Perspektive

Selenskyj appelliert an deutschen Militarismus

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Donnerstag per Videoschaltung zum Deutschen Bundestag. Seine Rede war ein Appell an die schlimmsten Traditionen der deutschen Geschichte.

Mitglieder der AfD-Fraktion und der Bundesregierung applaudieren Selenskyj im Bundestag (AP Photo/Markus Schreiber)

80 Jahre nach dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, dem 27 Millionen ihrer Einwohner zum Opfer fielen, warf er Deutschland vor, nicht aggressiv genug gegen Russland vorzugehen, wo die Erinnerungen an den Terror von Hitlers Wehrmacht noch äußerst lebendig sind.

Durch das lange Festhalten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, die Ablehnung von präventiven Sanktionen gegen Russland und die Weigerung, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, habe Deutschland daran mitgewirkt, sein Land zu isolieren und an Russland auszuliefern, beschuldigte Selenskyj die versammelten Abgeordneten, denen er mangelnde „Kraft“ und „Führungsstärke“ vorwarf.

Er beschwor den Antikommunismus des Kalten Krieges, indem er seinen Zuhörern vorwarf, sie versteckten sich hinter einer Mauer – einer „Mauer mitten in Europa, zwischen Freiheit und Unfreiheit“. Er zitierte US-Präsident Ronald Reagan, der vor der Berliner Mauer gerufen hatte: „Tear down this wall!“ Bundeskanzler Olaf Scholz forderte er auf: „Zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient.“

Selenskyj verlangte die Verhängung eines vollständigen Handelsembargos gegen Russland und eine direktere Beteiligung der Nato an den Kriegshandlungen – auch wenn sie damit einen dritten Weltkrieg riskiert.

Bereits am Tag zuvor hatte er in einer Videoansprache an den US-Kongress die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine verlangt. Diese Forderung wiederholte er im Bundestag. Deutschland müsse helfen, den Himmel über der Ukraine sicher zu machen und russische Luftangriffe zu verhindern, sagte er.

Experten sind sich einig, dass die Einrichtung einer Flugverbotszone einem offiziellen Kriegseintritt der Nato gleichkäme. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Harald Kujat nannte die Forderung unverantwortlich.

„Abgesehen davon, dass es für Flugverbotszonen kein UN-Mandat geben würde, wäre eine Flugverbotszone gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an Russland“, sagte er. „Damit Kampfflugzeuge der Nato nicht abgeschossen werden, müssten zunächst die Luftverteidigungssysteme Russlands ausgeschaltet werden. Selbst wenn dies gelingen sollte, würden Luftkämpfe folgen. Die Nato und Russland wären miteinander im Krieg und stünden an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg.“

Trotzdem gewinnt die Forderung in den USA und Europa wachsende Unterstützung.

Selenskyj schreckte im Bundestag noch nicht einmal davor zurück, sich auf die Opfer des Nazi-Terrors zu berufen, um sie zu begründen. „Ich wende mich an Sie im Namen der älteren Ukrainer, der vielen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die sich während der Besatzung vor 80 Jahren retten konnten. Derjenigen, die Babyn Jar überlebt haben,“ sagte er.

In der Schlucht von Babyn Jar hatte die Wehrmacht am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 36 Stunden 34.000 Juden aus Kiew erschossen – Männer, Frauen und Kinder. Die Opfer mussten sich bäuchlings auf die Leichen der bereits Ermordeten legen, bevor sie selbst getötet wurden. Der Massenmord war Teil einer Strategie, die „Lebensraum“ für deutsche Siedler im Osten schaffen sollte. Er bildete den Auftakt zur systematischen Ermordung von Millionen Juden, Kommunisten und Soldaten der Roten Armee.

Hätte Selenskyj an diese Menschheitsverbrechen erinnert, um die deutsche Regierung zu bitten, sich für einen sofortigen Waffenstillstand einzusetzen, wäre dies verständlich gewesen. Stattdessen fordert er sie auf, Öl ins Feuer zu gießen und „Führungsstärke“ zu zeigen.

Der Bundestag dankte es ihm mit stehendem Applaus. Von der Linkspartei bis zur rechtsextremen AfD, in der sich zahlreiche Neonazis tummeln, erhoben sich sämtliche Abgeordnete. Auch der langjährige AfD-Führer Alexander Gauland, der Hitler und die Nationalsozialisten als „ein Vogelschiss“ in tausend Jahren ruhmreicher deutscher Geschichte bezeichnet, spendete Beifall.

Der herrschenden Klasse Deutschlands dient der Ukrainekrieg als willkommener Anlass, Aufrüstungs- und Großmachtpläne zu verwirklichen, die sie seit langem vorbereitet hat.

Im Februar 2014 war der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier direkt in den rechten Putsch involviert, der den Keim für den jetzigen Krieg legte. Er traf sich in Kiew unter anderem mit Oleh Tjahnybok, dem Chef der rechtsextremen Swoboda-Partei. Im selben Monat verkündete die Bundesregierung das „Ende der militärischen Zurückhaltung“ und ihre Absicht, wieder eine weltpolitische Rolle zu spielen, die dem wirtschaftlichen Gewicht Deutschlands entspricht.

Diese Rückkehr zum Militarismus ging mit einer Revision der deutschen Geschichte einher. Der Spiegel veröffentlichte den Artikel „Der Wandel der Vergangenheit“. Darin bescheinigte der Historiker Jörg Baberowski Hitler, er sei „nicht grausam“ gewesen. Er verteidigte den Nazi-Apologeten Ernst Nolte, der den Nationalsozialismus als verständliche Reaktion auf den Bolschewismus beschrieben hatte.

„Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus erfordert eine neue Interpretation der Geschichte, die die Verbrechen der Nazizeit verharmlost,“ schrieben damals die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Jugendorganisation IYSSE. Weil sie diese und ähnliche Äußerungen Baberowskis kritisierten und vor der Rückkehr des deutsche Militarismus und Faschismus warnten, wurden sie von der Universitätsleitung, den Medien und sämtlichen Parteien heftig angegriffen und vom Verfassungsschutz auf die Liste „verfassungsfeindlicher“ Organisationen gesetzt.

Wenn nun auch Selenskyj Deutschland auffordert, zu seinen militaristischen Traditionen zurückzukehren und eine „Führungsrolle“ zu spielen, ist das kein Missverständnis. Ukrainische Nationalisten wie Stepan Bandera, die im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Wehrmacht kollaborierten und sich an ihren Massenmorden beteiligten, stehen in der Ukraine hoch im Kurs. Sie werden öffentlich mit Denkmälern und Gedenkfeiern geehrt.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, der während Selenskyjs Rede auf der Zuschauertribüne des Bundestags saß, hatte noch am Vortag öffentlich das Asow-Regiment verteidigt, das sich aus Rechtsextremen zusammensetzt und Nazi-Symbole auf der Uniform trägt. „Bitte hören Sie auf, das Asow-Regiment zu dämonisieren und Propaganda – jetzt auch mitten im RUS Vernichtungskrieg – in die Hände zu spielen,“ schrieb er auf Twitter. „Diese mutigen Kämpfer verteidigen ihre Heimat, vor allem die belagerte Stadt Mariupol. Lassen Sie sie in Ruhe.“

Melnyks Protest richtete sich gegen einen Artikel der Zeit, der die rechtsextreme Truppe als „militärisch gedrillte Neonazis mit Kampferfahrung, mit Panzerfäusten und Sturmgewehren“ bezeichnet hatte, die sich „kaum wieder einfach so einem demokratisch gewählten Präsidenten unterordnen“ dürften, wenn der Konflikt vorbei sei.

Die Förderung faschistischer Gruppen durch die Regierung in Kiew rechtfertigt den reaktionären militärischen Angriff Russlands nicht. Sie entlarvt aber die Lüge, es gehe in dem Krieg um Demokratie und Freiheit, und zeigt, dass die Hauptverantwortung für den Krieg und das Leid der ukrainischen Bevölkerung bei den Nato-Mächten liegt.

Diese haben seit der Auflösung der Sowjetunion das Ziel verfolgt, Russland als geostrategischen Rivalen auszuschalten und Zugriff auf seine gewaltigen Rohstoffe und Landmassen zu bekommen. Um ihre Stellung als Weltmacht zu verteidigen, führten sie völkerrechtswidrige Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien und dehnten die Nato immer weiter nach Osten aus.

In der Ukraine, die wirtschaftlich und kulturell eng mit Russland verbunden ist, förderten sie gezielt rechte Nationalisten und Neonazis. Seit dem rechten Putsch von 2014, den sie unterstützten, haben sie das Land systematisch aufgerüstet, Waffen im Wert von Milliarden hineingepumpt und seine Armee ausgebildet.

Der jetzige Krieg ist in Wirklichkeit ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Nato, der auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen und von der Nato finanziert wird. Im neu beschlossenen US-Haushalt sind 14 Milliarden Dollar für die Ukraine eingeplant, doppelt so viel wie deren eigener Militärhaushalt. Seit Kriegsbeginn sind davon 550 Millionen geflossen, weitere 800 Millionen hat Präsident Biden bereits freigegeben. Auch die anderen Nato-Mitglieder überfluten das Land mit Militärhilfe und Waffen.

Der deutschen Regierung dient der Krieg als Vorwand, die größte Rüstungsoffensive seit Hitler zu starten. Die Gefahr, dass der Krieg außer Kontrolle gerät und in einen dritten Weltkrieg mündet, wird von Tag zu Tag größer. Sie kann nur durch eine Offensive der Arbeiterklasse gestoppt werden, die die Arbeiter aller Länder im Kampf gegen den Kapitalismus zusammenschließt.

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