus der Universität Bukarest (Rumänien) am 22. Oktober 2021 (AP Photo/Vadim Ghirda)

In Europa werden derzeit pro Woche zwei Millionen Covid-19-Fälle verzeichnet. Letzte Woche erreichte die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland (50.377), den Niederlanden (20.168), Österreich (13.152) und Griechenland (8.613) Rekordwerte; in Großbritannien (37.243), Russland (36.818) und Tschechien (11.514) lagen sie ebenfalls weiterhin auf hohem Niveau. In Frankreich verdoppelte sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen im Verlauf der letzten Woche nahezu von 10.050 auf 19.778 am Dienstag. Während der letzten Woche verzeichneten sechs europäische Staaten mehr als 1.000 Todesfälle (Russland 8.593, die Ukraine 4.590, Deutschland 1.194, Bulgarien 1.147, Polen 1.119 und Großbritannien 1.083).

Dennoch lehnen die Regierungen in ganz Europa Kontaktbeschränkungen und vor allem strenge Lockdowns ab, die die Ausbreitung des Virus zumindest auf dem derzeitigen hohen Niveau begrenzen würden. Nur die internationale Mobilisierung der Arbeiterklasse im Kampf für wissenschaftliche Maßnahmen wie soziale Distanzierung und Kontaktverfolgung kann die Ausbreitung des Virus stoppen, die Pandemie beenden und ein Massensterben verhindern.

Die britische Regierung hat die Strategie der europäischen herrschenden Klasse am offensten ausgesprochen. Premierminister Boris Johnson erklärte im letzten Jahr: „Keine verdammten Lockdowns mehr, sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen!“ Jetzt schlägt London vor, die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung zu tolerieren und es endemisch werden zu lassen. Der Staatssekretär im Bildungsministerium, Nadhim Zahawi, erklärte Anfang November: „Ich hoffe, wir werden die erste große Volkswirtschaft, die den Übergang von der Pandemie zu einer endemischen Krankheit schafft...“

Während sich London mit seiner Strategie der „Herdenimmunität“ durch Masseninfektion rühmt, ist die Mitigations-Strategie anderer europäischer Regierungen nicht wesentlich anders. Deutschland, wo gestern mit mehr als 60.000 Neuinfektionen ein neuer Rekord erreicht wurde, hebt offiziell die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ auf, die bisher als rechtliche Grundlage für wesentliche Eindämmungsmaßnahmen wie Lockdowns diente.  Der französische Gesundheitsminister Olivier Véran erklärte, Impfstoffe seien „100-prozentig effektiv gegen Lockdowns“.

Das würde bedeuten, dass jedes Jahr Tausende Menschen in Europa, und Millionen Menschen im Rest der Welt an Covid-19 sterben würden. Ein bekannter Fürsprecher dieser kriminellen Strategie ist Martin Blachier, ein französischer ehemaliger Arzt, der seine Praxis aufgegeben hat, um eine „Beratungsagentur für öffentliche Gesundheitsmaßnahmen“ zu gründen und im Fernsehen den Regierungskurs zu propagieren. Vor einer Woche erklärte er gegenüber dem französischen Sender CNews: „Wir stehen am Beginn eines Phänomens der wiederkehrenden Pandemie, und es gibt keinen Grund, dass sie zum Stillstand kommen sollte.“

Blachier riet den Regierungen von jedem Kurswechsel ab: „Die Hysterie über den Wiederanstieg in Westeuropa ist angesichts der hohen Impfquoten etwas übertrieben. Ich glaube, wir müssen uns beruhigen! Wir sind nicht in der gleichen Lage wie letztes Jahr. ... Wir dürfen vor allem nicht wieder in die gleichen Denkweisen verfallen wie letztes Jahr!“

Worüber sich Blachier Sorgen macht, ist die Tatsache, dass es im Frühjahr 2020 in Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien und weiteren Ländern zu Streiks in nicht systemrelevanten Branchen kam. Arbeiter forderten das Recht, sich zuhause zu schützen, bis das Virus eingedämmt ist. Das hat die herrschende Klasse in Schrecken versetzt. Sie war dadurch gezwungen, Lockdowns zu verhängen, durch die die Zahl der Infektionen massiv gesenkt werden konnte. Dies behinderte ihre Pläne, die Pandemie für eine massive Bereicherung der Finanzaristokratie ohne Rücksicht auf Menschenleben zu benutzen.

Letzten Endes mussten erst die Arbeiter zur Rückkehr an die Arbeitsplätze gezwungen werden, um die Profite für die Banken zu erwirtschaften, bevor massive Banken- und Unternehmensrettungspakete an die Superreichen verteilt werden konnten. Nachdem die Europäische Zentralbank und die Europäische Union im Sommer Rettungspakete in Höhe von zwei Billionen Euro angekündigt hatten, stieg das Nettovermögen der europäischen Milliardäre um eine Billion Dollar, während in Europa eine Million Menschen starben. Das BMJ (vormals British Medical Journal) sprach zu Recht von einer Politik des „sozialen Mords“.

Angesichts der neuen Welle in diesem Winter haben die Regierungen der Niederlande und Österreichs Teil-Lockdowns angekündigt. Bei diesen unzureichenden Maßnahmen müssen die Arbeiter weiter in die Betriebe und die Kinder in die Schulen gehen, damit die Profite der Banken nicht beeinträchtigt werden, während die Bevölkerung (im Fall von Österreich die Ungeimpften) sich außerhalb der Arbeit nicht treffen darf. Da jedoch die meisten Ansteckungen an Arbeitsplätzen, in Schulen und medizinischen Einrichtungen stattfinden, werden diese Maßnahmen, die während der Welle im letzten Winter eingeführt wurden, nichts gegen die massive Verbreitung des Virus bewirken.

Dieser Bruch mit der offiziellen Ablehnung von Lockdowns ist offensichtlich eine präventive Reaktion auf die wachsende Kritik von Medizinern am staatlichen Kurs und der sozialen Wut unter Arbeitern.

Am Dienstag warnten die Krankenhäuser der südniederländischen Provinz Limburg, sie könnten den Zustrom an Corona-Patienten nicht bewältigen und stünden erneut am Rande des Zusammenbruchs. In einer öffentlichen Erklärung hieß es: „Wir stehen kurz vor einer Blockade des Gesundheitswesens, das ganze System könnte zum Stillstand kommen. ... Wir sind überzeugt, dass dies auch in anderen Teilen der Niederlande bald der Fall sein wird.“

Am Montagabend verteidigte Blachier jedoch auf LCI die Durchseuchungspolitik und verurteilte alle Bestrebungen zur Wiedereinführung von sozialen Distanzierungsmaßnahmen: „Wir werden vermutlich bis zum 15. Dezember das bisher höchste Infektionsniveau erreichen. Die Zahl der Infizierten wird vermutlich sehr hoch werden.“ Dennoch forderte er, nichts zu ändern: „Wir müssen die Impfungen fortführen und nicht wieder zu sozialen Distanzierungsmaßnahmen zurückkehren, wie es die Niederlande tun. Ich halte es für verrückt, dass sie das heute tun.“

Offen gesagt sind solche Äußerungen politisch kriminell. Die World Socialist Web Site erklärte im August: „Die Impfung ist ein wirksames Mittel. Doch losgelöst von einer umfassenderen Strategie, die darauf abzielt, die Zahl der Neuinfektionen rasch auf Null zu reduzieren und damit Covid-19 auszurotten, sind die Impfung und andere Maßnahmen nicht mehr als Palliativmedizin.“

Dementsprechend meldeten die deutschen Gesundheitsbehörden, dass in den vier Wochen bis zum 10. Oktober 55,4 Prozent der symptomatischen Fälle Impfdurchbrüche waren. Der Impfschutz lässt zudem mit der Zeit nach, und in dieser Zeit benötigten 28,8 Prozent der geimpften Covid-19-Patienten über 60 Jahre Intensivpflege.

Letzte Woche hatte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, erneut gewarnt: „Covid-19 breitet sich in osteuropäischen Ländern mit niedrigeren Impfquoten aus, aber auch in den westeuropäischen Staaten, deren Impfquoten zu den weltweit höchsten gehören. Das erinnert uns daran, dass Impfstoffe andere Sicherheitsmaßnahmen nicht überflüssig machen, wie wir immer wieder erklärt haben. Impfstoffe reduzieren das Risiko einer Hospitalisierung, eines schweren oder tödlichen Krankheitsverlaufs. Aber sie verhindern eine Ansteckung nicht vollständig.“

Die Arbeiterklasse muss erneut mobilisiert werden, diesmal nicht nur um die Einführung von Lockdowns zur Verringerung der Ausbreitung durchzusetzen, sondern für eine langfristige Politik aus Impfungen, Kontaktverfolgungen und anderen Gesundheitsmaßnahmen zur Eliminierung des Virus. Dafür muss sie jedoch aus der Kontrolle der Gewerkschaften ausbrechen, die die staatliche Durchseuchungspolitik unterstützen. Das erfordert den Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) und die Mobilisierung der Arbeiter in ganz Europa und der Welt mit einer sozialistischen Kampfperspektive für die Enteignung der Vermögen der Superreichen und ein Ende der Pandemie.

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