Ausnahmezustand in der Ukraine: Präsident Selenskyj fordert „Kriegskoalition“

Während die USA und die EU am Dienstag weitreichende Sanktionen gegen Russland ankündigten und den Konflikt weiter eskalierten, forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Parlament eine „Kriegskoalition“ und begann, Vorschläge zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Russland zu überprüfen.

Am Mittwochabend bestätigte das Parlament in Kiew den Ausnahmezustand, den der ukrainische Sicherheitsrat zuvor auf den Weg gebracht hatte. 335 Abgeordnete stimmten für die Maßnahme. Möglich werden damit Ausgangssperren, verstärkte Polizeipräsenz, das Recht auf willkürliche Kontrollen von Personen und Autos und Zwangsräumungen von Ortschaften. Der Ausnahmezustand sei zunächst auf 30 Tage angesetzt, können aber um weitere 30 Tage verlängert werden, erklärte der Sekretär des Sicherheitsrates, Olexij Danilow.

Gleichzeitig berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax, die ostukrainischen Separatistenführer hätten den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Hilfe bei der Abwehr von „Aggressionen“ der ukrainischen Armee gebeten.

Am Montag erkannte, der russische Präsident Wladimir Putin die separatistischen Enklaven Donezk und Lugansk, die sich nach dem von den USA unterstützten Putsch in der Ukraine im Februar 2014 zu „Volksrepubliken“ erklärt hatten, als „unabhängig“ an und beorderte russische Truppen in das Gebiet. Die Stationierung wurde am Dienstag vom russischen Parlament genehmigt. Doch bei einer Pressekonferenz erklärte Putin, sein Befehl bedeute nicht, dass „die Truppen dort sofort hingeschickt werden“.

Als Reaktion auf die Fragen von Journalisten nach dem Minsker Protokoll von 2015 erklärte er, Kiew habe dieses faktisch sabotiert und jahrelang ignoriert, u.a. durch die Ermordung eines Unterzeichners, eines Separatistenführers aus Donezk. Er betonte außerdem, die Ukraine könne mit ihrer nuklearen Infrastruktur aus Sowjetzeiten leicht Atomwaffen herstellen. Am Wochenende drohte Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wenn die „territoriale Integrität“ seines Landes nicht gewährleistet werden könne, werde die Ukraine das Budapester Abkommen von 1994 für ungültig erklären. In diesem hatte die Ukraine ihr Atomarsenal aufgegeben, damals das drittgrößte der Welt.

US-Außenminister Antony Blinken (rechts) und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba nach einer Pressekonferenz im US-Außenministerium am 22. Februar 2022 (AP Photo/Carolyn Kaster)

Putin betonte erneut, dass jede Lösung des Konflikts eine deutliche Demilitarisierung der Ukraine beinhalten müsse. Die Nato hat dort momentan Raketen stationiert, mit denen sie Ziele im Landesinneren von Russland angreifen könnte.

Am Dienstag kündigte Moskau an, es werde alle Diplomaten aus der Ukraine abziehen.

In Kiew hat die Oligarchie und die extreme Rechte Putins Vorgehen am Montag zum Anlass genommen, den Konflikt noch weiter zu verschärfen und die Grundlagen für einen offenen Krieg zu schaffen. Das ukrainische Außenministerium unter Dmytro Kuleba, einem Teilnehmer der rechten Proteste im Vorfeld des Putsches von 2014, hat Selenskyj einen formellen Antrag auf den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Russland vorgelegt. Kuleba, der sich gerade in Washington befand, fügte hinzu, er habe immer die Meinung vertreten, dass dies „bereits im Jahr 2014 hätte geschehen müssen“.

Zwei Abgeordnete – Oleksiy Honcharenko von der „Europäischen Solidaritätspartei“ des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko und Oksana Sawtschuk von der Neonazi-Partei Swoboda – legten dem Parlament ähnliche Gesetzentwürfe vor. Sie werden jetzt von den parlamentarischen Kommissionen geprüft, wobei Selenskyj erklärte, er werde den Antrag des Außenministeriums überdenken.

Die faschistische Abgeordnete Sawtschuk brachte noch einen weiteren Antrag im Parlament ein. Sie forderte die Schließung der ukrainischen Grenzen zu Russland und zu Belarus und die Ausrufung des Kriegszustands in Donezk und Lugansk. Sawtschuk ist ein führendes Mitglied von Swoboda, die offen den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera und die ukrainische Waffen-SS-Division Galizien verherrlicht.

Swoboda hatte beim Putsch von 2014 eine wichtige Rolle gespielt und sich danach an der Regierung von Arsenij Jazenjuk beteiligt, die aus dem Putsch hervorging. Der Vorsitzende der Swoboda-Parlamentsfraktion, Oleg Tjagnibok, hatte vor kurzem erklärt, Russland müsse in „20 Nationalstaaten aufgespalten werden“, damit die Krim an die Ukraine zurückkehren kann – was das erklärte Ziel der offiziellen ukrainischen Militärstrategie ist.

Ein weiteres Beispiel für die engen Beziehungen zwischen der extremen Rechten in der Ukraine und dem amerikanischen Staat ist die Tatsache, dass Sawtschuk Studentin am Open World Leadership Center des US-Kongresses war, das sich 2019 damit brüstete, dass Sawtschuk ins Parlament gewählt wurde.

Auch Poroschenkos Europäische Solidaritätspartei hat umfangreiche Beziehungen zu den USA, der EU und der extremen Rechten der Ukraine. Poroschenko hat mehrfach auf rechtsextremen Kundgebungen Reden gegen Selenskyj und gegen jede Verhandlungslösung im Konflikt in der Ostukraine gehalten.

Der ehemalige ukrainische Präsident, dessen Nettovermögen etwa 1,5 Milliarden Dollar beträgt, kam vor kurzem in die Ukraine zurück und konnte nur durch eine direkte Intervention der USA und Kanadas einer Verhaftung wegen Landesverrat entgehen. Seither führt er eine rechte Kampagne gegen die Selenskyj-Regierung, der er fehlende „Entschlossenheit“ im Konflikt mit Russland vorwirft. In den letzten Wochen hatte Selesnkyj wiederholt die Behauptungen der Biden-Regierung bestritten, ein russischer Einmarsch stehe unmittelbar bevor, und die US-Kriegspropaganda als „Hysterie“ bezeichnet.

Dass die Kampagne gegen Selenskyj jetzt auch die Seiten der New York Times erreicht hat, deutet darauf hin, dass sich mächtige Fraktionen des amerikanischen Staats und der Geheimdienste gegen ihn entschieden haben. Am Montag veröffentlichte die Zeitung, die in Kriegskrisen kaum mehr als eine Pressestelle der CIA ist, einen Kommentar der ukrainischen Journalistin Olga Rudenko mit dem Titel „Der ukrainische Präsident steckt zu tief in Schwierigkeiten“. Rudenko, die vor kurzem ein Fellowship an der Booth School of Business der University of Chicago, ein Zentrum der wirtschaftlichen und politischen Elite des Landes, abgeschlossen hat, bezeichnete Selenskyjs Verhalten als „seltsam und sogar erratisch“.

Sie räumte dann ein, dass Selenskyj mit „hunderttausenden Demonstranten“ rechnen und das Schicksal des 2014 gestürzten Präsidenten Janukowitsch erleiden würde, wenn er „irgendwelche Zugeständnisse gegenüber Russland macht, vor allem im Konflikt um die Ostukraine“. Rudenko erwähnt natürlich nicht, dass die angebliche „Revolution“ von 2014 von faschistischen Schlägern durchgeführt wurde, die von den USA finanziert und seither noch weiter bewaffnet und aufgebaut werden.

Selenskyjs Reaktion auf den Druck Washingtons und der extremen Rechten bestand aus der Forderung nach einer „Kriegskoalition“ mit diesen neofaschistischen Kräften und einer Verschärfung der Kriegsvorbereitungen. Am Dienstagabend traf er sich zu einer geschlossenen Sitzung mit allen Parlamentsfraktionen. Bei dem Treffen mit der Fraktion der Europäischen Solidaritätspartei soll Poroschenko Vorschläge für einen deutlichen Ausbau der militärischen Kapazitäten von Kiew und Truppenverlagerungen in den Norden und Nordosten des Landes unterbreitet haben.

Nach diesen Treffen hielt Selenskyj eine Rede an die Nation, die vor allem an seine Kritiker unter den Oligarchen und an die neofaschistischen Banden gerichtet war: „Alle ukrainischen Politiker müssen jetzt dem Staat dienen und für das Wohl unseres Staates ihre Ambitionen hintanstellen. Jeder versteht, dass wir jetzt eine Kriegskoalition im Parlament und Einigkeit brauchen und schnelle und wichtige Entscheidungen für die wirtschaftliche Stabilität und militärische Verteidigungsfähigkeit unseres Staates treffen müssen. Heute haben alle Politiker und Parteien nur zwei Farben: Blau und Gelb [die Farben der ukrainischen Landesflagge].“

Er machte deutlich, dass sich seine Regierung auf einen Krieg gegen Russland vorbereitet, und erklärte in seiner Rede, Russland sei „einseitig“ vom Minsker Protokoll zurückgetreten: „Wir werden niemanden etwas [von unserem Staatsgebiet] abgeben. Wir sind keine Menschen von 2014, sondern von 2022. Wir sind heute ein anderes Volk, und wir haben ein anderes Militär.“ Tatsächlich haben die imperialistischen Mächte seit 2014 Milliarden Dollar in das ukrainische Militär investiert. Seit 2020 ist die Ukraine außerdem ein sogenannter „Enhanced Opportunity Partner“ der Nato, d.h. sie hat „verbesserten Zugang zu Programmen der Zusammenarbeit und zu Übungen sowie zu einem besseren Austausch von Informationen“.

Selenskyj erklärte der ukrainischen Bevölkerung, alle müssten jetzt bereit sein, jeden Tag „harte Arbeit“ zu leisten, um das Land zu schützen, und beendete seine Rede mit dem nationalistischen Gruß „Slava Ukraini“, der mittlerweile in der ukrainischen Politik üblich ist, aber eng mit der faschistischen Politik der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) in den 1930er und 1940er Jahren assoziiert wird.

Am selben Abend unterzeichnete Selenskyj ein Dekret zur Mobilisierung aller Reservisten, erklärte aber gleichzeitig, eine Generalmobilmachung sei nicht notwendig. Bei einem Treffen mit Vertretern der ukrainischen Wirtschaftselite wird er über weitere umfangreiche Investitionen in den Aufbau der ukrainischen Streitkräfte diskutieren.

Der militärische Konflikt in der Ukraine eskaliert derweil weiter. In Donezk wurden am Dienstag laut den separatistischen Behörden bei einer Explosion auf einer Autobahn drei Zivilisten getötet. Eine weitere Explosion ereignete sich am Mittwochabend in einem Fernsehsender im Stadtzentrum, wobei keine Opfer gemeldet wurden. Die separatistischen Behörden bezeichneten die Explosion als „Terroranschlag“. In Lugansk wurden Berichten zufolge zwei Zivilisten getötet, als eine ukrainische Granate ein Auto traf.

Laut russischen Medien sind mittlerweile mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ostukraine in Russland angekommen, darunter 30.000 Kinder.

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