Verdis Macbeth in der Mailänder Scala:

Die Oper des Jahres – ein inspirierendes Erlebnis für Millionen

Die Mörder kommen im Geschäftsanzug und Krawatte, Verschwörer werden mit Aufzug nach oben – oder nach unten – katapultiert, Bürotürme der Wall Street oder eines anderen Finanzplatzes der Welt umgeben die Szenerie und stehen abwechselnd Kopf.

Diese Neuinszenierung von Guiseppe Verdis Oper Macbeth an der Mailänder Scala, die am 7. Dezember die Opernsaison 2021/22 einläutete, kann mit Fug und Recht die „Oper des Jahres“ genannt werden. Zu Beginn des dritten Corona-Jahres versetzt der italienische Regisseur Davide Livermore die Shakespeare’sche Parabel von Macht und Gier in die Gegenwart, eine Zeit, in der Macht und Gier einer superreichen Minderheit das Leben der Mehrheit mit Krankheit, Elend und Tod bedrohen.

Die Opernpremiere begeisterte mit einer Starbesetzung, angeführt von Anna Netrebko (Lady Macbeth), Luca Salsi (Macbeth), Francesco Meli (Macduff) und Ildar Abdrazakov (Banco), und dem herausragenden Orchester, Chor und Ballett der Scala unter Leitung von Riccardo Chailly. Man gewinnt den Eindruck, dass alle Beteiligten mit besonderem Engagement die Botschaft der Oper vermitteln wollten.

Trailer zu "Macbeth" in der Mailänder Scala

Bedeutsamer noch ist, dass der Regisseur mit einer zukunftsweisenden multimedialen Inszenierung, verknüpft mit Fernseh- und Kinoübertragung, die Aktualität von Verdis Macbeth lebendig macht und zu einem inspirierenden Erlebnis für Millionen werden lässt.

Das übliche Premieren-Publikum aus Politikprominenz, Wirtschaftselite und Geldadel, darunter der scheidende italienische Präsident Sergio Mattarella, das die sündhaft teuren 2000 Plätze der Mailänder Scala besetzte, stellte nur eine winzige Minderheit der Gesamtzuschauerzahl dar.

Allein durch die Übertragung des italienischen RAI-Fernsehens kamen 2,2 Millionen Zuschauer dazu, weitere Hunderttausende konnten durch den europäischen Kanal ARTE in Deutschland und Frankreich, sowie in zahlreichen Kinovorführungen in Großbritannien, Spanien und anderen europäischen Ländern an der Premiere teilnehmen.

Die Neuinszenierung in Mailand ist sogar vorrangig auf dieses Millionen-Publikum in Fernsehen und Kino ausgerichtet. Die Sorge, dass die Corona-Pandemie auf längere Sicht die Möglichkeit von Opernbesuchen erschwert oder unmöglich macht, mag dabei eine Rolle spielen. Die neue Corona-Mutante Omikron wütet schließlich auch in Italien.

Davide Livermore war allerdings schon lange vor der Corona-Epidemie dafür bekannt, dass er sich um experimentelles Musiktheater bemüht und für das öffentliche Theater und die Kultur als sozialer Förderer einsetzt. Es ist die Breitenkultur, die ihn interessiert.

In der Industriestadt Turin, wo er selbst 1966 geboren wurde, war er viele Jahre künstlerischer Leiter des Teatro Baretti und Leiter der Schauspielschule am selben Ort. Neben Regisseur ist er auch Sänger, Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner, schreibt Drehbücher für Theater und Fernsehen und engagiert sich in der Ausbildung junger Künstler.

Von der Musikkritik wird er als Erneuerer der Opernszene gesehen, seine Inszenierung von Verdis I vespri Siciliani (Die sizilianische Vesper), mit der Turin den 150. Jahrestag der Einigung Italiens feierte, wurde von Musical America zu einer der zehn besten Opernaufführungen des Jahres 2011 gewählt. Seit 2015 leitet Livermore das berühmte Opernhaus Palau de les Arts im spanischen Valencia, mit dem auch Plácido Domingo eng verbunden ist. Domingo befand sich übrigens im Publikum der Mailänder Premiere und zeigte sich anschließend hellauf begeistert.

Macbeth und Banco im Aufzug (Foto: Marco Brescia & Rudy Amisano)

Livermores neuer Macbeth will in verständlicher Weise die Bevölkerung ansprechen, die sich nach zwei Jahren Corona nach Kultur sehnt. Sie wird deshalb viel direkter an diesem Opernereignis beteiligt, als das Publikum vor Ort in Mailand: Die schnellen Perspektivwechsel, unterschiedlichen Ebenen, Videoeinblendungen und Kameraschwenks, zum Beispiel von oben auf den vergitterten Aufzug, der prominent in der Mitte der Bühne aufgebaut, aber nach oben offen ist und ins Nichts führt – er befördert die Protagonisten der mörderischen Intrigen rauf und runter. Dies können nur die Fernseh- und Kinozuschauer so richtig erleben. Nur sie sind ganz nahe dran, wenn Lady Macbeth im Aufzug ihr gelungenes Mordkomplott mit ordinärem Tanz feiert, oder wenn sie aus schwindelnder Höhe höhnisch auf die Menschen ganz unten herabblickt. Für das Publikum in der Mailänder Scala gilt dagegen weitgehend der übliche Blick von vorne.

Schon der Auftakt versetzt ins Kino und lässt manch eingefleischten Opernbesucher zusammenzucken. Man sieht die beiden Heerführer des Königs von Schottland, Macbeth und Banco – mit Anzug und Krawatte –, im Wald schemenhaft ein paar feindliche Soldaten niedermetzeln, dann ins Auto steigen und mit den Hexen, die eher wie Schreibkräfte eines Büros aussehen, Botschaften austauschen und schließlich wie in einem Hollywood-Thriller frontal und bedrohlich auf das Publikum zufahren. Hinter ihnen wandelt sich der vernebelte Hexenwald in die Skyline eines Bankenzentrums, verwirklicht durch eine LED-Wand, die an die Stelle des klassischen Bühnenbilds tritt.

Diese Modernisierung ist durchaus im Sinne von Verdi, wie überhaupt die Handlung nahe an Verdi bleibt. Macbeth wird von den Hexen geweissagt, er werde Than von Cawdor (ein schottischer Fürst) und dann König von Schottland sein, und Banco würde der Vater von Königen. Als Boten die Nachricht bringen, König Duncan hätte Macbeth zum Than von Cawdor ernannt, weil der bisherige Than wegen Rebellion hingerichtet wurde, beschließt Lady Macbeth, dass der zweite Teil der Prophezeiung auch baldigst wahr werden sollte, und treibt ihren Mann an, den König zu ermorden.

Noch bevor dieser aus der Schlacht zurückkehrt, besingt Lady Macbeth im luxuriösen Gemach mit Wendeltreppe ihren kaltblütigen Plan:

Du bist ehrgeizig, Macbeth … sehnst dich nach Größe
aber wirst du auch bösartig sein?
Der Weg zur Macht ist voll von Verbrechen, und wehe dem,
der unentschlossen ist und zurückschreckt!

Die in Wien lebende russische Sängerin Anna Netrebko mit ihrer volltönenden herrlichen Sopranstimme spielt die eiskalt berechnende Lady Macbeth überzeugend. Im glitzernden, roten Kostüm, Zigarette und Whiskey-Glas schwenkend, verkörpert diese Figur die ganze Skrupellosigkeit der herrschenden Gesellschaftskreise damals und heute.

Anna Netrebko in Macbeth (Foto: Marco Brescia & Rudy Amisano)

Macbeth vollzieht den Mord an Duncan, der wie ein heutiger Kanzler oder Präsident mit Rednerpult und Mikrofonen aussieht, und macht sich zum König. Lady Macbeth wäscht das Blut ab und beschmutzt damit die Kleidung der Wachen. Als Mörder diffamiert Macbeth Duncans eigenen Sohn Malcolm.

Dem ersten Mord folgen die nächsten: Macbeth beauftragt seine Leute im Hofstaat – sie vermitteln mit ihren schwarzen Anzügen und Krawatten den Eindruck von Abgeordneten einer Rechtspartei –, Banco und dessen Sohn Fleanzio zu ermorden. Banco stirbt, aber sein Sohn kann fliehen. Darauf greift Malcolm den Usurpator an, um den Thron zurückzugewinnen. Beim Bankett erscheint der ermordete Banco in Form eines riesigen Kopfs und Macbeth muss von seiner eiskalten Gattin beruhigt werden. Er sucht schließlich erneut Rat bei den Hexen.

Sie warnen ihn vor Macduff, dem Than (Fürst) von Fife und Widersacher von Macbeth, und sagen ihm, dass keiner ihn besiegen könne, der von einem Weib geboren wurde, und dass er erst besiegt werde, wenn der Wald von Birnam gegen ihn vorrücke. Macbeth wähnt sich sicher, lässt aber die Kinder von Macduff töten, der geflohen ist und sich mit dem Heer von Malcom zusammenschließt. Bald sieht Macbeth den Wald wahrhaftig gegen ihn antreten: Malcolm hat sein Heer mit Ästen und Buschwerk getarnt. Getötet wird Macbeth letztlich von Macduff – der durch Kaiserschnitt zur Welt kam, also „nicht von einem Weib geboren wurde“.

Macbeth gehört zu Verdis frühen Opern. Die erste Fassung entstand 1846/47 im Auftrag des Teatro della Pergola in Florenz und stellte die erste Auseinandersetzung des Komponisten mit einem Drama von William Shakespeare dar. Später folgten Otello und Falstaff. Zugleich betrat er damit Neuland in der Opernwelt und setzte sich deutlich von der damals beliebten romantischen Oper ab. Statt Liebesgeschichte mit schönem Gesang entwickelte er hier ein nahezu realistisches Musiktheater über die Korrumpierung des Menschen durch Machtstreben und Gier. Er forderte von seinen Sängern, den dramatischen Ausdruck ins Zentrum zu stellen und beispielsweise in Bezug auf Lady Macbeth das Hässliche statt das Schöne zu demonstrieren. 1865 erstellte Verdi eine überarbeitete Fassung für die Uraufführung in Paris, die vor allem das Finale umarbeitete. Sie wurde zur Grundlage der meisten späteren Inszenierungen, auch der von Livermore.

Theaterzettel der Uraufführung, 1847

Verdi, der 1813 in ärmlichen Verhältnissen im kleinen Ort Le Roncole in der Region Parma geboren wurde – sein Vater war Gastwirt und Kleinbauer –, ist der beliebteste Opernkomponist weit über Italien hinaus. Er war nicht nur Komponist und Musiker, sondern beteiligte sich auch an den revolutionären Kämpfen seiner Zeit, dem Risorgimento für die Einheit Italiens und für den Sturz der feudalen Dynastien der Bourbonen und Habsburger, die die italienischen Kleinstaaten beherrschten.

Es ist Davide Livermore hoch anzurechnen, dass er das Anliegen des Komponisten, sich direkt an das unterdrückte Volk zu wenden, in die heutige Zeit übersetzt. Es ist das Volk hinter einem Gitterzaun, das Macduff als Befreier anfeuert und das mit den Bäumen des Walds von Birnam gegen Macbeth vorrückt, wunderbar vom Chor der Scala gesungen.

„Die großen Chorszenen ... schaffen Gänsehautmomente mit feinsten Nuancen und mächtigen Fortissimi“, bemerkt der Bayerische Rundfunk dazu in seiner treffenden Besprechung. „Die zuckenden Blitze und blutroten Akzente im ständig sich verändernden Video-Bühnenbild sind genau auf die Musik abgestimmt.“ Am Ende geht das „ganze Imperium Macbeths in mächtigen Explosionen unter“.

Bei der Premiere gab es Buhrufe und Pfiffe für den Regisseur und auch ein paar für Anna Netrebko. Einige Medienberichte reiten darauf herum. So titelt beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) über Anna Netrebko: „Anna Netrebko begeistert, aber sie wärmt nicht.“ Ihre Kritik bezieht sich auf die gescheiterte und wahnsinnig gewordene Lady Macbeth, die am Ende auf einem Hochhaus schlafwandelt.

Netrebko lasse kaum etwas von der dämonischen Energie spüren, die diese Figur umtreibe, so die NZZ. „Netrebko liefert sich nicht den dunklen Mächten aus, die sie, die Herrscherin, selbst beherrschen. Noch der ausbrechende Wahnsinn der Lady bleibt kontrolliert, technisch ausbalanciert bis in den letzten Ton hinein.“ Sie vertrete damit eine „technokratische Epoche, worin der Mensch alles zu beherrschen, sich aber auch an nichts mehr zu verlieren wagt“, endet der Rezensent.

Die NZZ verrät damit vor allem ihr eigenes Credo an der Seite der Superreichen, die Livermores Operninszenierung so treffend charakterisiert. Man solle sie nicht so eiskalt darstellen, so abstoßend gierig, sondern „wärmer“ als tragische Figuren, die von dunklen Mächten getrieben werden. Dazu passt die Absage an die „technokratische Epoche“ und damit letztlich an die Aufklärung, die dem Bestreben der Menschheit, die Natur zu beherrschen, zugrunde liegt.

Die Schlafwandler-Szene muss in Beziehung zum Kommentar ihres Gatten Macbeth gesehen werden, den das Schicksal seiner Gattin völlig gleichgültig lässt. Zu ihrem Selbstmord bemerkt er: „Was bedeutet schon ein Leben?“ Es ist die dominierende Auffassung der kriminellen Oberschicht. Jeder kleine Anflug von Menschlichkeit und Mitgefühl
bedeutet Schwäche und damit Untergang.

Davide Livermore reagierte laut italienischen Medienberichten gelassen auf die Kritik. „Verdi hatte keine Angst vor Buhrufen und Zensur. Wir sind stolz auf die Aufführung. Die Geburt von etwas Neuem ist immer ein wenig schmerzhaft“, so der Regisseur.

Dass es in Macbeth nicht um Auslieferung „an dunkle Mächte“ geht, hat auch Anna Netrebko, die selbst zur vermögenden Oberschicht gehört und den Oligarchen des Putin-Regimes nahesteht, in einem Interview mit der römischen Tageszeitung La Repubblica angesprochen. Verdis Oper sei ihrer Ansicht nach heute noch aktuell. „Die Welt hat sich nicht verändert. Wir sind von schrecklichen Dingen umgeben, und wir werden versuchen, das in dieser Aufführung deutlich zu machen.“

Die Unmutsbekundungen einiger Premierengäste sollte man letztlich als Lob für Regie und Darsteller werten. Offenbar hat Livermore mit seiner Übertragung des Stoffs in die Gegenwart ins Schwarze getroffen, und mancher Prominente mag sich wiedererkannt und auf den Schlips getreten gefühlt haben. Die Millionen virtueller Opernbesucher hingegen werden sich von Verdis Optimismus für ein Ende der Macbeths der Welt begeistern und inspirieren lassen.

Die Macbeth-Premiere in der Mailänder Scala ist noch bis zum 06.06.2022 in der ARTE-Mediathek zu sehen (oder auch auf Youtube )

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