Offener Brief an Bundeskanzler Scholz

Widerstand gegen die Gefahr eines dritten Weltkriegs wächst

Obwohl sich das gesamte politische und mediale Establishment Deutschlands seit Monaten im Kriegsmodus befindet, wächst die Opposition gegen den Stellvertreterkrieg in der Ukraine. Ein offener Brief, der vor der Gefahr eines „dritten Weltkrieges“ warnt und die Lieferung „schwerer Waffen“ ablehnt, hat innerhalb weniger Tage mehr als 200.000 Unterschriften erhalten.

Der Brief fordert Bundeskanzler Olaf Scholz mit Blick auf das künftige „Urteil der Geschichte“ und die „historische Verantwortung“ Deutschlands auf, „weder direkt noch indirekt weitere schwere Waffen an die Ukraine zu liefern“, da dies eine „Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf nehmen“ würde. „Ein russischer Gegenschlag“, so die Autoren, könnte „dann den Beistandsfall nach dem Nato-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen“.

Zu den Erstunterzeichnern zählen unter anderem die Filmemacher Andreas Dresen und Alexander Kluge, die Publizistin Alice Schwarzer und der Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel. Veröffentlicht wurde der Brief am Freitag, nachdem der Bundestag am Vortag mit großer Mehrheit die Lieferung von Flugabwehrpanzern an das von Rechtsextremisten durchsetzte ukrainische Militär gebilligt hatte.

Die breite Unterstützung für den offenen Brief ist Ausdruck der enormen Opposition gegen Krieg, die nach zwei Weltkriegen gerade in der deutschen Arbeiterklasse tief verwurzelt ist. Je offener die Bundesregierung an die Großmachtpolitik des Kaiserreichs und der Nazis anknüpft – Krieg gegen Russland und militärische Dominanz über Osteuropa –, desto stärker wächst der Widerstand.

Deutlich zeigte sich dies am 1. Mai. Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey wurde bei einer DGB-Kundgebung vor dem Brandenburger Tor ausgebuht und mit Eiern beworfen, als sie „Respekt“ für die Polizei und „Unterstützung“ für den Krieg in der Ukraine forderte. Bundeskanzler Scholz sah sich in Düsseldorf im Zuge seiner militaristischen Rede gezwungen, Demonstranten niederzubrüllen, die ihn als „Kriegstreiber“ bezeichneten und Kritik an seiner Militärpolitik äußerten.

Auch Meinungsumfragen belegen die wachsende Antikriegsstimmung. So sank der Rückhalt für die Lieferung „schwerer Waffen“ an das ukrainische Militär einer aktuellen Deutschlandtrend-Umfrage zufolge innerhalb eines Monats um zehn Prozentpunkte auf 45 Prozent. In einer weiteren Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Insa äußerten 73 Prozent der Befragten die „Sorge, dass sich der Ukrainekrieg zu einem Dritten Weltkrieg ausweiten könnte“.

Doch wie kann der dritte Weltkrieg abgewendet werden? Der „Brief der 28“ liefert darauf keine Antwort. Er richtet einen ohnmächtigen und aussichtslosen Appell an Bundeskanzler Scholz, der sich seit Beginn des Krieges als der führende Militarist unter allen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union erwiesen hat. Scholz und die Ampel-Koalition haben der Bundeswehr ein „Sondervermögen“ über 100 Milliarden Euro bereitgestellt und damit die größte deutsche Aufrüstung seit dem Untergang des Nazi-Regimes in die Wege geleitet.

Zudem führt Scholz eine Regierung, die mehr Waffen und Munition in die Ukraine liefert als jedes andere EU-Land. Neben den seit Kriegsbeginn stattfindenden geheimen Waffenlieferungen, die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) öffentlich zugegeben hat, werden über Osteuropa seit Wochen auch Panzer in die Ukraine geschleust. Wie der Tagesspiegel Anfang letzter Woche berichtete, verfügt die Ukraine laut Insidern des US-Verteidigungsministeriums mittlerweile über mehr funktionstüchtige Panzer als Russland.

Scholz hat keine besonnene Politik gemacht, die die Risiken genau bedacht hätte, wie es die Autoren des Briefes behaupten. Die deutsche Regierung hat den Konflikt ganz im Gegenteil bewusst provoziert und herbeigeführt. Bereits 2014 verkündete die Bundesregierung das Ende der „militärischen Zurückhaltung“ und orchestrierte nur wenige Tage später – zusammen mit Washington – den antirussischen „Maidan“-Staatsstreich in Kiew. Unter Rückgriff auf faschistische Mörderbanden wie das Asow-Regiment führt das ukrainische Militär seitdem einen Krieg gegen die eigene russischsprachige Bevölkerungsminderheit.

Die Bundesregierung bewaffnet de facto diese faschistischen Einheiten und die rechtsradikalen Legionäre, die mit ihnen kämpfen, und nutzt den Krieg, um sich zur vorherrschenden Militärmacht Europas aufzuschwingen.

Dass es zwecklos ist, an die „Besinnung“ dieser herrschenden Klasse zu appellieren, zeigt die wütende Hetzkampagne, mit der Politik und Medien selbst auf die zahmen Forderungen des offenen Briefes reagiert haben.

„Wer sich durch einen Krieg ‚belästigt‘ fühlt, sollte seinen Wertekompass ganz unkreativ mit dem Hammer geraderücken“, tobte etwa Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Grünen-Politiker Anton Hofreiter bezichtigte Schwarzer im Gespräch mit dem rechten Bild-Sender, „eins zu eins russische Propaganda“ zu verbreiten, als ob die Sorge über einen Atomkrieg Kriegspropaganda sei.

Neben Wirtschaftsminister Robert Habeck sprach sich auch die Grünen-Bundestagsfraktionsvorsitzende Britta Haßelmann vehement gegen den Brief aus. Alexander Lambsdorff (FDP) lobte einen Spiegel-Artikel des Kolumnisten Sascha Lobo, der den „deutschen Lumpen-Pazifismus“ in der klassischen Manier eines rechten Militaristen als „das Beste“ bezeichnete, „was Putin passieren kann“.

Besonders aggressiv traten Akteure auf, die eng mit der deutschen Ukraine-Politik verbunden sind. Sergej Sumlenny, langjähriger Chef der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, warf Schwarzer vor, ihre Publikation „regelmäßig für die Verbreitung russischer Propaganda instrumentalisiert“ zu haben. Nur Tage zuvor hatte Sumlenny Krieg gegen Russland gefordert und wörtlich verlangt, „die Nuklearmacht Russland zu eliminieren“. Auf Twitter erklärte er, „die Russen“ seien „viel mehr in Putins Verbrechen involviert als die Deutschen in Hitlers Verbrechen involviert waren“.

Ein Appell an diese Leute, ihre Kriegspläne doch etwas vorsichtiger zu verfolgen, ist wie ein Appell an den Teufel, die Hölle etwas kälter zu stellen. Die Aggressivität des deutschen Imperialismus hat objektive Ursachen. Unter Bedingungen der tiefsten kapitalistischen Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – die durch die Covid-19-Pandemie auf die Spitze getrieben wurde – greifen alle imperialistischen Mächte zum Mittel des Krieges, um die Klassengegensätze im Inneren nach außen abzulenken.

Die einzige Möglichkeit, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, ist die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse. Wie der Chefredakteur der World Socialist Web Siteauf dem International May Day feststellte:

„Die Widersprüche, die die Gefahr des Weltkriegs heraufbeschwören, schaffen auch die Bedingungen für die sozialistische Weltrevolution. Die Herausforderung für die Arbeiterklasse besteht darin, die objektiven Tendenzen zu stärken und zu beschleunigen, die zur Revolution führen und gleichzeitig die Tendenzen zu untergraben und zu schwächen, die zum Weltkrieg führen.

Die Grundlage für den Kampf gegen Krieg ist die Bewegung der Arbeiterklasse. Sie ist die große soziale Kraft, die die Macht hat, den Krieg zu beenden, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen, nationale Grenzen niederzureißen und eine globale sozialistische Gesellschaft aufzubauen.“

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