Protest gegen antirussischen Kulturboykott wächst

Der Kulturboykott gegen russische Künstler, Museen und wissenschaftliche Einrichtungen nimmt immer bösartigere Formen an. Wer sich nicht eindeutig politisch äußert und gegen Putin erklärt, wird in den Medien und von zahlreichen Kulturinstitutionen wie ein Komplize von ihm behandelt, ganz gleich welche Verdienste er oder sie um das Weltkulturerbe der Menschheit in Musik, Kunst oder Literatur haben.

Künstler und Wissenschaftler russischer Herkunft werden aus dem kulturellen Leben ausgesperrt, wie zuletzt vor fast 90 Jahren jüdische Kulturschaffende in Nazi-Deutschland.

Es ist jedoch bemerkenswert, dass sich unter Künstlern und Intellektuellen immer häufiger kritische Stimmen gegen diese antirussische Hetzkampagne melden. Sie bringen damit die Besorgnis vieler Arbeiter und Jugendlicher über die massive Aufrüstung und die wachsende Gefahr eines Atomkriegs zum Ausdruck, die in der offiziellen Politik und den Medien kein Gehör findet.

Die mutige Erklärung der belgischen Nationaloper La Monnaie in Brüssel, sie werde in der kommenden Saison an den Aufführungen russischer Werke festhalten, weil es ihre Aufgabe sei, Kunst zu schaffen, nicht Krieg zu führen („make art, not war“), findet auch in anderen Ländern, darunter Deutschland ein Echo.

So wurde gerade erst der junge russische Geiger Dmitri Smirnow mit dem Osnabrücker Musikpreis für ein Konzert ausgezeichnet, in dem er ein Violinkonzert des ukrainischen Komponisten Walentin Silwestrow spielte. Das Programm war ausdrücklich verändert und unter das Motto „Brücken nicht abreißen lassen“ gestellt worden. Statt Haydn standen ukrainische Stücke und Schostakowitsch im Mittelpunkt.

Beschlagnahme von Kunstwerken

Der antirussische Kulturboykott ist zu einem zentralen Bestandteil der hysterischen Kriegspropaganda geworden. Kunst und Kultur werden von der offiziellen Kulturpolitik entgegen ihrem zutiefst humanen Wesen umfunktioniert zu Kriegswaffen.

In einem geradezu kriminellen Akt beschlagnahmte der finnische Zoll kürzlich hochrangige Kunstwerke europäischer Meister im Wert von etwa 42 Millionen Euro, die als Leihgaben in westeuropäischen Museen, vor allem Italien aber auch in Japan, ausgestellt waren. Die Kunstwerke befanden sich auf dem Rücktransport nach Russland, nachdem die russische Regierung seine Museen angewiesen hatte, verliehene Werke zurückzuholen.

Beschlagnahmtes Tizian-Gemälde "Junge Frau mit Federhut" (Bild: Eremitage St. Petersburg/Dmitri Sirotkin)

Zu den konfiszierten Gemälden und Skulpturen russischer Museen, die noch bis vor kurzem in der Gallerie d'Italia im Palazzo Reale in Mailand und in der Fondazione Fendi in Rom zu sehen waren, gehören Tizians weltberühmtes Bild „Junge Frau mit Federhut“. Es war zusammen mit anderen Werken des Malers sowie Gemälden von Giovanni Cariani und Pablo Picasso an das mailändische Museum ausgeliehen worden. Auch das Meisterwerk „Der geflügelte Amor“ von Antonio Canovas war in Mailand ausgestellt. Die Bilder stammen aus den Sammlungen der Eremitage und des Tsarskoje Selo Museums in St. Petersburg und der Tretjakow-Galerie in Moskau.

Die Beschlagnahmung durch den Zoll am Grenzübergang Vaalimaa im Süden Finnlands wird mit den EU-Sanktionen gegen Russland begründet. Dass darunter auch die Rückgabe von Kunsteigentum fallen soll, beschwört die düstere Geschichte des Kunstraubs durch den Nationalsozialismus herauf.

Man sollte sich erinnern, dass Finnland im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland verbündet war und von 1941 bis 1944 mit eigenen Divisionen am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm. Derzeit ist die finnische Regierung bemüht, das Land so rasch wie möglich in die Nato einzugliedern und schürt extreme Russlandfeindschaft.

Ein ähnlicher Vorstoß in Frankreich, Kunstwerke aus russischen Beständen zu konfiszieren, wurde bisher abgewehrt. Über eine Million Besucher haben in den letzten Monaten die Morozov-Sammlung moderner Kunst, mit 200 Werken von Künstlern wie Pierre Bonnard, Paul Cézanne, Paul Gauguin, Henri Matisse, Claude Monet und Pablo Picasso, in Paris in der Fondation Louis Vuitton gesehen. Am Ende der Ausstellung gab es Forderungen, diese Kunstwerke im Rahmen der EU-Sanktionen zu beschlagnahmen oder sie sogar zu versteigern, um der Ukraine zu helfen. Dies wurde allerdings von französischen Juristen für unmöglich erklärt.

Andere Museen müssen Ausstellungen, für die russischen Leihgaben eingeplant waren, jetzt absagen oder ihre Konzepte umstellen. Das trifft nicht nur Kunstmuseen, auch das archäologische Museum in Chemnitz muss neu planen. Dort sollte ein mumifizierter skytischer Eisreiter aus Nowosibirsk ausgestellt werden. Dafür war eigens eine besondere Kühleinrichtung beschafft worden.

Schlagartig beendet wurden auch gemeinsame Forschungsprojekte und Kooperationen von deutschen und russischen Museen, Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen, die zum Teil seit Jahrzehnten bestanden. So bedauert der Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, Matthias Wemhoff, dass die geplante Ausstellung zu den Ausgrabungen von Heinrich Schliemann, die im Mai eröffnet wird, nicht wie vorgesehen als zweite Station in Moskau gezeigt werden kann.

Tschaikowski und Dostojewski unerwünscht

Der gegenwärtige Kulturkrieg betrifft sogar Komponisten und Dichter aus vergangenen Jahrhunderten, in denen ein Putin noch nicht geboren war und die europäischen Eliten am Hofe des Zaren ein und aus gingen. Neben Absagen von Auftritten erstrangiger russischer Musiker, wie des Dirigenten Valery Gergiev oder der Sopranistin Anna Netrebko, sorgen selbstgefällige Bildungs- und Kulturfunktionäre und erschrockene Veranstaltungsleiter für die Säuberung von unsterblichen Musikwerken und Literatur aus dem Kulturleben.

Im britischen Cardiff wurde ein Konzertprogramm mit Werken von Tschaikowski abgesagt, obwohl dieser die Ukraine sehr liebte und sein Großvater von dort stammte. Das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester tauschte Tschaikowskis „Slawischen Marsch“ gegen eine Hymne des ukrainischen Komponisten Mychailo Werbyzkis aus. Im polnischen Szczecin (Stettin) wurde Tschaikowskis Musik in einem Konzert durch Stücke von Antonín Dvořák und Ludwig van Beethoven ersetzt. In Bydgoszcz (Bromberg) wurde Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“ abgesagt. Mussorgskys „Boris Godunow“ durfte am polnischen Nationaltheater nicht gespielt werden.

Schon im März sagte die griechische Kulturministerin Lina Mendoni alle Aufführungen von Tschaikowskis „Schwanensee“ mit dem Bolschoi-Ballett ab und löste damit einen Sturm der Entrüstung aus. Dutzende griechische Facebook-Nutzer posteten wütende Kommentare. „Sie sind gefährlich lächerlich und natürlich auch unverschämt ungebildet“, heißt es an die Adresse von Mendoni. „Sobald die Bücherverbrennung beginnt, lasst es uns wissen.“ Oder: „Bald werden wir Tolstoi im Keller lesen und Tschaikowskis Schallplatten im Korb mit der Schmutzwäsche verstecken. Mendoni ist eine Schande für die Kultur in Griechenland“.

Dostojewski-Statue im Cascine-Park, Florenz (Foto: facebook, Stadt Florenz)

In der Tat wird auch vor Weltliteratur wie Tolstoi oder Dostojewski nicht Halt gemacht. So will die Universität Mailand eine Dostojewski-Vorlesung ausfallen lassen, um „Spannungen zu vermeiden“, was ebenfalls heftigen Protest auslöste. Der Dozent, der die Vorlesung halten wollte, Paolo Nori, schrieb:„Was in der Ukraine passiert, ist eine schreckliche Sache, die mich zum Weinen bringt, aber diese Reaktionen sind lächerlich. Als ich diese E-Mail von der Universität gelesen habe, konnte ich es nicht glauben.“

Dostojewski sei nicht nur wegen der Beteiligung an einem Aufstand gegen das Zaren-Regime zum Arbeitslager verurteilt worden, sondern habe auch häufig Ärger mit der Zensur gehabt: „Wir sollten mehr über Dostojewski oder Tolstoi sprechen, dem ersten, der gewaltfreie Bewegungen förderte und der außerdem von Gandhi sehr bewundert wurde. Eine Universität, die diesen Studiengang verbietet, ist einfach unglaublich!“

In einem Tweet verwies Nori darauf, dass der berühmte Autor Michail Bulgakow in Kiew geboren worden sei, aber stets in russischer Sprache gedichtet habe.

Selbst eine Statue Dostojewskis in Florenz wird zum Gegenstand derart absurder Angriffe. Sie steht im Cascine-Park und soll nach Meinung der „Kulturkämpfer“ in einem Depot verschwinden.

Zunehmender Protest

Ein Vergleich dieser wütenden Hetze gegen russische Kultur mit der Nazi-Zeit und dem Ausschluss alle jüdischen Künstler und Kunstwerke aus dem Kulturleben drängt sich auf.

„Wer gibt uns Deutschen eigentlich das Recht, russische Kultur mit dem Krieg gleichzusetzen? Wissen wir denn nicht mehr, was deutsche Kultur nach dem Weltkrieg bedeutete?“ schreibt der Filmproduzent Günter Rohrbach in einem wütenden Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung. Er weist auf die Verbrechen hin, die die deutsche Wehrmacht in ihrem Vernichtungskrieg in der Sowjetunion verübte, und stellt die Frage, was denn von den „Schuldbekenntnissen“ zu halten sei, „die unsere Politiker Jahr für Jahr mit guten Gründen an den Orten unserer Schande ablegen?!“

Und weiter: „Wer gibt uns, ausgerechnet uns Deutschen, das Recht, russische Künstler, Wissenschaftler, Sportler aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, sie an der Ausübung ihres Berufs zu hindern, an Bußübungen grenzende Bekenntnisse von ihnen zu verlangen? Wissen wir denn nicht mehr, wer wir sind, wo wir herkommen?“

In einem weiteren kritischen Gastbeitrag, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung, äußerte der Filmemacher, Filmproduzent und Schriftsteller Alexander Kluge (geb. 1932) sein Entsetzen darüber, dass man „große russische Künstler zu opportunen Äußerungen drängen will“. Er erklärt unmissverständlich: „Ein Krieg ist eine Herausforderung an die Kunst. In Kriegszeiten wird sie gern von beiden Seiten zu Propagandazwecken eingesetzt. Dazu taugt sie nicht. Eigentlich gehört sie zur Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg.“ Daher könne die „Behinderung von Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein“.

Zu den wenigen kritischen Stimmen, die in die Medien gelangen, gehören auch der Schriftsteller Christian Baron, der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin und die Schriftstellerin und Vizepräsidentin der Berliner Akademie der Künste, Kathrin Röggla, die sich im Saarländischen Rundfunk gegen die „irrwitzige Debatte“ eines pauschalen Kulturboykotts Russlands aussprach. Sie warnte vor der Gefahr, „wenn die Menschen wieder Strömungen wie Xenophobie oder Nationalismus aufsäßen“.

Die arbeitende Bevölkerung, Jugendliche, Künstler und Intellektuelle in ganz Europa dürfen diesen Missbrauch der Kunst nicht noch einmal zulassen. Der Aderlass der jüdischen Kultur in den 30er Jahren hat bis heute tiefe Spuren hinterlassen. Eine erneute rassistische und nationalistische Unterdrückung menschlicher Kulturleistungen und Kunstwerke würde unweigerlich der Barbarei den Weg bahnen. Arbeiter, Jugendliche und ernsthafte Intellektuelle müssen durch den Aufbau einer internationalen und sozialistischen Antikriegsbewegung auch die Kunst und Kultur aller Länder retten.

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